Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Die Melancholie der letzten Male

Nie wieder Krabbeln: Die ersten eigenen Schritte sind nur der Anfang von vielen kleinen Abschieden.

Abstillen, wie ging das noch mal? Ich habe es schon mal durch, aber im Moment erscheint es mir ein Ding der Unmöglichkeit. Während unser erster Sohn Ben (5 Jahre) mit sechseinhalb Monaten meine Brust immer weniger brauchte, denkt Lukas (zwölf Monate) gar nicht daran, diese komfortable Art der Nahrungsaufnahme aufzugeben. Mehrmals am Tag zeigt er mit einem resoluten „Da!“ auf mein Dekolleté, und wenn ich nicht schnell genug mein Shirt lüpfe, tut er es.

Das mag nach Still-Terror klingen, das Gegenteil ist der Fall. Ich liebe es. Trotz der 14 Zähne, die Lukas mittlerweile hat, trotz der zappelnden Füße, die je nach Stillposition in meinem Bauch oder in meinem Gesicht landen und trotz seiner aktuellen Angewohnheit, den Pinzettengriff an meiner nackten Haut zu trainieren: Wenn das Baby, an mich geschmiegt, mit seinen blauen Augen zu mir aufschaut und sich langsam ins Milchkoma nuckelt, empfinde ich so einen tiefen Frieden und eine solche Dankbarkeit, dass ich auch nach einem Jahr immer noch heulen könnte – und es je nach Tagesform auch tue.

Allerdings ist das Baby genau genommen kein Baby mehr. Es ist mit fast 13 Monaten offiziell ein Kleinkind. Das heißt nicht, dass ich es nicht mehr stillen kann, aber irgendwann hat es sich ausgenuckelt. Es wird wieder einer der Abschiede sein, derer es in den letzten Monaten schon so viele gab und die mir immer einen kleinen Stich versetzen: Die Schnuller habe ich schon vor Monaten mit einem Seufzen entsorgt, Lukas konnte nur in den ersten Wochen etwas damit anfangen. Die Strampler in Größe 50/56 warten abgepackt auf die nächste Schwangere in Familie oder Freundeskreis (sie sind ohnehin nicht sehr praktikabel, aber wer kann diesen niedlichen Teilen schon widerstehen?). Die ersten Rasseln und Spieluhren interessieren Lukas schon lange nicht mehr und kommen bald in einer großen Plastikkiste in den Keller unserer neuen Wohnung. (Die zwei positiven Schwangerschaftstests behalte ich aber! So.) Und bei jeder Aussortier-Aktion der Gedanke: Das war’s. Das Zeug werden wir nie wieder brauchen. Denn unsere Familienplanung ist abgeschlossen. Es sei denn, ich halte gerade irgendjemandes Neugeborenes auf dem Arm, in diesen Momenten fragt man mich lieber nicht danach.

Hermann Hesse wusste es, jeder weiß es: Keine Lebensstufe darf ewig dauern. Das Leben ist eine Aneinanderreihung von Abschieden, ab dem ersten Tag, wenn man so will. Das ist total okay. Es gibt Dinge und Zeiten, die lässt man nur allzu gerne zurück. Den Zauber der ersten Monate und Jahre mit unseren Kindern hingegen würde ich gerne noch ein bisschen festhalten, und es macht mich traurig, dass ich es nicht kann. Denn auch wenn uns der Spruch zu den Ohren herauskommt: Die Zeit vergeht wirklich unsagbar schnell. Vor einem Jahr hatten wir unser zweites Bündel gerade ein paar Tage im Arm. Einen Wimpernschlag später ist es unvorstellbar, dass Lukas jemals so winzig war wie auf den Fotos aus dem Krankenhaus. Heute wackelt er mit seinem Windelhintern hinter seinem großen Bruder her durch die Wohnung und grinst schelmisch, wenn ich nicht schnell genug bin, um zu verhindern, dass er den Backofen auf Grillfunktion, 250 Grad, stellt.

Jetzt geht es also darum, diesen zwei großen Kindern zu einem eigenständigen Leben zu verhelfen, und das ist ein bisschen gemein, heißt es doch nichts anderes, als dass sie sich immer mehr von uns entfernen. Die Schulanmeldung für den Erstgeborenen liegt auf dem Wohnzimmertisch zum Unterschreiben bereit, der Kleine hat seinen Kita-Platz ab Januar sicher. Wenn er eingewöhnt ist, werde ich wieder anfangen zu arbeiten. Aus der Elternzeit zurück in den Working-Mum-Modus, und zwar diesmal für den Rest meines Berufslebens, das wird hart – ich sehe das an meinem Mann, der im Büro ebenfalls oft Sehnsucht nach seiner Familie hat oder sich Sorgen macht, nur fragt die Männer leider immer noch kaum einer danach.

Die Melancholie, die mich in letzter Zeit immer wieder befällt, rührt vermutlich auch daher, dass damit langsam eine Lebensphase zu Ende geht, die sich in weiten Teilen anfühlte wie ein schützender, friedlich-warmer Kokon um uns herum. Unsere Wohnung ein Saustall, aber eben auch ein Kuschelnest, ein Mikrokosmos, in dem es nur um die wirklich wichtigen Dinge geht (Klötzchentürme, Bilderbücher, Spaghetti-nur-mit-Butter-und-Salz), während das Böse draußen bleibt. Ich verkläre das natürlich völlig; es gab wahrlich auch hässliche Szenen und anstrengende Phasen, es gab wunde Brustwarzen, durchwachte Nächte, Berge dreckiger Klamotten, bange Stunden an kleinen Krankenhausbetten, Wutanfälle bei Groß und Klein. Es gab und gibt diesen Alltag, der uns und auch den Zauber manchmal aufzufressen droht. Aber am Ende eines jeden Tages liegen zwei gesunde, behütete Kinder unschuldig in ihrem Bett (oder in unserem), und in der Retrospektive legt sich so ein Filter in sanftem Pastell über die dunkleren Stunden, das hat die Natur schon sehr klug eingerichtet.

Und deshalb fühle mich irgendwie alt, wenn ich dran denke, dass ich nie wieder eine „frischgebackene“ Mutter sein werde. Dass wir mit den einschneidenden Entscheidungen und Ereignissen in unserem Leben durch sind: Ausbildung, Heirat, Kinder, Eigentumswohnung. Es ist so schön, bald ist es schon vorbei. Oh Gott, habe ich mit 34 schon eine Midlife-Crisis? Das darf nicht sein. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass neben all den letzten Malen ja immer noch viele, viele erste Male mit zwei – in Wahrheit noch sehr jungen – Kindern auf uns warten, aufreibende und schöne oder auch furchtbare, aber in jedem Fall Anfänge: erste Schultage, erste Klassenfahrten, erste Liebe, all das in doppelter Ausführung. Und die Abschiede haben einen Vorteil: Sie schaffen neuen Raum, vielleicht kehrt auch lang Vergessenes zurück! Vielleicht schlafe ich eines Tages wieder durch, vielleicht auch wieder in einem Bett mit meinem Mann. Vielleicht tut der Rücken nicht mehr so weh, wenn ich keine Kinder auf dem Arm trage, und ich trainiere mir meinen Babybauch endlich ab und werde eine unwiderstehliche Working-Mum, die im Büro wie auch zu Hause alles im Griff hat (okay, das wäre neu).

Immerhin, eine Sache bleibt bei aller Veränderung und allem Loslassen-Müssen beruhigend konstant. All jenen Lesern unter Ihnen, die sich vielleicht gerade winzige Bündel wünschen, welche erwarten oder schon welche haben: Fragen Sie sich manchmal, ob man die auch später noch genau so toll finden kann, wenn sie keine niedlichen Windelhintern mehr haben und es auch keine Bodys in ihrer Größe mehr gibt? Die Antwort ist: Man kann. Es wird schwerer, wenn sie anfangen zu müffeln, aber man kann.