
Ich brauche keinen Kalender, um zu wissen, wenn die Ferien nahen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit werden nämlich genau in den letzten zwei Wochen davor gefühlt in allen Fächern Arbeiten geschrieben. Sohn Nummer eins ist zehn Jahre alt und in seinem ersten Jahr auf der weiterführenden Schule. Sohn Nummer zwei ist neun und besucht die dritte Klasse der Grundschule in unserem Viertel. Spätestens, also wenn die Termine für die Arbeiten in Deutsch, Mathe, NaWi und Englisch ausgegeben werden, heißt es, sich Gedanken zu machen um die Feriengestaltung.
Nun sind die Osterferien gerade vorbei, aber die nächsten stehen schon wieder an: Mit drei Kindern unterschiedlichen Geschlechts und einem Altersunterschied von sechs Jahren ist das an sich schon eine wahre Herausforderung. Mein Anspruch, den Kindern so viel wie möglich von beiden Kulturen mitzugeben, beschert uns viele Grenzerfahrungen.
Beim Abendbrot – dem Essen, das mir persönlich die größte Toleranz abverlangt, weil es für meinen sudanesischen Magen ein Ding der Unmöglichkeit ist, ein paar belegte Brote als vollwertiges Abendessen zu begreifen (aber das ist sicherlich ein Thema für sich) – werden also die möglichen Optionen besprochen. Im Raum stehen die üblichen Camps: Fußball für Nummer 1 und Klettern für Nummer 2.
Die Camps haben sich in den vergangenen Ferien bewährt und sind logistisch einfach zu handhaben. Die Jungs wünschen sich Chill-Ferien. Ihre nette Umschreibung für mindestens 14 Tage Zocken, im Pyjama -Gammeln und nur in Notfällen (W-Lan fällt aus, die eigene Konsole oder die des besten Freundes ist kaputt) die Wohnung verlassen. Oder – mein Favorit – eine Reise in meine Geburtsstadt Khartum.
Mir ist wichtig, dass meine Oma meine Kinder kennenlernt, dass die Kinder einen Teil ihrer Wurzeln kennenlernen. Zwei Wochen finde ich ein angemessenes Zeitfenster, um sudanesische Luft zu schnuppern, das Essen, die Sprache, die Musik live zu erleben.
Mein Mann freut sich. Wir waren vor etlichen Jahren für ein paar Wochen in meinem anderen Zuhause, wie ich Sudan gerne nenne. Mit den meisten Gepflogenheiten kommt er gut zurecht, kann sogar perfekt mit den Händen essen und dabei – wie es Brauch ist – nur vier Finger schmutzig machen. Die Jungs sind begeistert, endlich lernen sie das Zuhause ihrer sudanesischen Oma kennen.
Sie wissen, wo ihr Papa zur Schule gegangen ist, wo seine Mama eingekauft hat und wo sie Opa kennengelernt hat. Aber im Sudan waren sie noch nie und somit ist die Neugier endlos. Nummer drei – Samra – ist vier Jahre alt und lässt sich von der Energie ihrer Brüder anstecken. Sie freut sich auf das Fliegen und Urlaub, sie versteht, dass es „echt heiß“ und dass es „viele Tiere“ zu sehen geben wird. Vielleicht sogar eine Schlange versprechen ihr ihre Brüder.
Samra erzählt im Morgenkreis im Kindergarten davon, dass sie ihre Uroma im Sudan in Afrika besuchen wird. Sie wisse noch nicht genau, wann, aber sie werde dort bestimmt auch eine Schlange sehen und es sei jetzt schon ganz heißer Sommer dort. Sie kann sich kaum halten vor Freude.
Beim Abholen und dem täglichen „Wie war‘s heute“-Gespräch mit der Fachkraft erfahre ich von Samras Ausführungen. Ich schmunzle und bestätige, dass wir planen, meine Familie im Sudan zu besuchen.
Auch die Jungs haben sich mit ihren Freunden über die Ferien ausgetauscht und berichten von den abenteuerversprechenden Plänen ihrer Klassenkameraden. Max wird mit seinem Vater auf der Lahn Kanu fahren, Stefanie ihre Familie in Hamburg besuchen und Cem fliegt zu seiner Familie in die Türkei und will dort sogar auf ein Spiel von Fenerbahce gehen.
Das nächste Abendessen (diesmal auch für mich richtig, weil es etwas Warmes gibt) bleibt mir aber im Halse stecken. Samra verkündet, sie wolle nicht mehr nach Afrika. „Da kann man gar nicht richtig Urlaub machen, Mama! Es gibt nur Krieg da“, protestiert sie mit großen Augen. „Und auch die Menschen haben alle Hunger da. Da gibt’s nichts zu sehen. Und nix zu essen“, spricht es und leckt ihre von Molokhia verschmierten Finger ab.
Mein Mann und ich werfen uns Blicke zu. Wer antwortet? Wie korrigiert man das ewige Bild vom armen, hungrigen Kontinent, in dem es offenbar keine Länder gibt, aber dafür umso mehr Leid? Ich muss mich zusammenreißen, um die Ignoranz, die irgendeine weiße Person im Kindergarten in den Mund meiner Tochter gelegt hat zu verdauen und sie schnell wieder aus dem Kopf meiner Tochter zu kriegen.
Ich höre meinen Mann mit seiner unerschütterlichen Ruhe antworten: „Samra, schau mal, das Molokhia an deinen Fingern ist aus dem Sudan. Es gibt dort was zu essen. Mach dir keine Sorgen.“ Ich habe meine Gedanken wieder beisammen und kann mich einbringen. „Wer hat denn gesagt, dass man im Sudan nicht Urlaub machen kann?“
„Vincent und Lara!“ kommt es wie aus der Pistole geschossen. Ich gehe im Geiste die Kinder ihrer Gruppe durch, kann mich kaum an Vincent oder Lara erinnern. Wer sind die Eltern? Gleichzeitig frage ich Samra, ob Vincent oder Lara schon mal im Sudan waren und erkläre, dass wir einfach mal die Sudan-Auskennerin Oumah (so nennen unsere Kinder meine Mutter) anrufen und sie fragen, wie es im Sudan ist. Danach könne Samra entscheiden, ob sie mit uns dort Urlaub machen wolle. Samra und meine Mutter haben eine sehr enge Beziehung, Samra fragt sie aus und gibt mir beruhigt das Telefon wieder.
„Oumah hat gesagt, dass es im Sudan im Supermarkt nicht so viel zu kaufen gibt wie in Deutschland, aber es gibt Essen. Wenn es lange nicht geregnet hat, gibt es aber nicht immer alles für alle. Und wo ihre Mama wohnt, ist gar nicht Krieg. Und der Löwe im Zoo ist auch gerettet. Ich fahre mit. Weil es gibt ganz viele Affen, die man sehen kann und ich darf auf einem Kamel reiten, sagt Oumah.“
Ich streichle ihr über den Kopf und erkläre, dass viele Leute den Sudan gar nicht kennen und noch nicht da waren. Und dass wir ganz viel Spaß haben werden mit unseren Verwandten.
Einige Tage später werden wir an der Garderobe des Kindergartens von einer Mutter herzlich begrüßt: „Guten Morgen Samra, Vincent hat erzählt, du fliegst nach Afrika!“ Das ist also Vincents Mama. Ich lächle: „Guten Morgen, wir fliegen in den Sudan, das ist im Osten von Afrika.“
Alles wie immer...
Ich habe für eine Weile in den USA gelebt und sowohl von Kindern, als auch erwachsenen Vincents und Laras in Deutschland und anderswo die schrecklichsten Geschichten über das Land gehört.
Einfach ganz entspannt bleiben.
Schöner Bericht.
" ...irgendeine weiße Person ..."
„die Ignoranz, die irgendeine weiße Person im Kindergarten in den Mund meiner Tochter gelegt hat“
Diese „weiße Person“ ist ein Kind. Kann man Kinder vielleicht einfach als Kinder akzeptieren anstatt sie mit Rassenstereotypen zu verunglimpfen?
Was erzählt wohl ein Kind im Sudan über Deutschland?
Zum Miträtseln
Zitat: “ … die Ignoranz, die irgendeine weiße Person im Kindergarten in den Mund meiner Tochter gelegt hat“.
Von einer bestimmten Aussage kann man also auf „irgendeine“ Person schließen, wobei sofort klar ist, welche Hautfarbe diese Person hat?
Und inwiefern ist bei dieser oder anderen Aussagen die Hautfarbe der sprechenden Person überhaupt irgendwie von Relevanz?
Übrigens bedeutet „jmd. etwas in den Mund legen“ einer anderen Person (fälschlicherweise) eine bestimmte Aussage zu unterstellen. Das ist hier offenbar gar nicht gemeint.
Übrigens nicht die einzigen Rätsel, die dieser Text aufgibt. Ich glaube nämlich auch nicht, dass in Deutschland „Abendbrot“ unbedingt wörtlich zu verstehen ist und der Verzehr anderer Speisen als belegter Brote – etwa: Suppen, Pizza, Döner – durchaus legal ist, aber vielleicht bin ich schlecht informiert.
Danke!
Wie toll, das es jetzt auch eine Autorin mit multikultureller Familie hier gibt! Ich bin selbst Deutsche, mein Mann ist Iraki-Kanadier, und wir leben mit unseren Kindern in den Niederlanden. Mit (positiven und negativen) Stereotypen, Vorbildern und viel Unwissen immer wieder konfrontiert zu werden, gehört also auch für uns zu unserem Alltag, ebenso die familieninternen Herausforderungen, irgendwie alle Kulturen möglichst gleichberechtigt (ist das überhaupt möglich) unter einen Hut zu bringen. Ich freue mich schon sehr, mehr von Ihnen zu lesen!
Zwei Wochen finde ich ein angemessenes Zeitfenster, um sudanesische Luft zu schnuppern, das Essen, d
Es gibt Menschen,
die ihr Leben dort verbringen.
Wie sollen die den Satz verstehen?
Titel eingeben
Der Sudan ist sicher ein sehr schönes Land …. wenn dann
der Südsudan und Dafur endlich den Bürgerkrieg beenden.
Gut das sie offensichtlich in den ruhigen Teil des Sudan fahren. Sie sollten bei Gelegenheit ihre Kinder aber auch über diese Konflikte informieren.
Wohl genau so viel, wie die Afrikaner / Sudanesen über Europa / Deutschland
Noch ein Artikel, in dem sich über die ach so ignorante Haltung der weißen Deutschen betreffend Afrika bzw. eines afrikanischen Landes mokiert wird. Dazu mal zwei Anmerkungen: 1. Wenn in deutschsprachigen Medien über den Sudan berichtet wird, worum geht es dann? Zumeist um den Bürgerkrieg, unterfüttert mit Bildern von ausgemergelten Menschen auf der Flucht vor armseligen Hütten. Die von Vincent und Lara oder vielmehr deren Eltern geäußerten Assoziationen spiegeln daher nur das wider, was aufgrund der normalen Befassung mit dem Thema geläufig ist. 2. Wie ist es denn umgekehrt um das Bild der Afrikaner oder Sudanesen von Europa oder Deutschland bestellt? Gibt es dort etwa keine falschen Vorstellungen, Klischees oder Vorurteile über Europäer und Deutsche?
Fazit: Nicht jedes Vorurteil, welches einem begegnet, ist der Rede wert – und schon gar keines Artikels in der FAZ.
Sudan, das ist im Osten von Afrika.
Das war ein geschickter kleiner Tritt gegen das Schienbein von Vincents Mutter, die von Afrika vielleicht kaum mehr weiß, als Samra oder … ich.
Ich stelle es mir unheimlich spannend vor, dieses für die meisten so fremde Land (oder wenigstens einen Teil davon), seine Kultur, seine Eigenheiten nahe gebracht zu bekommen von jemandem, der dort sein „anderes Zuhause“ hat. Nur dann, nicht durch das Fenster des Touristenbusses oder aus dem Safari-Jeep heraus, wird man nicht nur die Schönheiten eines Landes erkennen, sondern auch Respekt bekommen für die Art und Weise, wie die dortigen Menschen ihre, uns unbekannten Schwierigkeiten, an denen wir scheitern würden, meistern.
Ich danke Frau Nebel für diese sympathische kleine Erzählung.
Kinder sind konservativ
Fahren/Fliegen Sie einfach hin! Was kümmert Sie die begrenzte Sicht anderer Eltern? Zeigen Sie ihren Kindern, dass die Welt hinter dem Ortschild nicht endet. Fragen Sie sie hinterher wie es ihnen gefallen hast, nicht vorher.
Exotik
Vielen Dank für den schönen Artikel – naja, soweit sich bei dem Thema von schön reden lässt. Kenntnisschwach und meinungsstark sind eine unselige und weit verbreitete Kombination. Ignoranz kommt in solchen Fällen gerne im Gewand des Wohlwollens einher.
Ich fühle mit Ihnen, wir sind ein deutsch-chinesisches Paar mit zwei Kindern, die aber beide schon mehrmals die Familie in Peking besucht haben. Und ich möchte auch mitunter herzhaft in den Tisch beißen wenn manche Mustergermanen in größter Unschuld Fragen stellen oder Bemerkungen machen, die von Ahnungslosigkeit und Ignoranz zeugen.