Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

„Für mich ist ja sowieso nichts auf der Speisekarte“

Wer sich nicht einigen kann, setzt schließlich Moos an: Statue vor einem Restaurant in Binz auf Rügen.
Wer sich nicht einigen kann, setzt schließlich Moos an: Statue vor einem Restaurant in Binz auf Rügen.

Sonntag. Die gesamte Familie hat ausgeschlafen und spät gefrühstückt. Mittags verspürt noch niemand Hunger und selbst wenn: Der Kühlschrank würde nicht viel hergegeben. Doch gegen Abend meldet sich langsam nicht nur mein Magen anklagend. „Lass uns Essen gehen“, schlägt mein Mann vor und rennt bei (fast) allen Familienmitgliedern offene Türen ein. „Gute Idee! Ich sterbe vor Hunger!“, sagt Lara (17) begeistert, und ich nicke ebenfalls zustimmend. Heute war ein trostloser Tag, und wir waren nicht ein einziges Mal vor der Tür. Nur Maya (14) zuckt unschlüssig mit den Schultern. Der ersten Euphorie weicht die Ernüchterung. Wir wissen alle, welcher Kraftakt nun auf uns zukommt: Wir müssen uns auf ein Restaurant einigen. Und das wird erfahrungsgemäß schwierig.

Der Italiener wird von vorneherein einstimmig von allen abgelehnt. Denn dort landen wir in 99% der Fälle, wenn wir uns nicht entscheiden können. Pizza, Salat und Pasta gehen immer, bei uns allen. Ist aber auf Dauer langweilig. Mein Mann würde gerne das gutbürgerliche Restaurant um die Ecke nehmen. Ihm steigt schon der Duft einer frisch gebratenen Gans in die Nase. Ich schlage das griechische Lokal vor, weil wir da schon ewig nicht mehr waren. Lara möchte unbedingt asiatisch essen. Und Maya findet, wir sollten zu Hause bleiben und Kroketten in den Backofen schieben.

Ich bin genervt. Wenn es um unsere Ernährung geht, landen wir selten auf einem Nenner. Dafür sind unsere Geschmäcker zu unterschiedlich. Es läuft meist so, wie vor ein paar Wochen in unseren Herbstferien: Wir waren auf Städtetour. Es war ein toller, aber auch mega-anstrengender Tag. Wir hatten unzählige Kilometer zu Fuß abgerissen.  Es war schon später Abend, und wir wollten endlich sitzen und Hunger und Durst stillen. Mein Mann navigierte uns via Google Maps in „ein Super-Restaurant, das wir unbedingt ausprobieren mussten“ – zumindest versprach das der Reiseführer und die Online-Bewertung. „Frischer und besser können wir nirgendwo essen. Vertraut mir!“, war er überzeugt. Als wir die Super-Location erreichten, warfen wir drei Mädels einen vernichtenden Blick auf die karge Markthalle mit den zahlreichen Selbstbedienungsrestaurants. Das hier erinnerte an eine Shopping-Mall, viel zu trubelig und ungemütlich nach einem solchen Tag. Der Vorschlag „Markthalle“ wurde mit einer Dreiviertelmehrheit abgeschmettert.

Also machten wir uns mit knurrendem Magen zu Fuß in die Altstadt auf, wurden aber auch dort nicht fündig. Entweder waren meinem Mann die Anwerber vor der Tür zu aufdringlich, oder mir passten die überteuerten Preise nicht. Mal fand Maya überhaupt nichts für sich auf der Speisekarte, oder Lara betitelte das Restaurant als unakzeptabel und schmierig. Unsere Laune sank linear zu unserem Zuckerspiegel. Mein Mann betonte alle dreißig Sekunden, dass er bereits das perfekte Restaurant vorgeschlagen hätte, aber das wäre uns Grazien ja wieder einmal nicht gut genug gewesen. Maya motzte, es würde alles sowieso nichts bringen, und verlangte, dass wir jetzt sofort den Heimweg ins Hotel antreten. Sie müsste nicht unbedingt etwas essen, für sie wäre ja sowieso nie etwas auf der Karte, und überhaupt wäre Essengehen die reinste Geldverschwendung. Lara war fest dazu entschlossen, nie – aber wirklich nie, nie wieder – mit uns in den Urlaub zu fahren. Sie schimpfte, wir wären alle einfach unsagbar anstrengend und sie die einzig vernünftige und erwachsene Person in dieser Familie.

Nachdem wir uns alle ausgiebig angeschnauzt hatten, bildeten mein Mann und Lara eine Koalition und schossen sich auf ein Burger-Restaurant ein. Ich hasse Burger-Kram, ließ aber mit mir reden. Es gab Salat und für Maya das Notfallgericht: Pommes. Wir hatten Glück und ergatterten den letzten freien Tisch. Es dauerte etwa fünfzehn Minuten – genauso lange bis das Essen auf dem Tisch stand –, bis wir uns alle wieder schlagartig liebhatten. Zufällig waren wir in einem herausragend guten Restaurant mit sehr frischen und auch veganen Gerichten gelandet. Das Bier, die selbstgemachte Limonade, der Salat, die Burger und die Pommes schmeckten. Das Ambiente war nett, und so konnten wir den schönen Tag doch noch gebührend abschließen. Auch wenn der Weg dorthin wieder sehr steinig gewesen war.

Wenn die Kinder größer werden und man sie als handlungs- und stimmberechtigte Personen ernstnimmt, bekommen gemeinsame Familienentscheidungen andere Dimensionen. Vorbei die Zeiten, in denen nur zwei Personen – mein Mann und ich – sich einigen mussten: „Wir machen heute einen Ausflug. Das wird schön.“ Punkt. Die Kinder waren gespannt und neugierig und verließen sich darauf, dass Mama und Papa sich etwas Schönes ausgedacht hatten. Leisteten sie dennoch Widerstand, weil sie zum Beispiel gerade keine Lust hatten, sich anzuziehen oder sich von ihrem Spiel loszueisen, genügten in der Regel ein paar Versprechungen oder Lockungen, um sie umzustimmen: „Wir besuchen die Hirsche im Wald, und danach gehen wir ins Eiscafé. Also los! Anziehen!“

Urlaubsplanungen? Früher überhaupt kein Problem! Es gab sie, die Zeiten, in denen unseren Töchtern Eckdaten reichten: „Wir fahren in ein Hotel ans Meer.“ Die genaue geografische Lage interessierte sie nicht. Sie fragten höchstens nach, ob es im Hotel einen Pool gäbe, ob sie ihre Gummitiere mitnehmen durften und ob wir mit dem Auto oder dem Flugzeug reisen würden. Nun, mit vierzehn und siebzehn Jahren, wollen sie überall mitreden. Sie checken das Hotel, die Wlan-Verbindung und das Urlaubsziel genau ab, bevor sie ihr „ Go “ geben.

Die meisten Beschlüsse in unserer Familie werden demokratisch getroffen. Jeder darf sein Veto einlegen, seine Argumente vortragen und diskutieren. Was in der Politik schon nicht reibungslos funktioniert, klappt auch im Hause Heldt nur bedingt. Es braucht keinen ganzen Bundestag und einen Gesetzentwurf, es reichen vier Personen und die Frage, wo es zum Essen hingehen, welchen Film man am Samstagabend gemeinsam anschauen oder in welcher Farbe der Weihnachtsbaum dieses Jahr gestaltet werden soll, um eine lebhafte Streitdebatte in Gang zu setzen. Wie in der Politik, gilt auch bei uns der Mehrheitsentscheid. Bei einem Wahlausgang von 3:1 ist die Sache klar, nur eine Person ist verschnupft und muss die bittere Pille schlucken. Aber bei 2:2 – oder wenn jeder etwas anderes will und es gar 1:1:1:1 steht – enden alle unsere Debatten zwangsläufig in einer Endlosschleife, und manchmal ist anschließend jeder auf jeden sauer.

Natürlich muss man nicht immer alles gemeinsam unternehmen. Jeder soll und darf sein eigenes Ding machen und sich abnabeln. Aber es ist auch wichtig, nicht immer gleich aufzugeben. Manchmal muss und will man sich einigen. Und nur so funktioniert eine Gemeinschaft, auch die kleinste, die es gibt – die Familie.

Und so komme ich auf unseren Sonntagabend zurück: Griechisch? Gutbürgerlich? Asiatisch? Oder doch trockene Kroketten aus dem Backofen?  Maya holt ihr Smartphone und schlägt vor, die Entscheidung mit ihrer Glücksrad-App zu treffen. Sie tippt alles ein und will gerade loslegen, als mein Mann und ich sie bremsen. Ernst schauen wir in die Runde: „Wir lassen das Rad nur ein einziges Mal laufen und jeder, wirklich jeder, muss sich daran halten. Kein Gemecker! Keine weiteren Diskussionen!“ Maya schluckt und würde jetzt gerne einen Rückzieher machen. Sie will doch eigentlich nur Kroketten und hat keine Lust, das Haus zu verlassen. Aber es war ihr Vorschlag. Sie kann nicht mehr zurückrudern. Also legt sie das Smartphone in die Tischmitte und startet das Glücksrad. Gespannt starren vier Augenpaare auf das Display. Das griechische Restaurant gewinnt! Ich bin zufrieden. Mein Mann nickt ergeben. Lara verdreht genervt die Augen. „Ach, Mann, ich habe keinen Bock auf Tzatziki und den Kram.“ Und Maya findet, wir sollten das Rad doch lieber noch ein zweites Mal drehen, was sofort lautstark abgelehnt wird. Dann nörgelt sie, dass sie überhaupt keine Lust hat, sich nun anzuziehen, für sie werde ja sowieso wieder nichts auf der Karte zu finden sein.

Aber wenn wir gleich alle etwas im Magen haben, ist alles wieder gut.