Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Die Muttersprache als Heimat

Über die eigene Nationalität und Sprache denken Eltern fern der eigenen Heimat neu nach.

Die ersten Jahre im Leben unseres Sohnes Maximilien haben wir in Frankreich gelebt; meine Frau arbeitete damals in einer Grundschule; ich als Deutscher hatte das Glück, einen passenden Job in ihrer Stadt zu finden. Es ist eine eher ruhige Region, geprägt von Landwirtschaft und klassischen Industriebetrieben, reich an naturbelassenen Landschaften und idyllischen Dörfern: la France profonde, das tiefe Frankreich, wie die Franzosen es selbst nennen.

Wie wir uns kennengelernt haben? Wir sind ein typisches Erasmus-Produkt, eines jener binationalen Paare, die dank des Studienaustauschprogramms der Europäischen Union zueinander gefunden haben. Meine Frau und ich hatten beide die gleiche englischsprachige Universität für das Erasmus-Jahr ausgesucht.

Der Sprache, in der sich zwei Menschen verlieben, bleiben sie als Paar treu, sagte mir einmal jemand, der sich in einer ähnlichen Lage wie ich befand. In unserem Fall ist es das Englische, das wir nach wie vor miteinander sprechen. Und das, obwohl wir inzwischen ganz gut auch die Sprache des anderen beherrschen. Wir sind unserer ersten gemeinsamen Sprache treu geblieben, weil, so vermute ich, wir auf Englisch zuerst Vertrauen und Zuneigung zueinander aufgebaut haben.

Es war die Sprache, die wir beide in gleicher Weise mehr oder weniger gut beherrschten, in der wir unsere Gedanken und Gefühle ähnlich präzise zum Ausdruck bringen konnten. Sobald einer von uns beiden in die eigene Muttersprache wechselte, war sofort ein Gefälle da, das uns irgendwie Unbehagen bereitete. Zuweilen empfinden wir das heute noch so. Mit ihrer Familie spreche ich Französisch, meine Frau spricht mit meiner Familie Deutsch, doch wenn wir zwei miteinander allein sind, dann doch am liebsten und häufigsten auf Englisch. 

All das wurde indes zu einem fragwürdigen Arrangement genau zu dem Zeitpunkt, als unser Sohn Maximilien geboren wurde. Als ich ihn am Tag seiner Geburt das erste Mal in den Armen hielt, redete ich ihm instinktiv auf Deutsch zu, meine Frau sang ihm behutsam französische Schlaflieder vor. Als Eltern sprachen wir miteinander zwar noch einige Tage Englisch, aber schnell wurde uns klar, dass wir so nicht weitermachen wollten.

Es ist ein großes Glück für Kinder, wenn ihre Eltern unterschiedliche Muttersprachen sprechen, denn damit haben sie die Chance, beide Sprachen von Beginn an zu lernen. In einem Ratgeber zum Thema zweisprachige Erziehung erfuhren wir, dass es wichtig für das Kind ist, dass es jede Sprache klar einem Elternteil zuordnen kann. So sprach meine Frau von da an in Maximiliens Gegenwart nur noch Französisch und ich nur Deutsch, was dazu führte, dass wir inzwischen, sobald unser Sohn dabei ist, auch miteinander in unseren jeweiligen Muttersprache sprechen: Meine Frau fragt etwas auf Französisch und ich antworte auf Deutsch.

Einzige Ausnahme: Wenn wir die Familie des jeweiligen Elternteils besuchen. Erst wenn der Kleine schläft, kehren wir wieder in den vertrauten Englisch-Modus zurück. Wir praktizieren dies nun seit einigen Jahren so, und bislang sieht es so aus, als funktioniere unsere Methode. Max spricht beide Sprachen akzentfrei und kann sich mit Franzosen und Deutschen gleichermaßen gut verständigen, auch wenn er immer wieder Wörter der einen Sprache nutzt, um Sätze in der anderen Sprache zu vervollständigen. „Je veux un cholocalat boire“ – „ich möchte trinken einen Kakao“, solche deutsch-französischen Mischungen kommen auch noch immer vor.

Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, dass wir dieses Jonglieren mit drei Sprachen rein rational praktizieren, allein zum Wohle des Kindes und seiner Bildungschancen. In meinem Fall spielte auch ein gewisses Eigeninteresse eine Rolle: Ich gestehe, dass ich mich in den Jahren, in denen ich in Frankreich lebte und arbeitete, öfters etwas einsam fühlte – nicht weil ich keinen Kontakt zu anderen Menschen gehabt hätte, sondern weil mir im Alltag die eigene Muttersprache fehlte. Mit meiner Frau sprach ich Englisch, mit ihren Eltern, Geschwistern, mit Nachbarn und Bekannten, mit Kollegen und Einzelhändlern Französisch. Wir schauten französisches Fernsehen.

Das Deutsche aber spielte kaum eine Rolle mehr, es sei denn bei Telefongesprächen nach Deutschland oder bei der Lektüre von Büchern oder Onlinenachrichten. So von meiner eigenen Sprachheimat getrennt zu sein, war für mich ein unschönes Gefühl, auch deshalb, weil ich Französisch relativ spät erlernt habe und mit hörbarem Akzent spreche. Selbst nach einigen Jahren habe ich nicht immer alle Ausdrücke und Wörter parat, die ich in einem bestimmten Augenblick benötige. Ich kann mich gut verständigen, aber immer und immer wieder fühle ich mich ein bisschen wie ein Fisch in Schlammwasser, in der Beweglichkeit eingeschränkt, in der Fähigkeit zur präzisen Aussage gehemmt.

Mit meinem Sohn stets und ganz konsequent nur Deutsch sprechen zu müssen, war mir daher höchst willkommen. So konnte ich nicht nur für ihn ein deutschsprachiges Zuhause schaffen, sondern auch für mich. Deutsch mit ihm zu sprechen, bedeutete, mir selbst ein Stück Heimat zu kreieren, für mich in der „Diaspora“ in Frankreich eine Sprachoase zu gewinnen.

Während meines Studiums hatte ich angefangen, mich für migrationspolitische Fragen zu interessieren. Damals war oft die Forderung zu hören, Einwanderer, die ihre Kinder in Deutschland auf die Schule schickten, sollten zuhause mit ihnen Deutsch sprechen, um ihnen die Integration zu erleichtern. Ich gestehe, dass ich dieser Forderung in jenen Jahren einiges abgewinnen konnte. Meine eigene Migrationsgeschichte als deutscher Papa in Frankreich hat meine Einstellung in dieser Frage geändert.

Die eigene Muttersprache ist so etwas wie die Heimat, die wir in uns tragen; sie zu praktizieren, gibt Halt, Sicherheit, Geborgenheit – ganz besonders in einem fremden Land und in fremder kultureller Umgebung. Ich glaube heute, es ist zu viel verlangt, von Einwandererfamilien zu erwarten, im Schutzraum des eigenen Zuhauses auf die eigene Muttersprache zu verzichten und so zu den eigenen Kindern eine künstliche Distanz zu schaffen. Persönlich habe ich das Gefühl, dass ich meinem Sohn am besten Geborgenheit vermitteln kann, wenn ich es in meiner Muttersprache tue. Ich meine, so kann ich ihm Halt geben.