Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Zwischen Haftbefehl und Mascha Kaleko – Kinder, Eltern und Musik

Stones oder Haftbefehl? Für die Identität von Kindern und Jugendlichen ist wichtig, ob sie die Musik selbst gefunden haben.

Eltern sind Vorbilder – manchmal gute, manchmal schlechte. Bevor Kinder ihren eigenen Musikgeschmack entwickeln, sind sie mehr oder weniger den musikalischen Vorlieben ihrer Eltern ausgeliefert. Was Vater und Mutter im Radio, auf Platte oder über den Streamingdienst hören, verfängt sich ihren Ohren. Manchmal hat das unvorhersehbare Folgen.

Meine Mutter ist 1965 als Teenager auf dem Sozius einer Mofa zum ersten Deutschland-Konzert der Rolling Stones nach Münster gefahren. Fünfzig Kilometer hin, fünfzig zurück. Seitdem war es um sie geschehen. Bis heute liebt sie die Stones. In meiner Kindheit liefen Songs wie „I Cant´t Get No (Satisfaction)“ und „Paint it Black“ rauf und runter. Im Laufstall, beim Spielen, beim Aufräumen, im Auto und wahrscheinlich sogar im Schlaf hörte ich kaum etwas anderes. Mich nervte das irgendwann. Meine Mutter liebte Keith Richards, Charlie Watts, damals noch Bill Wyman und vor allem Mick Jagger. Der dünne Frontmann mit den vollen Lippen hatte es ihr vor allem angetan.

Einmal schenkte sie mir zum Nikolaus eine Maxisingle. „Dancing in the Street“ von David Bowie und Mick Jagger. Kaum hatte ich die Platte ausgepackt, riss sie sie mir aus den Händen. „Irre, oder? Das ist ein Wahnsinnssong, mach ich gleich mal an.“ Zehn Sekunden später „dancete“ sie. Zwar nicht „in the street“, dafür aber durch unser Wohnzimmer, im Pyjama. Ich kann mich nicht erinnern, das Lied vorher gemocht und mir die Platte explizit gewünscht zu haben. Meine Mutter hat sich die Platte damals mehr oder weniger selbst geschenkt. Als ich ihr Jahre später diese Geschichte erzählte, lachte sie sich kaputt.

Was habe ich von dieser musikalischen Früherziehung mitgenommen? Ein großer Stones-Fan bin ich nicht geworden. Dafür kann ich es bis heute nicht leiden, wenn mich jemand zu sehr für eine Sache begeistern will, die er selber ganz toll findet.  Ich wehre mich mit allem dagegen, bekehrt zu werden. Dann mache ich zu und bin stur. Ich bin mir sicher, dass mir deshalb schon gute Platten, Filme, Bücher oder gar Menschen versperrt geblieben sind, die mich mit sicher begeistert hätten, wenn ich sie auf anderem Weg kennen gelernt hätte. Zum Beispiel mochte ich Boris Becker am Anfang nicht, weil ihn alle liebten.

Wie gehe ich mit diesen Erfahrungen um? Wie halte ich es heute mit meinen Kindern und der Musik? Der Anfang klingt total gut und schlüssig, wie ein 80er-Jahre-Popsong: Ich lasse sie hören, was sie wollen und mache Vorschläge, spiele ihnen Lieder vor, die ich selbst mag. Mit meiner Tochter Frida klappt das ausgezeichnet: Sie mag vor allem Frauenstimmen. Der Weg zur Kita ist jeden Morgen unsere Musikzeit. „Was möchtest Du hören?“, frage ich, wenn der Anschnaller einrastet. „Etwas, das du kennst oder was Neues?“ Und so haben wir während der zehn Minuten zur Kita schon Joy Denalane, Alicia Keys und Adele kennengelernt, Erykah Badu, Mia, Amy Winehouse und Zaz. Bei Macy Gray fragte sie: „Ist das wirklich eine Frau?“ Vor dem Aussteigen muss ich ihr immer Fotos der Sängerinnen zeigen: „Ach, das ist die? Hat die Kinder? Wie sieht ihr Mann aus? Oh, die sieht aber hübsch aus. Ist die französisch?“

Unser liebster Song ist das Mascha-Kaleko-Gedicht „Für eine Leierkastenmelodie“, gesungen von Dota und Hannes Wader. Kaum saßen wir im Auto, da kam schon vom Rücksitz: „Kannst du das Lied von den Leuten anmachen, die sich zu spät getroffen haben?“ Diesen Song haben wir über Wochen jeden Morgen gehört und mitgesungen. Manchmal zweimal auf der kurzen Strecke.

Unser Sohn und ich haben nicht den einen Song. Er ist acht, zwei Jahre älter als seine Schwester. Wenn er mit dem Roller von der Skatebahn kommt, hören er und seine Freunde vor allem deutschen Hiphop. Zu den Fantastischen Vier, Peter Fox und den Beginnern hat sich jetzt auch Capital Bra gesellt. Was ich gut finde: Er spielt mir die Lieder vor und wir reden drüber. Wenn wir allein mit dem Auto unterwegs sind, fordert er manchmal: „Papa, mach mal was krasses an.“ So hat er einen Eindruck von Rammstein, Metallica und Faithless gewonnen.

Neulich habe ich übertrieben. Wir brausten über eine leere Landstraße und fühlten uns spitze. Irgendwie wollte ich der obercoole Dude-Vater sein und spielte den sehr prolligen, aber auch sehr fetten Song „Ich roll mit meinen Besten“ von Haftbefehl an. Ich liebe den Beat und die Energie dieser Nummer. Auch Theo war ziemlich beeindruckt: „Krasser Song, Papa!“ Mir war klar: Vom Text her ist das überhaupt nichts für Achtjährige. Aber wir sprachen darüber und das Thema war durch.

Eine Woche später hatten Theos bester Schulfreundin und ihren Eltern zu Gast. Es war ein schöner Abend, die Kinder hüpften auf dem Trampolin, die Eltern saßen im Garten und sprachen über Urlaub und Schule. Dann erzählte die Mutter, was ihre Tochter vom Musikunterricht berichtet hatte. Die Schüler sollten ihre Lieblingssongs vorstellen. Theo wählte den Haftbefehl-Song aus dem Auto. Unmittelbar nach der Textzeile „In die Fresse Rap, jetzt gibt’s Heckmeck, Fick-Deine-Mutter-Mucke – das ist die Message“ stoppte die Lehrerin die Aufnahme.

Ärger hatte er deshalb nicht. Es gab keinen Vermerk im Schulbuch und keine Nachricht mit der Bitte um ein Gespräch. Am nächsten Morgen fragte ich Theo, warum er ausgerechnet den Song vorgestellt habe. Weil er seine Mitschüler beeindrucken wollte, gab er zu. Das fand ich zumindest ehrlich. Das könne ich verstehen, sagte ich, aber ob er wirklich der Meinung sei, dass die Schulklasse – samt Lehrerin – für diesen Song die richtige Bühne sei? Wohl nicht, meinte er.

Diese Aktion war eine gute Erfahrung für Theo. Er hatte schon vorher verstanden, dass Rapper nicht so sprechen wie normale Leute und absichtlich derbe Worten benutzen, um „krass“ zu sein, zu provozieren und sich abzugrenzen und dass das in Ohren von Schülern cool klingen kann. Theo spricht mit seinen Freunden nicht so. Klar fallen Worte wie „Alter“ und Digga“, aber keine Kraftausdrücke.

Mir selber muss ich eingestehen, dass ich dem Jungen den Song aus demselben Grund vorgespielt wie Theo seiner Klasse: Ich wollte ihn beeindrucken. Ihm sagen: ‚Dein alter Vater ist ein krasser Typ‘. Ziemlich blöd. Aber auch nicht schlimm. Künftig werde ich sorgfältig darauf achten, nur die Songs vorzuspielen, die ich selbst richtig gut finde und die keine Schockmomente nach sich ziehen. Haftbefehl ist bei Theo gerade nicht angesagt. Wenn er ihn wieder hören will, dann macht er das – ohne mich. Das ist völlig okay. Meine Mutter hat sich übrigens kaputtgelacht, als ich ihr diese Geschichte erzählt habe.

Jetzt läute ich die Ferien ein, das ist der letzte Text dieses Blogs aller Autoren für die nächsten Wochen. Ich klappe den Laptop zu, springe ins Auto und hole meine Tochter ab. Auf dem Hinweg drehe ich die Anlage auf und höre meinen Lieblings-Stones-Song: „Sympathy for the Devil.“ Ganz laut und ganz für mich allein.