Es gibt eine Disziplin, die Eltern mindestens genauso gut beherrschen müssen wie Trösten – und das ist: Erwartungsmanagement. Man könnte es auch prophylaktisches Trösten nennen. „Was ist, wenn ich nur eine Vier bekomme?“, fragt unsere Mittlere, die gerade ihre erste Klassenarbeit an der neuen Schule geschrieben hat. So what! Das haben schon viele überlebt, außerdem gibt es Wichtigeres im Leben als das Ergebnis einer Deutsch-Klausur in der 5. Klasse! Aber ich beherrsche mich: „Also eine Vier bedeutet ‚ausreichend‘, das heißt dann, dass dein Ergebnis a-u-s-r-e-i-c-h-t.“ Ich spreche extra langsam und schaue sie dabei an, als ob ich etwas sehr Bedeutsames gesagt hätte. Unsere Tochter will daraufhin auch noch mal alle andere Schulnoten übersetzt bekommen. Ich weiß natürlich, dass sie das alles kennt, aber irgendwie scheint meine überflüssige Erklärung sie zu beruhigen.
Ein gutes Erwartungsmanagement erleichtert allen Beteiligten den späteren Umgang mit einer möglichen Katastrophe oder Enttäuschung. Aber es ist keine Erfolgs- beziehungsweise Frustvermeidungsgarantie. Genauso wenig wie Bestnoten in der Grundschule eine Garantie für Schulerfolg am Gymnasium sind. Das haben auch die Lehrerinnen und Lehrer beim ersten Elternabend gesagt, die Schulleitung hat es im Willkommensbrief geschrieben, und ältere Geschwisterkinder raunen es dunkel beim Frühstück aus vollen Müsli-Mündern („Das ist jetzt was gaaaaanz anderes“).
Unsere Mittlere ist eine sehr gute Schülerin, zumindest ist sie das bisher gewesen. In der Grundschule ist ihr das Lernen leicht gefallen. Ich habe jedenfalls nichts Gegenteiliges mitbekommen. Manchmal fand ich sogar, dass die Grundschulzeit den in diesem Alter ohnehin latenten Hang zum Größenwahn bei Kindern verstärkt, auch bei ihr. Jedenfalls will sie Schauspielstar werden. Das kann sie natürlich auch noch mit einer 4 in Deutsch werden, aber das werde ich ihr jetzt nicht sagen. Und ich werde ihr auch nicht sagen, dass wahrscheinlich sehr sehr sehr viele zehnjährige Mädchen Schauspielstar werden möchten. So viel Erwartungsmanagement muss dann doch nicht sein.
Überhaupt darf man es nicht übertreiben mit dem Erwartungsmanagement. „Wir machen jetzt eine Fahrradtour zusammen. Wir müssen 18,5 Kilometer auf einer Schotterpiste durch den Wald. Es wird anstrengend, ihr werdet schwitzen. Es gibt kein Eis unterwegs, sondern erst wenn wir am Ziel sind.“ Eine zu realistische Beschreibung raubt schnell die notwendige Energie und den Impuls zur Tat. Deshalb – selbst wenn es im Sinne eines ehrlichen Erwartungsmanagements angemessen wäre – niemals am Tag vor einer Klassenarbeit
- das Kind über die zu knappe Vorbereitungszeit informieren,
- über die auch nach dem Lernen noch klar erkennbaren Wissenslücken aufklären, oder
- die Sinnhaftigkeit von Klassenarbeiten oder Benotungssystemen generell in Frage stellen.
Das kann man dann alles hinterher loswerden. Beim Trösten.
In der vergangenen Woche hat unsere Tochter dann ihre Deutsch-Klassenarbeit zurückbekommen. Ich habe es gleich bemerkt. Die Tür knallte. Jemand ist mit gesenktem Kopf grußlos durch den Flur gestürmt und hat sich dann im Zimmer verkrochen. „Upps“, sagte die ältere Schwester, an der sie vorbei gerannt war. „Upps“, sagte auch ich, der ihr noch den Schulranzen abnehmen wollte. „Schau mal nach ihr“, sagte ich zu unserer Ältesten. Ja, das war Feigheit. Aber ich bin eher der Erwartungsmanager, Trösten ist nicht so mein Ding.
Wenig später kommt die Große wieder, zieht die Schultern hoch, verdreht die Augen. Dann zeigt sie mit den Fingern der linken Hand stumm eine Vier, ergänzt danach noch ein Pluszeichen. „Vier plus“, übersetze ich. Pause. Lange Pause. „Ist doch gar nicht so schlecht“, schiebe ich hinter her. Und verbuche die Nachricht jetzt positiv unter „Kind wurde mit den Gesetzen der Schwerkraft vertraut gemacht.“
Man könnte nun annehmen, dass das Erwartungsmanagement mit der Rückgabe der Klassenarbeit abgeschlossen wäre – aber: weit gefehlt. Nicht für mich. Denn natürlich muss ich jetzt die anderen Familienmitglieder darauf einstimmen, dass gleich eine hochsensible, vielleicht sogar übellaunig-aggressive Zehnjährige mit am Mittagstisch sitzt. „Vorsicht!“, zische ich meiner Frau noch schnell zu, forme eine tonlose „Vier plus“ mit den Lippen. Meine Frau soll für den Rest-Tag jedenfalls kein ausgeglichenes, zufriedenes Kind erwarten. Eigentlich ein fürsorglicher Gedanke von mir, finde ich. Was aber unangenehme Rückfragen auslöst, wie diese: „Du hast doch mit ihr gelernt, oder?“
Klar erkennbar ist: Mit meiner Frau fand leider kein Erwartungsmanagement statt. Denn diese unangenehme Rückfrage käme jetzt nicht, wenn ich frühzeitig signalisiert hätte: „Ich hab keine Lust, mit einer Zehnjährigen Rechtschreib-Strategien zu büffeln.“
Mit mir hat früher auch niemand zuhause gelernt. Aber das hilft jetzt nicht. Ich muss alle exkulpierenden Erinnerungen bemühen, um mein „Ja, klar hab ich mit ihr gelernt“ irgendwie zu rechtfertigen: Doch, doch, am Tag vor der Klassenarbeit hatte ich mir zumindest mal alle zu lernenden Rechtschreibstrategien nennen lassen („verlängern am Wortende“, „schwingen“, „zerlegen und verlängern“, „ableiten“). Und dann hatte ich meine Tochter mit einem Lustigen Taschenbuch ins Bett geschickt. Wer viel liest, dem fliegt die Rechtschreibung automatisch zu – das war zumindest meine Erwartung.
Jetzt hocken wir alle ungewöhnlich still um den Mittagstisch. Nur unsere Jüngste erzählt fröhlich von ihrem Schultag. Die Mittlere hält immer noch den Kopf tief gesenkt. „Papa hat mir erzählt, dass du deine Deutsch-Klassenarbeit zurückbekommen hast“, versucht es meine Frau vorsichtig. Oh Gott! Kann sie nicht warten, bis das Kind selbst davon erzählt. Ich erwarte jetzt: 1. Streit (Wieso weiß Papa das schon? Warum erzählt ihr das hier rum?), 2. Tränen (…), 3. Dramatik (Ich werde das auf der neuen Schule nie schaffen!) 4. Rückzug (Türenknallen). Doch es bleibt ruhig. Selbst die Jüngste ist jetzt still. Dann prustet etwas. Jemand. Unsere Mittlere. Sie kann sich vor Lachen kaum mehr aufrecht halten. „Ihr seid so lustig!“, stößt sie aus und bekommt vor Lachen kaum mehr Luft. Die Eins erwähnt sie in einem Nebensatz. Meine Frau und ich sind leicht irritiert, mit der Tendenz zu ärgerlich. Warum sie uns denn so reinlegen müsse, wollen wir wissen, wir hätten uns schließlich schon Sorgen gemacht. „Ich will doch mal Schauspielerin werden. Da wollte ich schon mal üben.“ Eigentlich hätten wir diese Antwort erwarten können.