Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

„Immer nur dein Lieblingskind!“

Von klein auf achten Kinder darauf, ob sie genauso viel Aufmerksamkeit erhalten wie ihre Geschwister.

Ich helfe Maya (13) am Küchentisch bei ihren Englisch-Hausaufgaben. Lara (16) macht sich etwas zu Essen. Sie öffnet die Besteckschublade und kreischt mit einem Mal so ohrenbetörend auf, dass ich zusammenzucke. „Mein Gott“, sage ich genervt. Lara hebt theatralisch ihren linken Zeigefinger in die Höhe. „Ich habe voll ins scharfe Messer gegriffen“, jammert sie lautstark. Ich kneife die Augen zusammen, um den Finger aus der Ferne zu begutachten. Kein Blut. Nicht einmal ein einziger Tropfen. „Lass kaltes Wasser drüber laufen und uns hier arbeiten.“ Damit wende ich mich wieder dem Englischbuch zu. Lara ist eingeschnappt: „Das ist so typisch! Immer geht es nur um dein Lieblingskind und mich lässt du hier eiskalt verbluten!“   

Ich schmunzele in mich hinein und gebe nichts auf Laras Vorwurf. Ihre Gefühlsausbrüche sind grundsätzlich etwas drüber. Sie neigt dazu, sich in Situationen emotional hineinzusteigern. Ein trauriges Buch oder ein trauriger Film kann ihr den ganzen Tag verderben. Dann kämpft sie nonstop mit den Tränen und wiederholt in einer Tour: „Das kann doch nicht sein. Wie traurig ist das denn? Ich bin fix und fertig.“ Das ist auf der einen Seite süß, kann in manchen Situationen aber richtig nerven.

Ging es früher mit Maya und Lara zu einem gemeinsamen Impftermin, zuckte Maya, als dreieinhalb Jahre jüngere, beim Einstich der Nadel nicht einmal zusammen, während Lara losheulte und so schnell nicht damit aufhörte. Da half irgendwann kein verständnisvolles Trösten mehr, sondern nur eine resolute Ansage: „So, jetzt ist aber endlich gut!“ Wenn Maya sich als Kleinkind aufregte (selten und nur aus Wut, dann aber so heftig, dass sie sich wegschrie und blau anlief), musste man ihr sanft und ruhig zureden, damit sie sich beruhigte.

Meine Dreizehnjährige ist sehr taff und trägt ihre Gefühle sparsam nach außen. Letztens ist sie die Kellertreppe heruntergefallen und so übel auf den Rücken geknallt, dass ihr im ersten Moment die Luft wegblieb. Doch sie rappelte sich sofort auf und versuchte leichenblass und zitternd den Sturz herunterzuspielen: „Nichts passiert“, flüsterte sie tapfer, bevor ihr der Kreislauf wegsackte und ich sie gerade noch auffangen konnte. Ich habe sie in der Vergangenheit immer wieder ermutigt, Schwäche zu zeigen, aber sie ist nun einmal so, wie sie ist. Genau wie Lara so ist, wie sie ist.  

Jedes Kind hat einen eigenen Charakter und individuelle Bedürfnisse, auf die wir Eltern individuell reagieren und agieren. Wir behandeln Menschen unterschiedlich, weil Menschen unterschiedlich sind. Ich gehe lieber mit Maya einkaufen als mit Lara. Maya ist mir nicht nur im Supermarkt eine echte Hilfe. Wenn ich krank im Bett liege, pflegt sie mich wie eine kleine Mutter und sorgt für Ordnung im Haus. Lara schmeißt beim Einkaufen unkontrolliert ausschließlich ihre Lieblingsspeisen in den Wagen und verbreitet mit ihrer chaotischen Art immer ein bisschen Unruhe mehr als nötig. Wegen ihrer Unordnung geraten wir ständig aneinander.  Aber liebe ich Lara deswegen weniger? Auf gar keinen Fall! Die Beziehung zu meiner Großen ist hin und wieder konfliktgeladen, aber nicht weniger intensiv und innig als zu meiner Jüngsten. Maya ist das bügelfreie Baumwollhemd, Lara der pflegeaufwendige Wollpullover.

Maya fühlt sich in Situationen ausgeschlossen, in denen Lara und ich eine Einheit bilden. Wenn Lara und ich ohne Worte kommunizieren, weil wir wissen, was der andere gerade denkt. Wenn wir gemeinsam alte Doris-Day- oder Miss-Marple-Filme schauen oder über Bücher und Themen diskutieren, mit denen Maya nichts anfangen kann. Wenn wir uns an unsere Mutter-Tochter-Kurzreisen zu zweit erinnern. „Blöd, du hast immer schon viel mehr mit Lara gemacht“, sagt Maya dann. Das ist eine Tatsache und eine alters- und interessenbedingte Nebenerscheinung. Dabei sind die unzähligen Stunden, die ich bisher in meinem Leben vor Mathebüchern und Youtube-Videos verbracht habe, um Lara in Mathe zu unterstützen, nicht ansatzweise eingerechnet.

Niemand hört gerne von seinem Kind, dass es sich benachteiligt fühlt, man angeblich Unterschiede zwischen den Geschwistern macht oder ein „Lieblingskind“ besitzt. Als Folge wählt man Oster- und Weihnachtsgeschenke so aus, dass kein Kind das Gefühl bekommt, schlechter weggekommen. Man versucht für jeden da und ansprechbar zu sein. Man beteuert, dass man alle Kinder gleich liebhabt. Für kleine Kinder kann man fixe Zeiten für gemeinsame Rituale einplanen, zum Beispiel eine feste Vorlese- oder Kuschelzeit. Ältere Kinder freuen sich, wenn es sich einen ganzen Tag nur allein um sie dreht und sie die ungeteilte Aufmerksamkeit eines Elternteils erhalten, beispielsweise während eines Mutter-Sohn-Shopping-Tages oder einer coolen Papa-Tochter-Radtour.  

Dennoch, bei allen Bemühungen, wird es uns nie gelingen, unsere zeitlichen und emotionalen Ressourcen einhundertprozentig gleichwertig unter den Kindern aufzuteilen. Weil es menschlich ist, dass wir für das Kind, das uns gerade am meisten braucht – sei es für diesen einen Moment, einen Tag oder während einer kritischen Phase – da sein wollen und die Geschwister zwangsläufig hintenanstehen. Weil wir uns nicht zerreißen können und nicht zerreißen lassen dürfen.

Wer kann das besser nachvollziehen als Familien, die ein besonderes Kind mit einer körperlichen oder seelischen Einschränkung und gleichzeitig ein gesundes Kind gemeinsam großziehen?! Wer kann das besser nachvollziehen als eine Mutter, die gerade ihr zweites Kind auf die Welt gebracht hat und nun, ohne dass sie es eigentlich im Vorfeld gewollt oder geplant hat, von dem Erstgeborenen mehr Selbstständigkeit verlangt?! Denn das Neugeborene ist ja noch so klein und hilflos ohne uns. Gleichzeitig erscheint das ältere Kind mit einem Mal schon so groß.

Gerade der Nesthäkchen-Bonus zieht sich oft viele Jahre durch das Familienleben. Auch durch unseres. Ich war in den ersten Jahren mit Maya definitiv nachsichtiger. Und mir kam damals meine große, kleine Dreieinhalbjährige nach Mayas Geburt ebenfalls riesig im Vergleich zur kleinen Schwester vor. Später war Maya schüchtern und zurückhaltend und hing sehr an meinem Rockzipfel. Lara war dagegen ein lebhaftes, extrovertiertes und abenteuerlustiges Mädchen. Sie ging mit Vorliebe ihre eigenen Wege. Ich habe meine Flügel über Maya immer schon ein wenig breiter ausgebreitet als über Lara. Denn Lara wollte früh lieber eigene Flügel.

Ich würde meine große Tochter gerne öfter spontan umarmen und innig drücken, so wie es früher konnte und wie ich es jetzt (noch) bei Maya darf. Aber Sechzehnjährige stehen nicht auf ungefragte Liebesbezeugungen und auf zu viel elterliche Nähe. Das respektiere ich. Umso verwunderter bin ich, wenn Lara den Lieblingstochterspruch von sich gibt, nur weil ich mit Maya eng aneinander gekuschelt auf dem Sofa liege. 

Manchmal verletzen mich solche Aussagen. Egal, ob sie von Lara oder von Maya stammen. Dann denke ich an die vielen schlaflosen Nächte, die ich wegen beider Mädchen schon in meinem Leben hatte; an die unzähligen Stunden, die ich an ihren Betten hockte und ihnen vorlas, bis mir die Stimme versagte; an die vielen innigen Momente und schönen Erlebnisse, die wir bisher gemeinsam erleben durften; an all die Liebe und Zuneigung, die ich für beide Mädchen empfinde und an sie weitergebe; an ihre Sorgen, die auch automatisch meine Sorgen sind. Dann verbiete ich mir weitere Grübelei oder Schuldgefühle. Meine Kinder bedeuten mir alles. Und ich liebe keines mehr als das andere.

Nein, ich habe kein Lieblingskind! Vielleicht mag es phasenweise oder in bestimmten Augenblicken so aussehen, wenn ich mich mit Lara fürchterlich in der Wolle habe und anschließend mit Maya stundenlang vergnügt Kniffel spiele. Vielleicht mag es für Maya so wirken, wenn ich keine Zeit für sie habe, weil ich mich mit Lara intensiv unterhalte, wir in unserer Welt sind und sie sich ausgeschlossen fühlt. Wer mich braucht, für den bin ich da. Und gerade in diesem Moment braucht mich Maya, die an ihren Grammatikaufgaben verzweifelt.