Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Fünf Koffer, drei Kinder, ein Zugabteil

Zugfahren mit Kindern: Mehr als maximal eine Hand hat man nie frei.

Die Zeit um die Festtage ist immer auch Reise- und Besuchszeit. Oma, Opa, Tanten, Onkel, Cousinen und Nichten, Vettern und Neffen, manchmal – wenn zwischen Weihnachten und Neujahr noch Luft ist – sogar auch ein paar alte Freunde wollen wir sehen. Dieses Jahr müssen wir dazu wieder einmal quer durch die Republik (und zurück). Mein Verkehrsmittel der Wahl ist dabei die Bahn. Theoretisch ist das bequem, entspannt, mit drei kostenfrei fahrenden Kindern und Super Sparpreis unschlagbar günstig, irgendwie wahrscheinlich sogar umweltfreundlich – und seit wir alle „Polarexpress“ gesehen haben, passt das Ganze auch zu Weihnachten.

Wenn ich unsere Reise plane, male ich mir das alles – dank einer speziell auf meine letzten Familienbahnreisen beschränkte Amnesie – immer in den schönsten Farben aus: Wie wir völlig relaxed in unser Abteil schlendern, unsere zwei leichten Koffer über den Sitzen verstauen. Die Kinder warten geduldig, bis sie ihre Plätze einnehmen können. Dann vertiefen sich alle Reisenden in ihre elektronik- und lärmfreie, pädagogisch wertvolle Reisebeschäftigung. Draußen huscht eine weiße Winterlandschaft an uns vorbei. Weihnachtliche Vorfreude erfüllt die Herzen, selbst der Schaffner hat eine rote Mütze auf und verteilt bei der Fahrkartenkontrolle Lebkuchen. Die nächsten sechs Stunden vertiefe ich mich in den Roman, den ich schon seit Monaten lesen wollte; nur ein, zwei Mal unterbreche ich meine Lektüre, um mit der Familie im Speisewagen Kuchen zu essen oder mit allen ein Kartenspiel zu spielen. Und wenn wir ausgeruht und mit guter Stimmung am Zielort ankommen, fällt eine Sternschnuppe vom Himmel und ich sag mir: Brauch ich gar nicht – alle Wünsche erfüllt!

Man muss nicht zum Bahn-Bashing neigen, um zu wissen, dass nichts, überhaupt gar nichts von dem oben beschriebenen Szenario Wirklichkeit werden wird. Das fängt schon damit an, dass natürlich schon alle Super Spartickets ausgebucht sind, wenn ich zum Fahrkartenkauf schreite. (Natürlich gibt es immer noch die eine oder andere günstige Bahnverbindung mit Abfahrt um 5.15 Uhr in der Frühe oder mit dreimaligem Umsteigen. Das kann man natürlich machen. Wenn man gerade sein Abi gemacht hat. Aber nicht in fortgeschrittenem Alter mit drei Kindern und vier Gepäckstücken.) Weshalb mich auch die jetzt angekündigten Preissenkungen der Bahn nur schwach enthusiasmieren: Theoretisch ist die Bahn schon jetzt sehr günstig für Familien mit Kindern. Praktisch fehlen aber vor allem in der Hauptreisezeit die Züge und Plätze für die günstig reisen wollenden Familien.

Aber was soll der Geiz? Es ist ja Weihnachten! Und der Ticketkauf ist wahrlich die geringste Hürde einer Bahnreise mit Kindern. Wie kann die Bahnreise mit Kindern also zumindest eine erträgliche Veranstaltung werden? Es gibt da ein paar bewährte Tipps von der Bahn selbst. Das Ganze hängt natürlich auch und vor allem vom Alter der Kinder ab. Außerdem haben mich die Erfahrungen der vergangenen Jahre drei eherne Grundsätze gelehrt – die stimmen ganz unabhängig davon, wie familienfreundlich die Bahn nun ist oder nicht. Hier sind sie:

  1. Abteil vor Großraum (wenn möglich)! Das scheint zunächst der intuitiven Logik zu widersprechen, die davon ausgeht, dass Kinder im Großraum „mehr Platz“ haben. Das Gegenteil ist der Fall. Der Großraum ist die Legebatterie, das Abteil dagegen ist fast schon Freilandhaltung. Außerdem nehmen Kinder ihr Abteil schnell als neues Kinderzimmer ein, mit allen Konsequenzen. Selbst wenn noch arme andere Mitreisende das Abteil teilen. Letztere werden von den Kindern bewusst oder unbewusst in Geiselhaft genommen. Die Mitreisenden haben im Grunde nur zwei Möglichkeiten: Sich in den nächsten Stunden hinter einem Buch oder irgendeiner Elektronik verstecken – oder aktiv in die Kinderbetreuung mit einsteigen. So wie der nette Schweizer, der bei der letzten Bahnfahrt meiner Töchter mehrere Partien Uno mitspielte. Elterliche Toiletten- und Bistrogänge sind so entspannter, theoretisch könnte man sogar diesen Roman … Vielleicht auch nicht. Dieses unausgesprochene Arrangement, nennen wir es „Abteil-Verantwortung“, verschafft den Eltern jedenfalls neue Freiheitsgrade während der Bahnfahrt. (Das ist übrigens auch der Grund, warum ich immer Großraum buche, wenn ich allein reise!)
  2. Direkt vor schnell! Die eigentlich kritischen Teile der Bahnreise sind immer die Ein-, Aus- und Umstiege. Vor allem mit Kindern. Hier gehen geliebte Kuscheltiere für immer verloren, hier bleiben Handschuhe und Handys liegen, hier verschwinden Sechs- oder Elfjährige plötzlich aus dem elterlichen Blickfeld und lösen Panikattacken aus. Und hier werden auch Anschlüsse verpasst und Erkältungen beim Warten auf verspätete Züge eingefangen. Wenn irgend möglich, sollte deshalb die Anzahl der Umstiege auf ein Minimum reduziert werden. Lieber eine Stunde länger im gleichen Zug als mit Kinder und Gepäck hektisch die Bahnsteige gewechselt.
  3. Vom Roman nur den Schutzumschlag einpacken! Wenn überhaupt. Liebe Eltern, nein, Sie werden den Roman (oder jedes andere Buch) auch bei dieser Bahnfahrt nicht lesen können. Sie werden maximal die Inhaltsbeschreibung auf der Rückseite schaffen. Das ist halt so. Dafür sind Sie Vater oder Mutter und nicht Dennis Scheck. (Das gilt im übrigen auch für alle anderen persönlichen Freizeitpläne, die Sie für ihre gemeinsame Fahrt gehegt haben.) Sie werden sich wohl oder übel in diesen Reisestunden mit Ihren Kindern beschäftigen müssen. Uno spielen oder Lieder raten, Äpfel schneiden, Brote verteilen, mit der Jüngsten auf Klo gehen, nach der Mittleren fünf Waggons weiter suchen, Malstifte herauskramen, Pullover aus der hintersten Ecke des Koffers über Ihnen herausschälen, Nein sagen, wenn Ihre Kinder noch etwas im Bahnhofskiosk kaufen wollen, doch Ja sagen, erklären, warum Züge auch an Heiligabend fahren, und versprechen, dass die Kinder auf jeden Fall Schlitten fahren dürfen, wenn bei Oma Schnee liegt. Sie müssen für Gerechtigkeit sorgen bei der Süßigkeiten-Verteilung und vor allem wissen, wo die Fahrkarten sind. Natürlich können Sie Ihren Kindern die Elektronik in die Hand drücken, wenn Sie Ruhe wollen. Wundern Sie sich aber nicht, wenn die das dann bei Ihnen irgendwann genauso machen.

Wie stressig oder erfreulich Bahn fahren mit Kindern ist, hängt damit gar nicht so sehr davon ab, wie familienfreundlich die Bahn ist und ob die Kinder Plastik-ICEs oder Malstifte vom Bahnpersonal bekommen. Auch nicht davon, ob noch ein spezieller Bereich im Waggon zum reservierten „Familien“-Territorium deklariert und mit Kindermöbeln voll gestellt wird. Wie stressig oder erfreulich Bahnfahren mit Kindern wird, hängt vor allem davon ab, wie man selbst damit umgeht, wenn es mal nicht so klappt wie geplant. Also immer. Jedes einzelne Mal.