Schlaflos

Schlaflos

Das Familienblog der F.A.Z.

„Hatte ich dir nicht streng verboten, auf einem Motorrad mitzufahren?“

Lara hat sich mit ihrem besten Kumpel Finn zum Essen in der Stadt verabredet. „Danach treffen wir uns mit den anderen bei Jule. Kannst du mich später bei Jule abholen?“, sagt sie.

Ich habe heute Abend eigentlich keine Lust, nochmal ins Auto zu steigen, um ans andere Ende der Stadt zu gondeln – Jule wohnt weit außerhalb.

 „Wie kommst du zum Restaurant und dann zu Jule? Mit dem Bus?“, forsche ich nach.

Lara schüttelt den Kopf. „Nö, Finn nimmt mich auf dem Motorrad mit. Aber der will bei Jule früher abhauen.“

Sie hat das böse Wort gesagt! Motorrad! In meinem Kopf schrillen augenblicklich sämtliche mütterliche Alarmglocken. Winter! Nasse Straßen! Dunkelheit! Ein sechzehn Jahre alter Teenager auf einem Motorrad! Mit meiner Tochter hinten drauf! Finns Motorrad hatte ich vergessen, oder sagen wir eher: verdrängt. Wie ein Kind, das hofft, etwas wäre nicht da, wenn man es nicht sieht, hatte ich die Augen davor verschlossen. Ich wollte Lara bisher nicht fragen, ob sie bei Finn mitfährt und schon gar nicht die autoritäre Keule rausholen. Ich muss an eine Szene aus dem Film La Boum denken, in der Vic von ihrer Mutter auf Mathieus Moped erwischt wird. Françoise, die Mutter von Vic, herrscht ihre Tochter daraufhin sauer an: „Hatte ich dir nicht streng verboten, auf einem Moped mitzufahren?

Und schon ist sie weg.

Damals, als ich so alt wie Lara war, habe ich über Françoise nur den Kopf geschüttelt. Wie spießig und albern von ihr! Mütter! Das war doch nur ein Moped. Die Jungs meiner Clique waren früher alle motorisiert. Ich war froh, wenn ich dadurch von A nach B kam und nicht den Bus nehmen musste. Die meisten fuhren Roller (Vespa), einige 80er. Bis zum Jahr 2013 durften unter 18 Jahre alte Fahrer maximal 80 km/h fahren. Heute kann man mit einem A1-Führerschein ein 125ccm-Motorrad mit bis zu 110 km/h fahren. Nicht nur deshalb würde ich mich heute auf Françoises Seite schlagen, ihr zustimmen und Lara am liebsten genauso untersagen, bei Finn mitzufahren. Und überhaupt: Vic trug nicht mal einen Sturzhelm.

Da ich weiß, wie gerne Jugendliche genau das tun, was man ihnen verbieten möchte – allein aus Trotz und zu beweisen, dass sie man ihnen „überhaupt nichts mehr zu sagen hat, wenn sie doch bald schon achtzehn und erwachsen sind und auf sich selbst aufpassen können“ – versuche ich es gar nicht erst, Lara die Mitfahrt zu verbieten. Stattdessen hoffe ich auf ihre Empathie und ihr Mitleid:

„Das ist mir aber nicht recht, wenn du auf dem Motorrad mitfährst. Da habe ich Angst um dich und den ganzen Abend keine Ruhe. Die Straßen sind heute besonders nass“, jammere ich.

Ich ernte weder Mitleid noch Empathie, nur verdrehte Augen. „Hä? Ich bin schon voll oft bei Finn mitgefahren. Außerdem ist das meine Sache, ich bin fast achtzehn. Und du, sei lieber mal ganz, ganz still. Ich weiß genau, dass du früher auch auf Motorrädern mitgefahren bist hast, als du in meinem Alter drauf warst.“

Dem habe ich nichts entgegenzusetzen. Aber ein Versuch war es wert. Ich muss mit meinem mulmigen Gefühl im Magen leben, wie so oft, wenn Lara oder Maya alleine unterwegs sind. Alle Eltern müssen das. Die Angst fängt an, wenn die Kinder alleine mit dem Rad am stockdüsteren Morgen zur Schule radeln, und hört dann den Rest des Lebens nicht mehr auf. Wahrscheinlich lässt sie ein bisschen nach, wenn die Kinder ausziehen und man nicht mehr so viel von ihrem Leben mitbekommt. Solange sie aber unter unserem Dach wohnen, zucken wir zusammen, wenn wir draußen die Sirene eines Krankenwagens hören. Wir seufzen erleichtert auf, wenn der Fünft- oder Sechstklässler zum ersten Mal in seinem Leben alleine mit dem Rad die lange Strecke in die Stadt gefahren ist, um Freunde zu treffen, und uns endlich seine Nachricht erreicht: „Bin angekommen, Mama.“ Dann fällt uns ein kleiner Stein vom Herzen und wir schreiben zurück: „Ich wünsche Dir viel Spaß beim Shoppen! Pass auf dich auf.“

Meine Töchter müssen ihre eigenen Erfahrungen machen, und ich kann nur hoffen, dass sie Gefahren erkennen und sich vernünftig verhalten. Nicht nur im Straßenverkehr. Meine Mutter hat immer zu mir gesagt: „Warte mal ab, wenn du selbst Kinder hast, dann erfährst du am eigenen Leib, wie das ist, wenn man nicht schlafen kann, weil das Kind unterwegs ist.“ Sie hat Recht behalten. Aber davon wollte ich als Jugendliche genauso wenig wissen, wie Lara heute.   

Mit Sechzehn lernte ich einen Typen kennen, den ich unglaublich toll fand. Er war zwei oder drei Jahre älter als ich und fuhr ein richtiges Motorrad, keine Vespa oder eine 80er wie meine Freunde, sondern eine größere Maschine. Er war schließlich schon volljährig. Es war Sommer und ein wahnsinnig heißer Tag. Wir hatten uns im Freibad getroffen. Ich trug Flipflops, kurze Hosen und zögerte nicht einen Moment, als er mir anbot, mich mit seiner Maschine nach Hause zu fahren. Vielleicht wollte er mir etwas beweisen und mich beeindrucken, vielleicht kam mir die Fahrt auch nur so ungewohnt rasant vor, weil weder die 80er noch die Roller meiner Kumpels so schnell unterwegs waren. Aber zum ersten Mal in meinem Leben bekam ich Angst auf einem Zweirad. Panisch bat ich ihn, langsamer zu fahren, was er nur bedingt tat. Als ich endlich zitternd von seiner Kiste absteigen konnte, donnerte ich ihm wütend entgegen, dass ich nie wieder bei ihm mitfahren würde. Im Eifer des Gefechts stieg ich auf der falschen Seite ab und verbrannte mir dabei die nackte Wade am Auspuff. Den restlichen Sommer rannte ich mit der üblen, nässenden Brandwunde herum und wurde durch meine Narbe noch viele Jahrzehnte an diese Horrorfahrt erinnert. Große Motorräder waren ab da kein Thema mehr für mich (der Typ natürlich auch nicht). Ich hatte Lehrgeld bezahlt und eine schmerzhafte Erfahrung gemacht, auf die ich im Nachhinein gerne verzichtet hätte. Was wäre gewesen, wenn wir einen Unfall gebaut hätten? Ich hatte nur Flipflops, kurze Hosen und ein ärmelloses Sommertop getragen. Zum Glück handelte ich mir „nur“ eine verbrannte Wade ein.

Ich weiß, dass ich Lara nicht vor allen Risiken schützen kann. Ich bin mir sicher, dass auch sie noch Lehrgeld bezahlen und aus Erfahrung klug werden wird. Ihre Freunde machen nun alle nach und nach den Führerschein und werden mobiler. Lara wird bei Fahranfängern ins Auto steigen, und ich werde nicht immer jeden einzelnen ihrer Freunde und Bekannten kennen und ihm Vertrauen schenken können. Sie wird sich irgendwann selbst hinters Steuer setzen, um vielleicht in den 30 Kilometer entfernten Club oder übers Wochenende nach Holland ans Meer zu fahren. Das kann ich ihr nicht verbieten und will es auch nicht, aber Sorgen werde ich mir trotzdem machen. Wie war das noch? „Warte ab, wenn du selbst mal Kinder hast …

Statistisch gesehen werden die meisten Unfälle von jungen Fahranfängern verursacht. Die Risikobereitschaft und Überschätzung des eigenen Könnens sind in diesem Alter sehr hoch:

In Nordrhein-Westfalen ereignen sich pro Jahr etwa 550.000 Verkehrsunfälle. Rund 500 Menschen werden dabei pro Jahr getötet. Junge Fahrerinnen und Fahrer im Alter von 18 bis 24 Jahren verursachen überproportional viele der schweren Unfälle. Fast 100 von ihnen sterben jedes Jahr in NRW (Quelle: Schulministerium NRW / Crash Kurs NRW).

Lara musste mit ihrer Klassenstufe in der Schule an einem Präventionskurs teilnehmen. Er heißt Crash Kurs NRW. Das Programm richtet sich speziell an Jugendliche der 10. und 11. Jahrgangsstufe sowie an Berufsschülerinnen und Berufsschüler. Mit emotionalen Berichten von Betroffenen und eindringlichen Bildern wird anschaulich aufzeigt, dass Verkehrsunfälle ihre Ursachen haben. Lara hatte im Vorfeld großen Respekt vor der Veranstaltung. Sie wusste, dass nicht nur Mitarbeiter des Rettungsdienstes, der Notfallseelsorge und Ärzte, sondern auch Unfallverursachende und Unfallopfer und deren Angehörige vor Ort ihre ganz persönlichen (schrecklichen) Erlebnisse erzählen werden. Wie schlimm muss es sich für einen Polizisten anfühlen, wenn er einer Mutter oder einem Vater die Nachricht überbringt, dass der neunzehnjährige Sohn gerade tödlich verunglückt ist? 

Lara selbst fand die Veranstaltung aufwühlend, meinte aber, dass sie nicht glauben würde, sie hätte bei vielen ihrer Mitschüler etwas bewirkt. Als junger Mensch hat man immer das Gefühl, dass einem diese schlimmen Dinge selbst nicht passieren können. Gleichzeitig lockt der Ruf der Freiheit und Unabhängigkeit. Man will nicht mehr von Mama oder Papa überall abgeholt werden. Man will als Erwachsener wahrgenommen werden. Und ein Autoschlüssel in der Hand oder ein Motorradhelm auf dem Kopf fühlt sich erwachsen an.

„Was ist jetzt? Kannst du mich später abholen oder nicht?“, fragt Lara nun. Ich nicke schnell. Und dann gebe ich zum Abschied einen typischen Elternsatz von mir, den ich schon sehr oft zu meinen Töchtern gesagt habe und sicher noch sehr oft in den nächsten Jahren sagen werde, auch wenn ich als Reaktion darauf so gut wie immer das gleiche genervte „Ja, Ja“ erhalte. Ich werde ihn trotzdem sagen, immer und immer wieder und wahrscheinlich für den Rest meines Lebens: „Pass auf dich auf und fahrt vorsichtig.“