
Es fing alles mit einem gut gemeinten Hinweis an. Eine Lehrerin meiner Tochter druckste am Telefon erst etwas herum, aber gab dann die Besorgnis einer Kollegin weiter, die mein Kind für magersüchtig halte. Ich lachte, vielleicht ein bisschen zu laut, es sollte schließlich Souveränes-Drüberstehen signalisieren. Ja, meine 15 Jahre alte Tochter sei schon immer sehr schlank gewesen, aber magersüchtig, nein, dass sei sie nicht.
Wir hatten alle Check-Ups beim Kinderarzt gemacht, die Daten der Tochter immer mit dem Durchschnitt verglichen und uns sicher gefühlt: Am unteren Ende der Skala, aber immer im grünen Bereich. Außerdem kann sie essen wie ein Scheunendrescher, wenn es ihr schmeckt: Pizza mit Extra Mozzarella, Kartoffelbrei, Schokoladenkekse. Kein Kalorienzählen, nie eine Bemerkung, dass sie sich zu dick fände. Wozu also sorgen?
Doch die Widerhaken der gut gemeinten Hinweise sollte man nie unterschätzen. Sie verkeilen sich in den Gedankengängen und tauchen unerwartet wieder auf, als ich mich selbst mal wieder auf die Waage stelle. Wieviel wiegt mein Kind eigentlich im Augenblick? Als ich sie danach frage, hat sie selbst keine Ahnung (ein gutes Zeichen, oder?), also sehen wir gemeinsam nach. Wie sie da so vor mir steht in Unterwäsche, sehe ich sie genauer denn je an: Sie ist schmal, viel schmaler gebaut als ich. Aber auch eine Kontrolle des BMI zeigt: Normal, aber am unteren Ende der Skala. Es ist das erste Mal, dass ich in eine Body-Mass-Index-Tabelle für Jugendliche schaue.
Schlank ist mein Kind sicher nicht wegen der Pizza oder ihrem Bewegungsmangel, aber wohl wegen all der Mahlzeiten, die sie vergisst. Essen ist ihr schlicht nicht wichtig und wenn ihr etwas nicht schmeckt oder sie im Kühlschrank nichts passendes findet, dann lässt sie eben eine Mahlzeit weg. Eine Gleichgültigkeit gegenüber dem Essen, die sie sichtbar weder mit ihrem Vater noch ihrer Mutter teilt. Für sie ist Essen ein notwendiges Übel, das zeitraubend und meist langweilig ist. Seit sie sich vegetarisch ernährt, ist sie noch wählerischer geworden.
Zählt keine Kalorien, aber kultiviert auch kaum Vorlieben. Essen aus purem Genuss, Appetit auf etwas haben ohne Hunger, das erlebe ich selten bei ihr. Dabei steht das doch als hehres Ziel in allen Diätratgebern für Erwachsene: Esst nur, wenn ihr hungrig seid und nur so lange, bis ihr satt seid.
Und trotzdem geht die Saat der Zweifel auf: Fehlt meinen Kind da nicht etwas? Ich fange plötzlich an, vermehrt die wenigen Lieblingsspeisen zu kochen, die ich sicher kenne. An manchen Tagen, wenn ich noch einen Extra-Klacks Butter in der Kartoffelbrei mische, komme ich mir schon vor wie eine Hexe, die Gretel mästen will.
Bis zu der Bemerkung der Lehrerin war Essen selten ein Thema zwischen meiner Tochter und mir gewesen. Mittlerweile ist es auf die Tagesordnung gerutscht, ohne dass ich es beabsichtigt habe. Ich frage nach, was sie mittags gegessen hat, worauf sie abends Appetit hätte, bringe ihr mögliche Leckereien mit. Nahrung, etwas Normales, Gesundes, ist plötzlich ein Sorge-Thema geworden und damit wird es ungesund.
Manchmal ist es so schwierig, die richtige Balance zu finden zwischen dem elterlichen Bauchgefühl, das sagt, an diesem schlanken Kind ist alles in Ordnung und der Angst, auf einen guten Rat von außen vor lauter Scheuklappen nicht rechtzeitig reagiert zu haben. Sie ist nun mal in einem Alter, in dem viele Mädchen mit Argusaugen auf ihre Figur schauen. Aber nun, ist mein Eindruck, sehen Erwachsene genauso kritisch hin.
Aber weder hat das Kind deutlich abgenommen, noch scheut es Kalorienbomben. Allein das lustlose Essen taucht in einer Anzeichen-für-Magersucht -Liste auf, da musste ich ein Häkchen setzen. Aber das reicht mir nicht, um sie gleich in die Beratungsstelle zu schleppen.
Wie so oft half es, etwas auszusprechen, was sich zu einem stillen dicken Sorgenbär aufplusterte. Dass jemand sie für magersüchtig halten könnte, fand meine Tochter überraschend, andere Mädchen seien doch viel dünner. Wir haben vereinbart, ihr Gewicht im Auge zu behalten, einmal im Monat der Waage einen kurzen Blick zu gönnen und ansonsten weiter zu essen wie bisher. Sie kommt jetzt öfter zum Einkaufen mit und sucht sich selbst Sachen aus, die sie dann bei Bedarf im Kühlschrank wiederfinden kann. Gerade macht sie sich über ein Stück Torte her. Wie beruhigend.
Titel eingeben
Magersucht ist ein oft nicht erkanntes Problem, bei Jungen wie bei Mädchen. Körperkult und die Darstellung in Medien, vorallem in den Sozialen Netzwerken, haben daran eine gewichtige Schuld. Aber nicht jeder schlanke Körper ist das Ergebnis von Magersucht. Dafür einen Dank an die Autorin. Etwas ganz anderes treibt mich um: die Lehrerin, die die Mutter darüber informiert. Lehrer sind heute viel mehr verpflichtet hinzuschauen und stehen in der Pflicht einzugreifen. In diesem geschilderten Fall finden ich es aber fast übergriffig. Das kann sowohl für die Eltern (wenn z.B. das Jugendamt informiert wird) wie auch für die Lehrerinnen (falsche Anschuldigungen) problematisch sein. Da ist einfach Vorsicht geboten.
Wenn andere einen als "zu dünn" bezeichnen...
…ist es ratsam, zu wissen, von wem dieses Urteil kommt – also ob diese Person evtl. übergewichtig ist.
Ich selbst mit BMI mittig im normalen Bereich, also keinesfalls am unteren Ende, werde von Zeitgenossen mit sichtbaren Bäuchen als „Spargeltarzan“ bezeichnet. Dabei ist ganz klar, dass diese Aussagen rein durch Unsicherheit über das eigene Aussehen motiviert sind, und jeder Grundlage entbehren.
Ganz oft passiert das, wenn Kulturen aufeinandertreffen – z.B. Städter und Vorstadtbewohner, oder höher Gebildete mit Handwerkern, etc.
Also ist es oft so, dass man anderen das dünn sein, aber eher die damit verbundene Selbstkontrolle neidet, oder diese als „snobistisch“ empfindet. Die Dünnen sind den Dicken ein ständiger, unausgesprochener Vorwurf, dem es etwas zu entgegen gilt.
Ihr Verhalten ist absolut sinnvoll
Unsere Tochter war schon 19 und studierte bereits, wohnte noch bei uns im Haus und hatte einen Studenten als, Freund. Alles normal soweit? Beide Töchtrr wurden dann erst Vegetarier und dann Veganer – wie ich jetzt weiß eine beliebte Erklärung um Kalorien zu sparen. Sie war sehr schlank, aber nicht Besorgnis erregend. Im Mai kam sie Sonntags in Shorts und T-Shirt zum Frühstück und ich musste versuchen nicht zu weinen. Vor mir stand eine total abgemagerte Frau. Ich möchte nicht alles erzählen, aber der Kampf hat unsete Ehe und Familie zerstört und sie wird noch Jahre brauchen bis sie das überwunden hat.
Rechtzeiig gegen zu steuern ist richtig, auch wenn das meistens zu Konflikten führt. Machen Sie so weiter… Viel Glück
Da kann ich Sie beruhigen...
Als Teenager war auch für mich das Essen ein notwendiges Übel, Zeitverschwendung vor der Freizeit nach der Schule, und am liebsten wäre es mir gewesen, man hätte den täglichen Kalorienbedarf mit einem Kalorienkonzentrat in Tablettenform einfach einwerfen können. Naja, meine Mutter kochte nicht gern, deshalb auch nicht besonders gut und ich war folgerichtig sehr schlank. Ausgerechnet das Kantinenessen bei der Bundeswehr (!!!) brachte mich dann allmählich auf den Geschmack, und wohl auch die gelegentlichen Wirtshausbesuche in dieser Zeit. Heute bin ich Genussesser und gerade noch normalgewichtig… also keine Sorge wegen Ihrer Tochter!
Als Kind bekam ich ständig zu hören: "Iss doch was, du bist so mager..."
Der Gipfel: der Schularzt sagte zu meiner Mutter: „Sie haben doch einen Bauernhof, geben sie dem Buben halt mal was zu essen.“
Ich konnte es nicht mehr hören. Ich hab gegessen, wenn ich Hunger hatte und der war halt schnell gestillt – und ich war sehr heikel, das bin ich aber immer noch. Mittlerweile bin ich bei 93kg angekommen, was mir in meinem fortgeschrittenen Alter und 1,83m keine großen Sorgen macht. Ist also keineswegs ein neues Phänomen, sich um die Essensgewohnheiten der Kinder zu sorgen – solange es nicht wirklich aus dem Ruder läuft: nur ruhig Blut!
In einer generell zu dicken Gesellschaft werden schlanke Menschen misstrauisch beäugt
Die Maßstäbe scheinen verschoben. Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, waren Kinder mehrheitlich dünn, man konnte die Rippen zählen, das war völlig normal. Wer etwas mehr draufhatte, konnte schnell gehänselt werden.
Wenn aber fast alle übergewichtig sind, ist zu dick das neuen „Normal“, da sehen dann „normalgewichtige“, die schon an Übergewichtigkeit schrammen, sofort was krankhaftes. Obwohl da nichts ist.
Aber die neue „Mitte“, politisch gesehen, ist ja inzwischen auch eher links, und nur wenigen scheint das noch aufzufallen.
Zu dick, zu links, so meine natürlich subjektive Wahrnehmung der Gesellschaft im Allgemeinen.
Nicht misstrauisch - eher neidvoll!
Ich gebe Ihnen recht hinsichtlich der Verschiebung der Maßstäbe, glaube aber trotzdem, dass der durchschnittliche Übergewichtige eher mit heimlichem Neid auf die schlanken Normalgewichtigen schaut. Er würde das natürlich nicht ohne weiteres zugeben, solange er unaffällig im übergewichtigen Mainstream mitschwimmen kann.
Alt werden
Mir (m) wurde auch immer gesagt ich sei zu dünn und meine Grossmutter war ganz stolz, wenn Sie was an mich „angefüttert“ bekam. Mit etwa 45 Jahren beschloss ich auf die Essbremse zu treten. Heute bin ich 68 Jahre und habe BMI = 22. Das ist inzwischen ein harter Kampf, den BMI zu halten.
Als ich in 1953 Jahren geboren wurde, lag die duchschnittliche Lebenserwartung für Männer etwa beim Pensionsalter. Wenn Sie heute wirklich Alte, also 90+, fragen, welcher modernen Medizin Sie Ihr Alter zu verdanken haben, sehen Sie in Märchenaugen, die waren niemals ernstlich krank. Wenn man heute so alt wird ohne moderne Medizin, warum nicht auch früher ? Die haben sich schlicht zu Tode gefressen, als Mann hatte man mit 50 einen Bauch zu haben und dazu zu rauchen.
Wer nicht an Krebs stirbt, seinen BMI < 25 hält und auf seinen Blutdruck achtet, hat den 80sten Geburtstag fest gebucht !
Von Kindesbeinen an ein Klappergestell
Als ich ausgewachsen war wog ich mit 1.85 59 Kilo. Das ist mittlerweile 4 Jahrzehnte her. Jetzt wiege ich 65 Kilo. Ich achte beim Essen auf gar nichts. Habe ich Hunger, esse ich. Habe ich keinen, esse ich nichts. Als Kind hat man mich zum Kinderarzt geschleppt. Ob denn auch alles in Ordnung sei. „Warum wollen sie aus einem Rennpferd einen Brauereigaul machen“. Damit war das Thema in meiner Familie erledigt. Mit 20 fand ich mich grauenhaft. Heute bin ich in meiner Altersklasse eine Ausnahme und muss immer lachen, wenn übergewichtige Altersgenossen meinen BMI kritisch beäugen. Spätestens beim gemeinsamen Treppensteigen verstimmen die kritischen Fragen, mangels Sauerstoff-Zufuhr des Stufen-Begleiters. Als Kind heutiger Helikoptereltern würde man mir auch mit Sicherheit ADHS unterstellen. Früher nannte man es Lebendigkeit. Anorexie ist eine böse Krankheit. Das überwertige Misstrauen mancher Eltern ihren Kindern gegenüber aber leider auch…