Lara (17) will Klamotten in dem von Jugendlichen gehypten Online-Shop mit Sitz in China bestellen. Ich weigere mich. Zum einen reagiere ich auf Labels wie SHEIN allergisch, und zum anderen empfinde ich die Teile, die Lara bestellen möchte, als unnötig. „Wenn ich achtzehn bin und PayPal habe, muss ich nicht mehr betteln und kann mir alles, was ich will, selbst bestellen“, schimpft meine Tochter, als sie bei ihrer sturen Mutter auf Granit beißt.
Ich lache schallend und frage, ob sie einmal darüber nachgedacht hat, dass PayPal kein karikatives Unternehmen ist. „Irgendwo muss PayPal das Geld abbuchen. Wie sieht es denn auf deinem Konto gerade aus?“, frage ich und lamentiere über Mahnverfahren und Schufa-Einträge. Lara verstummt frustriert. Sie besitzt seit ihrem zwölften Lebensjahr ein Bankkonto mit EC-Karte. Wir überweisen die Hälfte ihres Taschengelds, die andere Hälfte erhält sie bar. Außerdem finanzieren wir ihr Smartphone mit Prepaid-Karte. Am Monatsende ist Laras High-Speed-Volumen längst verbraucht und auf ihrem Portemonnaie sowie ihrem Konto herrscht ebenfalls vorzeitige Ebbe: Mit der Clique im Biergarten sitzen, Geschenke und Alkohol für Partys besorgen, mit der Freundin einen Kaffee trinken oder Essen gehen, Städtetrip, neue Klamotten. Ab einem gewissen Alter erhöht sich der Freizeitradius. Die meisten Teenager sind chronisch pleite, selbst wenn Oma hin und wieder eine Finanzspritze setzt.
„Such dir einen Job“, sage ich ungerührt, sobald Lara über Geldnot klagt. Ich stamme aus einem Haushalt mit einer alleinerziehenden Mutter und zwei Geschwistern. In Laras Alter blieb mir nichts anderes übrig als in den Ferien und nach der Schule für die Dinge, die über die Grundversorgung hinausgingen, arbeiten zu gehen. Urlaub, Ausgehen und Klamotten waren auch mir als junger Mensch wichtig. Ich wollte mit meinen Freunden mithalten, die alle finanziell viel bessergestellt waren als ich. Ich schnappte mir damals das Telefonbuch und telefonierte die Leitung heiß, bis ich einen Job fand. Dadurch bin ich selbständig und selbstbewusst geworden. Ich kaufte den Großteil meiner Klamotten selbst, fuhr mit meinen Freundinnen in den Sommerurlaub und genoss das Nachtleben, ohne mich einschränken zu müssen.
Der Preis dafür war oft hoch. Ich war eigentlich immer müde, und meine Leistungen in der Schule hätten besser sein können. Das lag mitunter an dem Freizeit-Arbeit-Schule-Spagat, den ich veranstaltete. Während die meisten meiner Freundinnen im Freibad weilten oder ausschliefen, stand ich in den Ferien in Vollzeit in einem Kaufhaus und zog mir auch nach der Schule und am Wochenende Arbeitsstunden rein. Auf der anderen Seite genoss ich meine finanzielle Freiheit und lernte, dass man Geld nicht so schnell verdient, wie man es ausgibt und wie gut es sich anfühlt, unabhängig zu sein. Diese Erfahrung soll auch meine Tochter machen, selbst wenn mir absolut bewusst ist, dass sie es um einiges einfacher hat als ich in ihrem Alter. Sie jammert auf hohem Niveau.
Meine Vergangenheit hat mich geprägt, dementsprechend bockig werde ich, wenn meine Töchter zu viele Wünsche äußern. Lara und Maya gehören zu den bedauernswerten Kindern dieser Welt, die kein Netflix-Abo besitzen. „Wir sind Aliens!“, werfen sie meinem Mann und mir gerne vor. „Alle haben Netflix, nur wir nicht.“
Mein Mann zieht mit mir an einem Strang. Auch er hat in seiner Jugend neben der Schule gejobbt. Wir sind uns einig, dass wir keine faulen Luxusweibchen erziehen möchten. Und manchmal ist selbst Lara von der ein oder anderen verwöhnten Freundin genervt: „Hanna braucht nur einmal kurz nachfragen, und am nächsten Tag bekommt sie die Turnschuhe, die ich mir mühsam zusammensparen oder zum Geburtstag wünschen musste. Sie bekommt alles mal eben so nebenbei und weiß das gar nicht zu schätzen.“
In den letzten Sommerferienwochen begibt sich Lara also auf Jobsuche. Die anstrengenden Schulmonate und der Lockdown liegen hinter ihr. Sie langweilt sich. Die besten Freunde sind noch im Urlaub und ihre Sommerferien-Tätigkeit in der städtischen Bücherei, für die sie einen schönen Obolus erhält, reicht ihr nicht mehr. „Ich möchte einen Job, den ich auch nach Ferienende regelmäßig weitermachen kann.“ Laras bisherige regelmäßige Einnahmequelle besteht daraus, leere Flaschen in unserem Haus abzufischen und sich heimlich das Pfand dafür einzukassieren. Dafür muss sie nur zum Getränkemarkt fahren. Aber reich wird man damit natürlich nicht. Es ist ein bisschen Klimpergeld, das sie direkt vor Ort wieder in Wein oder Bier für das Wochenende investiert. „Der Mensch im Getränkeladen begrüßt mich schon wie einen alten Bekannten. Das ist mir langsam peinlich. Der denkt bestimmt, ich sammele Flaschen aus den Mülltonnen“, gab Lara einmal zu, als ich sagte, ich wäre nicht blöd und hätte ihre Flaschensammlung im Zimmer längst entdeckt.
„Geh doch Babysitten“, schlage ich vor. Sie besitzt viel Geduld und liest gerne vor. Die Kinder in der Bücherei lieben sie. Lara schüttelt den Kopf. Einen Babysitter benötigen die meisten Familien am Wochenende, um sich einen schönen kinderfreien Abend im Kino oder im Restaurant zu machen. Also fällt das weg. Lara möchte am Freitag- oder Samstagabend lieber Weggehen und Geld ausgeben, anstatt es zu verdienen.
Sie durchforstet im Internet die Jobbörsen und bewirbt sich in der Filiale eines sehr bekannten, alteingesessenen Bekleidungsunternehmens, das explizit Schüler und Studenten auf Minijob-Basis zur Aushilfe sucht. Schon einen Tag später lädt man sie zu einem Vorstellungsgespräch ein. „Ich habe den Job. Du musst nur den Vertrag unterschreiben“, sagt sie, als sie nach Hause kommt. Als sie mir den Stundenlohn mitteilt, entgleiten meine Gesichtszüge: 6,50 Euro Stundenlohn empfinde ich selbst für eine Minderjährige (und Lara wird in einem halben Jahr 18) als pure Ausbeutung. Kein Wunder, dass man Schüler in der Jobanzeige anspricht, um den Mindestlohn zu umgehen. „Willst du das wirklich machen?“ Ich erinnere Lara, dass ihre Nachhilfe-Lehrerinnen im letzten Jahr zwischen 12 Euro (Abiturientin) und 15 Euro (Studentin) die Stunde verdient haben. Selbst für ihre ehrenamtliche Tätigkeit in der Bücherei, die Lara als „absolut chillig“ bezeichnet, wird sie besser bezahlt. „3,10 Euro unter dem Mindestlohn“, sage ich entrüstet und rechne meiner Tochter vor, dass sie 69 Stunden im Monat arbeiten müsste, um die steuer- und versicherungsfreie Minijobgrenze von 450 Euro auszunutzen.
Lara ist überfordert. Von Wörtern wie Mindestlohn, Steuern und Sozialversicherung hat sie bisher nur am Rande etwas gehört. Solche Dinge interessieren sie nicht. Immer, wenn ich meiner Tochter ein paar Informationen über die wichtigsten Dinge des täglichen Lebens mitgeben will, macht sie normalerweise dicht. Dabei kommen diese Themen, zumindest auf unserem Gymnasium, absolut zu kurz. Sie werden maximal in Sozialwissenschaften angekratzt, ein Fach das in der Oberstufe ein halbes Jahr als Pflichtkurs besucht werden muss.
Aber nun hört Lara sich an, was ich zu sagen und vorzurechnen habe. Sie will den unterbezahlten Job trotzdem. „Ich hänge den Rest der Ferien sowieso nur zu Hause rum. Wenn ich am Handy daddel, bekomme ich gar kein Geld. Da sind 6,50 Euro immer noch besser als nichts. Und ich kann sofort anfangen.“ Es ist ihre Entscheidung, also unterschreibe ich den Vertrag. Sie muss ihre eigenen Erfahrungen machen. Außerdem schadet es nichts, sich mal unterbezahlt die Füße plattzustehen und festzustellen, dass das Geld nicht aus dem Wasserhahn sprudelt. „Ich kann mich ja immer noch nach einem Alternativjob umschauen“, sagt sie. Da bin ich sehr für! Lara soll und muss sich etwas zum Taschengeld dazuverdienen, aber das Ganze soll zeitlich im Rahmen bleiben. Die Schule darf unter ihrem Nebenjob nicht leiden, sonst zahlen wir als Eltern hinterher mit Nerven und Nachhilfestunden drauf.
Ein paar Tage später erhält Lara jede Menge Formulare. Man benötigt Angaben zur Krankenversicherung, Laras Sozialversicherungsausweis, die Steueridentifikationsnummer, ihre IBAN. Ich helfe meiner Tochter beim Ausfüllen und spare nicht mit Erklärungen. Die Unterrichtsstunde kann beginnen. Und dann passiert etwas Großartiges. Meine Tochter stellt von sich aus Fragen: „Sag mal, wie läuft das denn überhaupt mit der Rente? Bekommst du später auch welche? Und wie viel ist das so?“ Zu sehr ins Details gehen darf ich dann aber mit meinen Erklärungen nicht. Aber ein bisschen was wird hängenbleiben, ganz sicher.
An ihrem ersten Arbeitstag erkenne ich Lara nicht wieder. Ferien. 8 Uhr. Meine Tochter, die an freien Tagen nicht vor elf oder zwölf Uhr mittags ihren Zeh unter der Bettdecke bewegt, ist frisch geduscht und hübsch zurecht gemacht. Da steht plötzlich eine junge, erwachsene Frau in einer schwarzen Business-Hose und einer Bluse (geforderte Arbeitskleidung) in der Küche und bereitet sich einen Smoothie für ihre Mittagspause vor. „Ich muss schließlich acht Stunden arbeiten“, sagt sie ernst.
Es ist kein Traumjob. Aushilfen werden nicht mit Samthandschuhen angepackt, und freundlich sind längst nicht alle Angestellten und Kunden. Doch Lara lässt sich nicht entmutigen und beißt sich durch. Sie ist pünktlich und zuverlässig. Durch ihre offene und angenehme Art fällt es ihr generell nicht schwer, auf Leute zuzugehen. Parallel bewirbt sie sich weiter. Eine Firma bietet ihr einen Job auf einer Veranstaltung an. „Probier alles aus und entscheide, was für dich auf Dauer am besten passt“, rede ich ihr zu. Sie arbeitet ein komplettes Wochenende, diesmal für einen angemessenen Stundenlohn. Abends fällt sie tot ins Bett. Sie ist heiser vom vielen Reden. „Das war voll anstrengend, aber die Leute sind echt nett. Hat viel mehr Spaß gemacht und wird auch noch besser bezahlt.“
Den Vertrag für ihren unterbezahlten Job will Lara nächsten Monat auslaufen lassen, sollte ihr Lohn nicht erhöht werden. Zusätzlich gibt sie nun stundenweise Nachhilfe. Sie kennt jetzt ihren Marktwert. „Ich habe inzwischen echt viel gelernt“, sagt sie. Und das finde ich auch. Meine Tochter ist wieder ein Stück erwachsener geworden. Die wirklich wichtigen Dinge des Lebens, durch die junge Leute reifen und selbständig werden, lernt man eben nicht in der Schule.
Zufrieden checkt Lara nun regelmäßig ihren Kontostand auf ihrer Bank-App. „Übrigens, wenn ich 18 bin, dann hole ich mir Netflix. Das kann ich dann nämlich selbst entscheiden. Ich habe genug Geld, um das Abo jeden Monat zu bezahlen.“