Maya (12) ist schwer mit der Neugestaltung ihres Zimmers beschäftigt. Sie reißt sämtliche Soy Luna Poster von Kleiderschrank und Wänden und schmeißt sie zerknüllt in den Papierkorb. „Willst du auch das große Bild an der Decke über deinem Bett abhängen?“, frage ich. Maya nickt und ich erinnere mich daran, wie ich vorletztes Jahr auf Knien auf ihrem Hochbett herumgerutscht bin und hoffte, das Lattenrost würde unter mir nicht zusammenkrachen, während ich das riesige Poster von Ruggero Pasquarelli und Karol Sevilla – den Stars der argentinischen Disney-Serie – mit unzähligen Tesafilm-Streifen befestigte. „Mach es ganz fest, damit es hält und nie mehr abgeht“, bat meine Tochter mich damals. Nachdem ich das bunte Maxi-Poster bombenfest angeklebt hatte, kletterte Maya in ihr Bett, legte sich auf den Rücken, verschränkte die Arme unter ihrem Kopf und starrte selig an die Decke, von der ihr ihre Idole fröhlich zulächelten.
Aber nun ist das Ende von Luna, Matteo, Simón und Amber – wie die Stars in der Telenovela heißen – in Mayas Zimmer besiegelt. Es war abzusehen und eigentlich überfällig. Schließlich lief die allerletzte Folge der finalen Staffel bereits vor eineinhalb Jahren. Die Einschaltquoten der 3. Staffel waren offensichtlich so schlecht, dass der Sender die Ausstrahlung bereits nach wenigen Folgen stoppte und die Serie in die App verbannte. Doch Maya hielt ihren Idolen, allen voran Hauptdarstellerin Karol Sevilla, auch nachdem der große kommerzielle Hype längst vorbei war weiterhin die Treue. Bisher hat Maya noch niemanden gefunden, der Karols Platz einnehmen könnte.
Kinder suchen sich schon sehr früh Vorbilder, an denen sie sich orientieren können. Somit stellen wir, die Eltern, die ersten Idole im Leben unserer Kinder dar, dicht gefolgt von älteren Geschwistern. Maya vergötterte ihre dreieinhalb Jahre ältere Schwester Lara bis ins Grundschulalter. Lara funktionierte wie ein Filter, der ihrer kleinen Schwester Vorlieben und die Art zu spielen vorkaute. Was Lara gut fand, fand Maya auch gut. Wenn Lara mit ihrer Tanzgruppe auftrat, stand Maya staunend am Bühnenrand und prägte sich die Tanzschritte ein, um zu Hause „Genau wie Lara!“ zu tanzen. Lieblings-Kleidungsstücke, die Lara zu klein geworden waren und nach einiger Zeit in Mayas Besitz übergingen, lösten bei Maya so gut wie immer Begeisterungsrufe aus: „Die Jeansjacke hat Lara immer mit ihrem weißen T-Shirt und einer Kette getragen! Genauso will ich die auch anziehen!“ Doch je älter Maya wurde, desto mehr entwickelte sich ihr eigener Geschmack und sie grenzte sich von der Schwester ab, um sich neuen Idolen zu widmen.
Wie fast alle kleineren Kinder, identifizierten sich meine beiden Töchter mit Figuren aus Film und Fernsehen. Disney-Filmfiguren waren besonders beliebt. Maya bewunderte die geheimnisvolle Eiskönigin, die lustige Arielle und Rapunzel mit ihrem wunderschönen Haar. Lara sah sich eher als belesene Belle oder unangepasste Merida. Nachdem Maya „Küss den Frosch“ gesehen hatte, wollte sie kochen lernen und spielte ständig Kellnerin, um wie Tiana später einmal ein Restaurant aufzumachen. Dann wechselte sie ihren Berufswunsch und wollte Polizistin werden, nach Vorbild des taffen Hasen-Mädchen Judy Hopps aus Zoomania. Später verehrte sie Mal, die Tochter der bösen Maleficent aus den Descendants Filmen, wegen ihrer coolen Art und ihres Styles. Wem Maya gerade nacheiferte, konnte man stets an ihrer Zimmergestaltung, ihren Berufswünschen und ihren Klamotten ablesen.
Im Sommer 2016 lief die erste Soy Luna Staffel auf Disney Channel an. Hauptdarsteller: Ein Mädchen namens Luna, auf der Suche nach ihrer wahren Identität und weitere gutaussehende junge Menschen, die gemeinsam Musik machen, singen, auf Rollschuhen tanzen, sich verlieben und entlieben. Eine teenagergerechte, bunte Telenovela. Maya, die schon seit ihrem fünften Lebensjahr leidenschaftlich gerne Rollschuhe läuft und bis zu diesem Zeitpunkt für Pearl – dem Erste-Klasse-Waggon aus dem Rollschuh-Musical Starlight Express – schwärmte, identifizierte sich sofort mit der fröhlichen Luna. Pünktlich saß sie abends vor der Glotze, um auch ja keine Folge zu verpassen. Schnell häuften sich die Merchandise Artikel: Advents- und Jahreskalender, Schulplaner, Stifte, Haarspangen, T-Shirts, Rollschuhtasche, Fahrradhelm. Maya trug Lunas Kette um den Hals, schlief in ihrem Soy Luna Schlafanzug in Soy Luna Bettwäsche, tanzte stundenlang mit ihren Rollschuhen zum Soundtrack der Serie vor unserem Haus und schaute sich immer und immer wieder die gleichen Videos im Internet an: Interviews mit den Stars oder die Lieblingsszenen aus der Serie. Sie sammelte die Songtexte aus den Zeitschriften und schmetterte bald sämtliche Lieder lautstark und auswendig mit. Spanisch bezeichnete sie fortan als schönste Sprache der Welt. Argentinien und Mexiko, die Handlungsorte der Serie, wurden zu ihren Sehnsuchtsländern, die sie irgendwann einmal bereisen würde. Dann gingen die Darsteller mit einer eigenen Show auf große Europa-Tour. Maya träumte davon, Karol Sevilla live zu erleben und vielleicht sogar ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Sie bettelte verzweifelt, ich möge mit ihr ein Konzert besuchen.
Ich schüttelte damals erst den Kopf. Das Konzert lag doch noch so lange in der Zukunft! In neun Monaten wäre die Soy-Luna-Phase sicherlich vorbei, dachte ich. Man kennt es aus der eigenen Kinder- und Jugendzeit nur zu gut: Gerade noch war der Leadsänger irgendeiner Teenie-Band der Traumboy schlechthin und im nächsten Moment ist er plötzlich uncool und man behauptet, seine Musik eigentlich immer schon doof gefunden zu haben. Eine Klassenkameradin verehrte in den achtziger Jahren den Sänger Nik Kershaw. Sie ging damals der halben Klasse mit ihrem Starkult auf die Nerven (wir waren uns alle einig, dass Nik Kershaw ein Weichei war). Und dann, von einem auf dem anderen Tag, war es aus mit ihrer Liebe zu dem blonden Sänger mit der Föhnwelle: „Er ist nur eins dreiundsechzig. Ich bin jetzt schon ganze zwei Zentimeter größer als er.“ Manchmal reicht es schon aus, ein oder zwei Zentimeter zu wachsen oder sich von der Freundin anhören zu müssen, dass nur Babys mit Prinzessin Lillifee auf dem T-Shirt rumlaufen, um sein ehemals heißgeliebtes Idol eiskalt fallenzulassen.
Aber meine Tochter ließ nicht locker und so besorgte ich letztendlich die Karten (ohne das unbezahlbare Meet & Greet). Maya bastelte überglücklich ein Plakat für das Konzert, machte sich Gedanken über ihr Outfit und fieberte monatelang dem großen Tag entgegen. Als es dann endlich soweit war, es im Saal dunkel wurde und Karol Sevilla auf ihren Rollschuhen im Scheinwerferlicht auf die Bühne rollte, saß Maya wie erstarrt auf ihrem Sitz. Um sie herum flippten die Fans aus. Nur Maya bekam vor lauter Aufregung während der gesamten Show kaum ein Wort heraus. Dieses Erlebnis bedeutete ihr alles.
Man hat wenig Einfluss darauf, welche Idole sich die Kinder aussuchen. Und es hat sich in den letzten Jahren einiges geändert. Verehrte man in meiner Jugend in erster Linie Popstars, Sportler oder Schauspieler, verstärkt heute eine neue Spezies diesen Sektor: Der gemeine Influencer, der teilweise weder singen noch tanzen oder sonst etwas Besonderes kann. Und dennoch schafft er es, Millionen junge Follower an die Smartphones zu locken, damit die sich Werbung für Duschschaum oder Smoothies durch die Hintertür reinziehen und dafür mit einem phänomenalen Rabatt-Code und Details aus dem Privatleben des „Beinflussers“ belohnt werden.
Maya mag die lustigen Videos von LiDiRo und Julien Bam und Pamela Reifs Workouts, aber keiner von ihnen ist Maya wirklich wichtig. Karol bzw. die Kunstfigur Luna war kein schlechtes Idol. Durch sie hat Maya gemerkt, dass ihr der Tanz auf Rollen so riesigen Spaß bereitet, dass sie vor drei Jahren in einen Kunstlaufverein eingetreten ist. Spanisch findet sie nach wie vor so schön, dass sie in zwei Jahren auf jeden Fall den Spanischkurs in der Schule wählen möchte. Auch wenn wir Erwachsenen gerne die Schwärmereien unserer Kinder und Teens belächeln: Idole sind wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung. Soy Luna hat Mayas Interessen herausgekitzelt und sie langfristig beeinflusst.
Nun sind die Zimmerwände meiner Tochter kahl. Maya möchte Bilderrahmen kaufen und Fotos von sich, der Familie und Freunden aufhängen. „Erst einmal“, sagt sie und grinst.