Schlaflos

Schlaflos

Das Familienblog der F.A.Z.

Eine Nacht im Kinderheim

Neulich haben uns unsere Kinder wieder einmal zur Weißglut gebracht. Das Übliche: Zimmer nicht aufgeräumt, Teller nicht in die Spüle gebracht, das Zu-Bett-Gehen in die Länge gezogen. Alles trotz mehrfacher Aufforderung und mit ewig langen Diskussionen. Es sind immer die gleichen Kämpfe, für die ich manchmal keine Kraft und auch keine Geduld habe. Es ärgert mich, dass ich sie ständig austragen muss, wo es einer Sieben- und erst recht einem Neunjährigen doch inzwischen klar sein sollte, wieviel einfacher unser Leben wäre, wenn sie sich an ein paar Regeln halten würden.

Als sie irgendwann schliefen, saß ich frustriert im Sessel. Unseren Kindern geht es zu gut, dachte ich. Im Grunde haben und bekommen sie alles, was sie wollen: Liebe und Aufmerksamkeit, Fernsehen und Süßigkeiten – letzteres in Maßen natürlich, aber es gibt wirklich wenige Dinge, die wir verbieten. Trotzdem halten sie sich nicht an einfache Absprachen. Sie brauchen Grenzen, sie müssen verstehen, wie gut sie es im Vergleich zu anderen haben. „Eine Nacht im Kinderheim“, dachte ich, „das würde helfen.“

Anfang der Achtzigerjahre bin ich mit meinen Eltern in ein Einfamilienhaus gezogen. Die Straße war ruhig, eine Sackgasse mit einem Wendehammer. Wir wohnten direkt neben einem Kinderheim. Keines dieser Kurheime, in denen Kinder aus dem Ruhrgebiet vier Wochen lang untergebracht wurden, um endlich einmal „gute“ Luft zu atmen, sondern ein richtiges Kinderheim. Hier lebten Kinder und Jugendliche, deren Eltern nichts von ihnen wissen wollten, gestorben waren, oder vor denen sie hatten in Sicherheit gebracht werden müssen.

In der Vorschule war ein Mädchen aus diesem Kinderheim in meiner Gruppe. Die Haut an einem ihrer Arme bestand im Grunde aus einer einzigen, riesigen Narbe. Sie sagte uns, sie habe als Kleinkind einen Topf mit kochendem Wasser vom Herd gezogen. Später erfuhren wir, was wirklich passiert war. Man kann es sich nicht vorstellen. Irgendwann, noch vor der Einschulung, war das Mädchen verschwunden. Sie sei in eine Familie gekommen, hieß es.

In unserer neuen Umgebung waren meine Schwester und ich natürlich neugierig auf die vielen Kinder, die nebenan unter einem großen Dach wohnten. Die Bewohner waren zwischen vier und neunzehn Jahren alt. Ich freundete mich mit einem Jungen an, Hans-Peter. Er war zwei Jahre älter als ich, wir gingen aber trotzdem in dieselbe Klasse. Morgens liefen alle Kinder aus der Straße, die meisten aus dem Heim, gemeinsam zur Grundschule. Zehn, zwölf Leute waren wir, zwischen sechs und elf Jahren alt.

Wenn unsere Eltern ausgingen, passten unterschiedliche ältere Mädchen aus dem Kinderheim auf uns auf. Allesamt Teenager kurz vor der Volljährigkeit, die etwas Taschengeld verdienen wollten. Das war immer toll. Es gab Chips und Fanta, wir spielten irgendetwas und durften länger aufbleiben. Es waren gute Abende.

Einmal haben meine Schwester und ich sogar in dem Kinderheim übernachtet. Es war an Silvester, offenbar fand sich niemand zum Babysitten. Wir waren etwa sieben und zehn Jahre alt, wie meine Kinder heute.

Die Heimbewohner bekamen erst eigene Zimmer, wenn sie älter wurden, wenn ich mich richtig erinnere. Etwa mit dem Erreichen der Pubertät. Vorher schliefen sie zu dritt oder zu viert in einem Raum. So wurden auch meine Schwester und ich zusammen mit zwei anderen Kindern untergebracht. Zur Begrüßung gab mir Ralf, ein kleiner, schmächtiger Junge mit einem Sprachfehler, unvermittelt eine Ohrfeige. Einfach so. Ich kannte Ralf vom Spielen auf der Straße. Er ging nicht auf die Grund-, sondern zur „Sonderschule“, wie damals alle sagten. Ralf glich fehlende Größe und sein sprachliches Handicap mit Lautstärke und Entschlossenheit aus. Körperlich war ich ihm überlegen, aber die Ohrfeige kam aus dem Nichts und hatte mich erschreckt. Im Rückblick ist mir klar, dass er sein Revier verteidigen oder markieren wollte. Im Sinne von: Da draußen ist eine Welt, aber hier im Heim gelten andere Regeln.

Das wurde im Laufe des Abends deutlich. Alle Kinder buhlten um die Gunst beziehungsweise die Aufmerksamkeit der Erzieherinnen. Es wurde gepetzt, geschlagen, hinterhältig gekniffen, markiert oder einfach provoziert. Wenn einer etwas Tolles gemacht hatte – Hans-Peter konnte sehr gut mit Lego bauen –, machte es ein anderer kaputt. Tränen, Wut, Frust, Grausamkeit.

Irgendwann später am Abend kam die Rache. Es gab ewige Opfer und raffinierte Täter. Jeder kämpfte auf seine Weise um ein bisschen Platz in dieser Zweckgemeinschaft. Die Erzieherinnen waren zu meiner Schwester und mir freundlich, aber sehr streng zu den Kindern. Sie setzten Ermahnungen, Drohungen und viele böse Blicke ein. Und im Rückblick fehlten vor allem Zuneigung und Liebe. Es gab aufmunternde Worte und Trost, aber keine Umarmung oder kein Streicheln.

Den Erzieherinnen kann man sicher kaum einen Vorwurf machen. Sie haben die Kinder versorgt, mit ihnen gelernt, gespielt und mit dem, was sie zur Verfügung hatten, versucht, sie auf den Weg für das Leben zu bringen. Aber sie haben sich auch einen emotionalen Schutzpanzer zugelegt, möglicherweise, weil sie die Geschichten der Kinder kannten und das nur mit äußerlicher Härte verbergen konnten. Und ganz sicher, wieder ohne Vorwurf, war auch Überforderung mit den vielen Kindern im Spiel.

Ich kann mich an den Geruch in dem Heim erinnern. Wahrscheinlich ein Waschmittel oder ein Reiniger. Wirklich alles roch danach, die Räume, die Betten, die Kinder. Süß und herb und irgendwie chemisch lag er in der Luft, als wollte er etwas verdecken. Niemals werde ich ihn vergessen.

An die Nacht in dem Kinderheim habe ich keine Erinnerung, wohl aber an den Morgen. Ralf weckte meine Schwester mit einer Ohrfeige. Nach dem Frühstück holten unsere Eltern uns ab. Danach spielten wir den ganzen Tag in unseren Zimmern, sprachen aber nicht mehr über die Übernachtung. Ich weiß noch, wie ich mit den Playmobil-Cowboys auf Bärenjagd ging und einfach glücklich war, dass das alles allein mein Spielzeug war und mir niemand etwas wegnahm.

Meine Schwester und ich haben einen dieser Tage miterlebt. Für die Bewohner gab es davon 365 im Jahr, über viele Jahre hinweg. Es muss unglaublich hart gewesen sein, in diesem unendlichen Kampf groß zu werden, mit anderen Kindern eng zusammenzuleben, die aber nicht Schwester und nicht Bruder sind, sondern ewige Widersacher. Freundschaften gab es, so viel ich mich erinnere, kaum unter den Bewohnern. Jeder versuchte, sein eigenes kleines Feld zu erobern.  

Das Kinderheim gibt es schon lange nicht mehr. Einige der ehemaligen Bewohner leben noch in der Gegend. Ein paar haben eigene Familien. Manchmal treffe ich jemanden, und wir unterhalten uns oberflächlich. Den Kontakt zu Hans-Peter habe ich schon vor Jahrzehnten verloren. Nach der Orientierungsstufe trennten sich unsere Wege allmählich. Ich weiß noch, dass ich ihn irgendwann besuchte, als er im Heim sein eigenes Zimmer hatte und die Pet Shop Boys und Tears for Fears liebte. Die Kassetten waren sein ganzer Stolz. Um seinem Rekorder hatte er einen bunten Panzer aus Legosteinen gebaut.

Ich bin dankbar, diese Kinder und dieses Kinderheim erlebt zu haben. Unsere Eltern haben sich damals, Anfang der Achtziger, wenig Gedanken gemacht. Es war eine pragmatische Lösung. Sie wollten ausgehen, da konnten sie ihre Kinder für eine Nacht unterbringen, also haben sie das gemacht. Ein weiteres Mal stand nie zur Debatte. Ich vermute, dass wir ihnen irgendwann doch von unseren Heimerlebnissen erzählt haben.

Was wir damals erlebt haben, war ein ungewolltes Experiment, das unsere Eltern sicher nicht im Sinn hatten. Heutige Elterngenerationen würden sicherlich vorher hinterfragen, ob ihre Lust auszugehen unser Erlebnis rechtfertigen würde. Im Rückblick fühlt es sich an wie ein Zoobesuch, bei dem wir die Perspektive des Tieres erlebten und der mit der Botschaft verbunden war: So willst du doch nicht leben, Kind!

Die Realität der Kinder in dem Heim war hart und beschwerlich, karg an positiven Erlebnissen und voller Entbehrungen und Enttäuschungen. Niemand hat das Recht, aus ihrer Notlage einen Nutzen zu ziehen. Wenn ich aber das unbeschwerte Leben meiner Kinder sehe, in dem Härten und Entbehrungen so gar nicht vorkommen, denke ich manchmal, so eine Nacht zu erleben, wie sie benachteiligte Jugendliche immer erleben müssen, täte ihnen für einen realistischen Blick auf die Welt ganz gut.