Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

„Papa, du schimpfst schon wieder!“

Corona hat in der Beziehung zwischen mir und meinem Sohn Spuren hinterlassen. Da bin ich mir sicher. Long Covid auf Beziehungsebene.

Es geht nicht um die Krankheit selbst. Die hatten wir beide zu unterschiedlichen Zeiten. Es geht um die endlosen Monate zuhause. Er im Homeschooling, ich im Homeoffice. Jeder für sich in seiner eigenen Isolation, aber gleichzeitig dazu verdammt, in dieser Symbiose zu funktionieren. Tag für Tag Mathe, Deutsch, Sachkunde. Jeden Morgen ein Wald an Arbeitsblättern, jedes für sich eine Zerreißprobe in A4 für unser Verhältnis. Wir haben ihm das Einmaleins beigebracht und zusammen seinen Füllerführerschein gemacht. Unterbrochen von Zoom-Calls einmal pro Woche, in denen 25 Kinderaugenpaare aus blassen Gesichtern eine Schulstunde lang den blechernen Worten ihrer Lehrerin lauschten, die die Knirpse bemüht zum Durchhalten animierte.

In dieser endlosen Zeit sind Theo und ich bei den Schulaufgaben oft aneinandergeraten. Er hatte etwas nicht verstanden, eine Aufgabe anders gesehen, und ich war oft zu ungeduldig, zu schnell und habe zu viel erwartet. Und ich war noch mehr als er gefrustet, weil ich aus dieser Täglich-grüßt-das-Murmeltier-Spirale keinen Ausweg sah.

Irgendwie hat es natürlich geklappt. Wir sind da rausgekommen, wie jeder, warum auch nicht? Aber es hat Spuren hinterlassen.

Theo wird bald zehn und geht seit dem Sommer aufs Gymnasium. Bis jetzt läuft es ganz gut, es gibt wirklich nichts zu meckern. Zwar hat er auch schon eine Vier mit nach Hause gebracht, aber im Grunde sind seine Leistungen gut. Er hat Spaß an der Schule, ist motiviert und hat in den meisten Fächern Lust, etwas zu lernen.

Fünftklässler in einem Gymnasium in Baden-Württemberg
Fünftklässler in einem Gymnasium in Baden-Württemberg

Neulich kam er zu mir und sagte: „Papa, ich möchte nach den Hausaufgaben jeden Tag ein Fach für den nächsten Tag üben. Eine Viertelstunde oder so. Wollen wir das machen?“ Mein Herz machte einen Hüpfer. „Aber klar machen wir das! Sehr gerne, Theo!“ Kann man sich als Elternteil mehr wünschen als ein Kind, das mit einem solchen Vorschlag um die Ecke kommt?

Vergangene Woche starteten wir mit Mathe. Noch bevor wir loslegten, fiel mir auf, dass Theo mit dem Filzstift seines Tintenkillers schrieb. „Wo ist denn dein Füller?“ fragte ich schon etwas ungeduldig. Theo geht mit seinen Arbeitsutensilien nicht sehr pfleglich um. „Ist der kaputt? Das musst du mir doch sagen!“ „Nein, der ist hier“, antwortete er mir und öffnete sein Etui. „Aber lass mich doch mit dem Killer schreiben.“ „Na gut“, dachte ich. Darauf kommt es jetzt nicht an.

Dann widmeten wir uns der Mathematik. Es ging um Multiplikationsregeln: Eine Zahl ist durch drei teilbar, wenn auch ihre Quersumme durch drei teilbar ist. Beispiel ist die 12. Wenn man die Ziffern Eins und Zwei addiert, kommt drei raus. Die Regel gilt auch für die Neun. Da muss die Quersumme halt neun ergeben. Für andere Zahlen, die Vier, die Acht, die Fünf, gelten andere Regeln.

Ich erinnerte mich an meinen Matheunterricht beim alten Herrn Wohlfahrt in der Orientierungsstufe (die es in Achtzigern in Niedersachsen noch gab) und war sofort Feuer und Flamme. Diese Regeln hatte ich begeistert angewandt.

Theo hatte sie sich zwar notiert, sie aber noch nicht verinnerlicht, was ich schnell merkte: „Das ist doch ganz einfach: Du musst es so und so machen“, sagte ich. „Ist ja gut, Papa, ich versuche das jetzt erstmal.“

Dann wollte er die Quersummen-Regel bei der Vier anwenden. „Das kannst du nicht machen, bei der Vier geht das mit der Quersumme nicht“, belehrte ich ihn, griff seinen Stift und verbesserte seine Rechnung. „Papa, du machst es schon wieder! Du wirst laut und setzt mich unter Druck! Das macht keinen Spaß.“

Ich empfand das selbst gar nicht so extrem. Aber Theos Wahrnehmung war halt eine andere und drauf kommt es an.

Wir machten weiter. Ich fand, dass er die Regeln gut anwendete, aber es war kein Zusammen. Er rechnete, ich schaute ihm über die Schulter. Hinterher sagte er, er habe Angst, etwas falsch zu machen, weil ich dann sauer werden könnte. Oh Gott, der Arme, dachte ich. Das war natürlich das Gegenteil von dem, was wir beide erwartet hatten. Frustriert gingen wir auseinander. Ich dachte an die Homeschooling-Zeit und seufzte.

Am gleichen Abend traf ich mich mit einem Freund, dessen Kind in Theos Parallelklasse geht. Ich erzählte ihm von unserer Auseinandersetzung und unserem Frust. „Genau zu dem Thema habe ich gerade einen Online-Vortrag gehört“, antwortete er. Dann berichtete er begeistert. Der Vortragende habe wohl schon Fußballproficlubs gecoacht. Sein Credo: Keinen Druck aufbauen. Die Kinder gar nicht erst mit der unvermeidlichen Frage nerven: „Wie war es in der Schule?“ Außer dem üblichen „Gut“ kommt da eh nichts zurück. Stattdessen sollten Eltern den Kindern einfach von eigenen Erlebnissen berichten, sich normal unterhalten und die Schule außen vorlassen. Wenn die Kinder wollten, so der Coach, fingen sie schon von alleine an zu erzählen. Wieder seufzte ich. Offenbar mache ich alles falsch.

Jetzt war mein Freund in Fahrt. Er berichtete weiter von dem Coach, der an einem Strand mal einen Vater und seinen Sohn (etwa acht Jahre alt) beim Bauen einer Sandburg beobachtet hatte. Beide waren mit vollem Eifer dabei. Es wurde eine große Burg, mit Wassergraben, mit Muscheln verzierten Gebäuden und Etagen.

Als sie fertig waren, wollte die Mutter das Kunstwerk für die Ewigkeit festhalten. Vater und Sohn posierten neben der Burg und blickten in die Kamera. In diesem Moment ließ sich der Junge nach vorne fallen und zerstörte die komplette Burg. Der Vater war stinksauer, weil er glaubte, umsonst geschuftet zu haben.  

Laut dem Coach hatten die beiden beim Bauen aus völlig unterschiedlichen Beweggründen ins Zeug gelegt. Während der Vater die tollste Burg der Welt bauen wollte, war dem Jungen der Prozess das Entscheidende. Das gemeinsame Bauen mit seinem Papa war ihm am wichtigsten. Der Vater war ergebnisorientiert, der Sohn erlebnisorientiert. Das sollten sich Eltern auch in der Schule klarmachen, so der Coach: Natürlich sollen und müssen Kinder lernen. Aber eben mit größtmöglicher Freude, aus eigenem Interesse und nicht, weil Vater und Mutter das wollen, und noch weniger, um die Eltern glücklich zu machen. An diesem Abend ging ich sehr nachdenklich ins Bett.

Ich fürchte, es wird dauern, bis Theo und ich das so umsetzen können. Wir triggern uns – dank unserer Corona-Vergangenheit – ruckzuck gegenseitig. Ein falsches Wort, eine zu fordernde Aussprache kann die Harmonie schnell ins Wanken bringen. Aber ich werde mir Mühe geben. Schließlich ist er auf mich zugekommen und hat mich gefragt, ob ich ihn unterstütze. Er verbringt gerne Zeit mit mir. Heute Abend haben wir Deutsch gemacht, die Konjugation von Verben. Nach einem stotternden Start hatte er es drauf. Erste Person Singular im Präsens von „spielen“. Erste Person plural im Präteritum von „lernen“ …