Es ist mir schon wieder passiert. Unbewusst. Dabei war ich diese Unart fast los! Und nun ein neuerlicher Rückfall …
Maya und ich waren einkaufen. Nun sitzt meine Vierzehnjährige neben mir auf dem Auto-Beifahrersitz und packt genüsslich den Schokoladenriegel aus, den sie sich eben an der Kasse geschnappt hat. Neidvoll schaue ich zu ihr herüber. Als sie meinen Blick sieht, bietet sie mir ein Stück an. „Willst du auch?“ Klar möchte ich. Aber meine Hände haben den schmierigen Einkaufswagen geschoben, im Supermarkt alles angepackt und umfassen gerade das Steuer. Außerdem muss ich mich auf den Verkehr konzentrieren. „Kannst Du ein Stück abbrechen und der Mama in den Mund stecken?“, frage ich und erstarre augenblicklich. Verdammt nochmal! Ich habe tatsächlich schon wieder in der dritten Person von mir selbst gesprochen! Dabei befinden sich lediglich zwei Personen im Auto! Maya und ich. „Kannst du das der Mama in den Mund stecken“, äffe ich mich selbst schimpfend nach. „Wie rede ich denn? Du bist doch kein Kleinkind mehr. Blöd. Richtig blöd.“
Ich habe schon oft darüber nachgedacht, warum ich – teilweise geht es auch meinem Mann so – in alte Sprachmuster verfalle. Wie wir dort hingekommen sind, weiß ich: Intuitiv nutzen Eltern, wenn sie mit ihrem Baby kommunizieren, einfache Wörter und eine schlichte Grammatik, wiederholen das Gesagte sehr oft, ziehen Silben in die Länge und nutzen eine übertriebene Mimik. Das hilft den Kindern beim Spracherwerb. Erst im Laufe des dritten Lebensjahres, nach Entwicklung der Selbstwahrnehmung, sind Kinder in der Lage, von sich selbst in der Ich-Form zu sprechen. Vorher gebrauchen sie meist die dritte Person: „Maya hat Hunger.“ Eltern spielen den Ball dann zurück: „Die Mama kocht gleich.“ Das ging uns irgendwann so in Fleisch und Blut über, dass es uns gar nicht mehr auffiel. Dass wir weiterhin in Gegenwart der Kinder das Wort „Ich“ wegließen – und zwar selbst dann, als die sich sprachlich längst weiterentwickelt hatten und problemlos von der dritten in die erste Person geswitcht waren. Maya sagte zum Beispiel: „Ich will noch nicht ins Bett.“ Und ich antwortete: „Der Papa liest dir gleich noch etwas vor, aber dann wird geschlafen.“
Warum behält man diese Art, mit den Kindern zu reden bei? Geben wir einen Teil unserer Identität an der Garderobe ab, wenn wir Eltern werden? Sind wir dann keine Individuen mehr? Definieren wir uns zu viel über die Kinder?
Haben Sie kleine Kinder? Wie stellen Sie sich im Kindergarten, in der Schule oder im Turnverein anderen Eltern oder Kindern vor? Sagen Sie: „Guten Tag, ich bin Herr Tim Mayer, der Vater von Lisa Mayer“? Oder sagen sie: „Ich bin der Papa von der Lisa“? Variante 2 ist heutzutage definitiv die gängigere. „Ich bin der Manager von Rihanna“ – keine weiteren Fragen. Manager von Rihanna. Trainer von Mannschaft XY. Papa oder Mama von Lisa. Jedem ist sofort klar – sie bilden eine Einheit. Sie sind ein Team. Ein Herde.
Meine Töchter (14 und 17) sind keine Kleinkinder mehr, sie werden selbständig und gehen ihre eigenen Wege. Sie brechen immer häufiger aus der Herde aus. Und so streife auch ich einen Teil meines Muttertierfells ab. Ganz sachte. Nach und nach, damit es nicht so weh tut. Momentan befinde ich mich mitten im schönsten Fellwechsel. Der dichte, schwere Winterpelz weicht einer luftigeren, leichteren Sommerbehaarung. Ich genieße es, mich einfacher fortbewegen zu können und eigenen Wünschen nachzugeben, statt ausschließlich die Wunscherfüllerin zu spielen. Ich genieße, weniger zur Verfügung stehen zu müssen. Wieder mehr Ich und weniger die Mama zu sein. Mein Ich fordert größeren Raum in der gemeinsamen Höhle, nachdem die Mama so viele Jahre für Futter und Wärme sorgte, immer die Letzte in der Nahrungskette war und ihre eigenen Bedürfnisse hintanstellte. Ich durchlaufe eine normale und wichtige Entwicklung, wie die meisten Eltern mit älteren Kindern. Unsere Töchter werden irgendwann die Höhle verlassen. Es ist wichtig, darauf vorbereitet zu sein und einen möglichst sanften Übergang hinzubekommen.
Vor einiger Zeit rief Maya aus ihrem Zimmer, ob ich zu ihr hochkommen könne, sie bräuchte dringend meine Hilfe. Ich saß mit meinem Mann vor dem Fernseher und rief zurück: „Ja, ja, die Mama kommt gleich zu dir hoch.“ Meine Antwort störte so sehr, dass ich anfing, bewusst darauf zu achten, diese dritte Person in mir – zumindest sprachlich – für immer quitt zu bekommen. Umgekehrt fallen auch meine Töchter hin und wieder in alte Sprachmuster, so wie Lara letztens, als sie ihrer Freundin erklärte: „Die Mama kocht uns immer Hühnersuppe, wenn wir krank sind.“ Sie spricht so von mir, wenn sie sich in ihre Kindheit zurückversetzt fühlt.
„Ach, Mami, ich finde das überhaupt nicht schlimm, wenn Du so redest“, sagt Maya nun sanft. Mir wird warm ums Herz, denn sie benutzt die i-Endung, seit sie ein kleines Mädchen war, nur in besonders innigen Momenten. „Ich mag es ja eigentlich auch nicht, wenn man mich mit meinen Kosenamen von früher anredet. Aber dir erlaube ich das“, erklärt sie und betont dann ernst, „aber nur, wenn wir alleine sind.“
Mayas Worte versöhnen mich. Es stimmt: Bestimmte Dinge bleiben für immer eine Angelegenheit zwischen ihr und mir, bleiben privat. Ein Teil von mir wird auf ewig die Mama bleiben. Das ist der Teil des Fells, der sich nicht abwerfen lässt. Und wer will schon frieren? So lange Maya mich in ein paar Jahren auf ihrer Abifeier nicht zur Eile antreibt und ich in aller Öffentlichkeit, „die Mama kommt gleich“ durch das halbe Schulgebäude brülle, ist alles gut. Mir werden weder die dritte Person noch die Kosenamen meiner Kinder in der Öffentlichkeit rausrutschen. Aber wenn wir unter uns sind, muss ich vielleicht nicht so streng mit mir sein – der Fellwechsel ist ja auch noch nicht vollständig abgeschlossen.
Und dann schiebt Maya-Papaya der Mama ein Stück Schokolade in den Mund. Selten hat der ein Stück Kinder Bueno so gut geschmeckt.