Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Wenn ein britischer Feuerwehrmann einem deutsch-französischen Kind sprechen beibringt

„Ich bin bereit“, sagt Feuerwehrmann Sam vor einem Einsatz. Es wurde der erste deutsche Satz des Kinds unseres Autors.

Als Vater in der muttersprachlichen Diaspora war mir im besonderen Maße daran gelegen, meinem Kind die Chance zu geben, möglichst viel von meiner Sprache kennenzulernen. Max wurde in Frankreich geboren, und wir lebten die ersten Jahre nach seiner Geburt in der französischen Provinz. Die einzige Verbindung zur deutschen Sprache stellte der Papa für ihn da, zumindest solange er als Baby und Kleinkind völlig auf die Eltern angewiesen war.

Ich habe ihm viele, viele Bilderbücher gezeigt, einfache Kinderbücher vorgelesen und aus Liederbüchlein alle möglichen Lieder vorgesungen. Meine Bitte an Freunde und Verwandte, die sich erkundigten, womit sie dem kleinen Max denn eine Freude machen könnten, war stets: „Schenkt ihm deutschsprachige Bilder- und Kinderbücher!“ Mein Bemühen, der französischen Sprachflut unseres Alltags ein bisschen Deutsch entgegenzusetzen, führte schließlich dazu, dass Max‘ erstes deutsches Wort „Buch“ war. Kein Witz.

In meinem einsamen Kampf bekam ich aber dann doch irgendwann Hilfe, und zwar ab dem Moment, als Max sich die Welt zu erkrabbeln begann und auf eigene Faust Papas Arbeitszimmer ansteuerte, um zu schauen, auf welch eigenartig flimmernde Scheibe er da stundenlang starrte, aus der auch noch Musik und Stimmen erschallten. Manchmal höre ich beim Arbeiten Musik übers Internet, deutsche Radiosender zum Beispiel.

Nun kam mein kleiner Besucher vorbei, zog sich an meinem Bürostuhl hoch und machte deutlich, dass er gerne auf Papas Schoß Platz nehmen würde, um diese leuchtende Scheibe genauer zu inspizieren. Und da ihm die Musik offensichtlich gefiel, denn er wippte ganz begeistert mit, ließ ich ihn manchmal Musikvideos auf Youtube schauen. (Den größten Erfolg erzielte übrigens Pharrel Williams mit „Happy“.)

Mit der Mediennutzung ist es freilich so eine Sache. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung beispielsweise rät davon ab, Kinder im Alter von 0 bis 3 Jahren irgendwelchen Bildschirmmedien auszusetzen, egal ob Smartphones, Computer oder Fernsehgeräte. Und für Kinder im Kindergartenalter zwischen 3 und 6 Jahren wird eine tägliche Bildschirmmediennutzungszeit von höchstens 30 Minuten für alle Geräteklassen zusammen empfohlen.

In Frankreich gelten ähnliche Regeln, hier klärte uns schon der Kinderarzt über die 3-6-9-Regel des französischen Psychiaters Serge Tisseron auf, die zu beachten Eltern auch von einem regierungsamtlichen Internetportal zu Sucht und Drogen nahegelegt wird: Bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres sollen alle nicht interaktiven Bildschirmmedien vermieden werden. Ab dem Alter von drei Jahren wird eine halbe Stunde Bildschirmzeit am Tag als akzeptabel eingestuft. Diese Zeitspanne kann, so die offizielle Empfehlung, langsam gesteigert werden bis hin zu einer Stunde täglich im Alter von sechs Jahren.

Der Grund für die restriktive Begrenzung der Bildschirmzeit: Bei Kleinkindern, die zu lange Zeit Bildschirmmedien konsumieren, können unter anderem kognitive Entwicklungsstörungen auftreten. Eine mögliche Folge: eine erhebliche Verlangsamung des Spracherwerbs. Es verwundert also nicht, dass meine Frau Léna, die als Grundschullehrerin die verheerenden Folgen übermäßigen Medienkonsums bei einigen ihrer Schüler tagtäglich erleben musste, nicht begeistert war, als sie Max und mich erwischte, wie wir am Computerbildschirm Musikvideos schauten.

Einige Monate später besuchten wir einen Freund in der deutschen Heimat, der einen Sohn im gleichen Alter wie Max hat, und wir diskutierten mit ihm über das richtige Maß an Bildschirmzeit. Mein Gedanke war, dass Max‘ große Neugier auf die flimmernden Scheiben auch zum Guten genutzt werden könnte, da er auf diese Weise ganz unkompliziert dazu zu motivieren wäre, deutschsprachige Sendungen zu schauen und so das Deutsche nicht nur durch mich zu erleben. Da gab der Freund einen guten Tipp: „Schaut euch mal den Kleinen roten Traktor an; das wird Max gefallen, ist für sein Alter genau richtig, und ihr könnt auf Youtube viele Videos auf Deutsch schauen.“

„Kleiner roter Traktor“ ist eine Serie in Stop-Motion-Technik von 2004; sie kommt aus Großbritannien und läuft hierzulande auf Kika. Sie handelt von den Abenteuern eines beseelten Traktors und seines Fahrers Jan, die in einer kleinen Landgemeinde alle möglichen Abenteuer zu bestehen haben. Zurück in Frankreich probierten wir es aus, und Max war sofort begeistert.

Auch Mama ließ sich darauf ein, solange es in der Woche bei maximal drei der zehnminütigen Episoden blieb. Auch sie fand, dass der Kleine rote Traktor meine Bemühungen unterstützen konnte, Max an die deutsche Sprache heranzuführen. So kam es, dass wir dem Rat der Experten zuwiderhandelten und Max den Bildschirm schon vor Vollendung des dritten Lebensjahrs zugänglich machten.

Youtubes Algorithmen schlugen uns bald weitere Videos für Kinder vor. So entdeckten wir die Kurzgeschichten von Feuerwehmann Sam in der Version von 2005, also jene Episoden, die vor der heute überall vermarkteten digitalen Version produziert und die wie der „Kleine rote Traktor“ in Animationstechnik gedreht worden waren. Die Stop-Motion-Trickserie mit Figuren aus Knetmasse, wiederum aus Großbritannien, erschien ebenfalls in Zehnminutenfolgen.

Der Erfolg war umwerfend: ich hatte nun fast täglich Besuch in meinem Arbeitszimmer und musste, um ein Überhandnehmen des Bildschirmkonsums zu vermeiden, Max‘ Verlangen nach der Feuerwehrmannschaft aus Pontypandy stark bremsen – was die ganze Sache natürlich nur noch interessanter für ihn machte.

Und wenn er dann an den zwei Nachmittagen in der Woche mit Papa die Abenteuer von Sam und den nach römischen Göttern benannten Einsatzfahrzeugen schauen durfte, dann wusste er auch sehr schnell, bis drei zu zählen, denn einige Zeit später waren maximal drei Folgen hintereinander erlaubt. Es waren also zunächst ein britischer Traktor, dann eine britische Feuerwehrmannschaft, die dem deutsch-französischen Elternpaar in Frankreich dabei zu Hilfe kamen, dem kleinen Max die deutsche Sprache, seine Vatersprache, näher zu bringen.

Hat es geholfen? Nun, zunächst ging der Spracherwerb in Deutsch langsamer als der in Französisch voran. Während Max mehr und mehr französische Worte bilden und anwenden konnte, blieben wir auf Deutsch im Wesentlichen bei „Papa“, „Buch“, „Traktor“ und „Sam“. Ich begann schon mich zu fragen, ob ich mit meiner Strategie falsch gelegen und stattdessen die Büchse der Pandora geöffnet hatte.

Doch eines Samstagsmorgens, früh um sechs, im späten, ungemütlich kalten Herbst, geschah es, dass ich noch halb im Traum aus der Finsternis heraus plötzlich eine helle Stimme neben meinem Bett vernahm und zwei kleine Kinderhände an meiner Schulter rüttelten: „Papa, Papa! Ich bin bereit!“

„Ich bin bereit!“ Das ist wohl der wichtigste Satz aus dem Mund von Feuerwehrmann Sam, der in keiner Episode fehlen darf. Wann immer ein Notfall eintritt: Sam ist bereit. Als Max diese Worte im klarsten, reinsten Deutsch in meine verschlafenen Ohren rief, wusste ich in all meiner Schlaftrunkenheit: Meine Rechnung war aufgegangen.

Links:

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Empfehlungen zur Mediennutzung durch Kinder: https://www.kindergesundheit-info.de/themen/medien/alltagstipps/mediennutzung/hoechstdauer

Informationsportal der französischen Regierung zur Drogensucht:
https://www.drogues.gouv.fr/comprendre/ce-qu-il-faut-savoir-sur/lexposition-aux-ecrans