Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Eine Schulform als Ausgrenzungsinstrument

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Der Comedian Felix Lobrecht ist zurzeit in aller Munde. Sein Roman „Sonne und Beton“ wurde verfilmt und läuft in den Kinos. Er erzählt die Geschichte eines Jungen, der in der Gropiusstadt im Berliner Bezirk Neukölln aufwächst. Sein Alltag wird von Gewalt, Ablehnung, Drogen und einer lähmenden Perspektivlosigkeit bestimmt. Nur wer hart ist, wer Nehmerqualitäten hat, scheint sich seinen Platz in diesem Milieu sichern zu können. Auch wenn die Geschichte fiktiv ist, zeichnet Lobrecht darin das Bild seiner eigenen Jugend in dem „Problembezirk“.

Lobrecht selbst hat es geschafft. Er ist mit seiner Kunst, mit seinen Bühnen-Shows, so erfolgreich, dass er sich leisten könnte, überall auf der Welt leben zu können. Er wohnt aber weiter in Berlin – nicht mehr in den Hochhäuserschluchten der Gropiusstadt, aber mitten in einem anderen Brennpunkt der Hauptstadt, am Kottbusser Tor in Kreuzberg. Anders als die meisten anderen Menschen, die sich aus der Armut herausgekämpft haben, ist ihm seine Vergangenheit weder peinlich noch gleichgültig. Lobrecht ist sich seiner Herkunft bewusst, und er geht damit offensiv in die Öffentlichkeit. Damit ist der 34-jährige Kindern eine Stimme, die aufwachsen, wie er selbst aufgewachsen ist. Und nicht nur das: Er macht konstruktive, radikale Änderungsvorschläge.

Felix Lobrecht (l.) mit den Schauspielern Vincent Wiemer und Aaron Maldonado-Morales Mitte Februar 2023 beim Fototermin für "Sonne und Beton" auf der Berlinale
Felix Lobrecht (l.) mit den Schauspielern Vincent Wiemer und Aaron Maldonado-Morales Mitte Februar 2023 beim Fototermin für „Sonne und Beton“ auf der Berlinale

In seinem Podcast „Gemischtes Hack“ mit dem Moderator und Autor Tommi Schmitt hat Lobrecht kürzlich gefordert, Gymnasien abzuschaffen. „Es gibt keinen Grund dafür, warum es Gymnasien gibt. Gymnasien dienen einzig und allein der Abgrenzung nach unten“, sagte er. Das ist mehr als bloße Provokation. Für Lobrecht verhindert die Schulform Gymnasium den Austausch zwischen Kindern aus unterschiedlichen sozialen Schichten. Deshalb plädiert er für eine Gesamtschule für alle Schüler. Sie sollen gemeinsam in einem Klassenverband sitzen, während einzelne Fächer je nach Begabung und Stärke in unterschiedlichen Kursen unterrichtet werden. Dieses Schulmodell, da ist er sich sicher, würde positive Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft haben.

Lobrecht kennt beides: Auf seinem Gymnasium war er das einzige Kind in der Klasse, das Lernmittelhilfe bekommen hat. Das war für ihn, so sagt er, ein einschneidendes Erlebnis. Wie er erzählt, ist ihm in diesem Moment zum ersten Mal vor Augen geführt geworden, dass er arm ist. Nach kurzer Zeit flog er wegen auffälligen Benehmens von der Schule und fand sich auf einer Gesamtschule wieder. Hier machten die Lehrer ihm und seinen Mitschülern täglich klar, dass sie Verlierer sind und im Leben nicht viel erreichen werden. 

Die Idee mit den Gesamtschulen ist nicht neu. Allerdings hat mich diese radikale Forderung ins Grübeln gebracht. Ist das Gymnasium zeitgemäß? Ist es so elitär wie Lobrecht sagt? In meiner Familie war ich der Erste, der aufs Gymnasium ging. Für meine Eltern und ihre Geschwister war es im Nachkriegsdeutschland und im ländlichen Niedersachsen einfach nicht drin. Ganz ehrlich, ich war damals sehr stolz, und meine Eltern waren es mit mir. Im Rückblick kann ich schwer beurteilen, ob eine andere Schulform möglicherweise besser gewesen wäre. Allerdings kann ich mich an einen Vorfall erinnern. Als frischgebackener Gymnasiast habe ich einmal meinen alten Klassenlehrer aus der Orientierungsstufe besucht. Die war in einem Schulzentrum mit Haupt- und Realschule. In der großen Pause stand ich allein auf dem Hof. Plötzlich kam ein Hauptschüler ohne Grund auf mich zu und drohte: „Du Gymi-Schwein, ich hau dir eine rein.“ Irgendwie bin ich aus der Situation herausgekommen, ohne Prügel zu kassieren. Dieses Erlebnis zeigt: Es gab ein unterschiedliches Klassen-Bewusstsein zwischen den Schulformen – bei dem Hauptschüler und ehrlicherweise auch bei mir.

Unser Sohn Theo (10) ist seit dem Sommer auf einem Gymnasium. Meiner Frau und mir war es wichtig, dass er das schafft. Nach unserem Selbstverständnis sollte unser Kind aufs Gymnasium gehen. Nach einem halben Jahr habe ich meine Meinung geändert. Theo geht für sich selbst zur Schule und nicht für irgendein krummes Elitenbewusstsein seiner Eltern. Klar soll er so viel möglich lernen. Aber vor allem soll er gerne in die Schule gehen und Spaß haben. Das Gymnasium in Bayern hat sich im ersten halben Jahr exakt als die harte Nuss erwiesen, als die es immer bezeichnet wird. Der Stoff ist umfangreich und anspruchsvoll. Die Lehrer bewerten die Klassenarbeiten sehr streng. Das ist halt so auf einem Gymnasium, könnte man sagen. Da wird ausgesiebt, „nur die Harten kommen in den Garten“. Aber warum muss das so sein? Und warum muten Eltern ihren Kindern das zu?

Das ist eine Frage, die ich nicht nur mit meiner Frau, sondern regelmäßig auch mit anderen Eltern diskutiere. Erst kürzlich habe ich mit der Mutter eines von Theos Freunden gesprochen. Der Junge geht in die Parallelklasse. Sie beklagte die strenge Benotung der Englischlehrer. „Die geben schon ab sechzig Prozent eine Fünf. An anderen Schulen machen die das erst ab fünfzig Prozent. Warum machen die Lehrer so einen Druck?“ Die Frau weiß, wovon sie spricht. Sie ist Mathe- und Physiklehrerin – an einem Gymnasium in der Nachbarstadt, an dem offensichtlich weniger streng benotet wird. Auch Theo hat in Englisch schlechte Noten mit nach Hause gebracht. Wir haben Sorge, dass er deshalb die Motivation für die Fremdsprache verliert. Das wäre ungünstig. In der sechsten Klasse kommt Französisch dazu.

Zurück zu der Mathe lehrenden Mutter. Sie und ihr Mann, auch er Akademiker, fragen sich, ob sie ihrem Sohn das Schulleben nicht leichter machen können. „Warum muss der Junge sein Abitur am Gymnasium machen? Es gibt leichtere Wege. Was hat er davon?“ Letztlich, so argumentieren sie, zählt am Ende nur der Notendurchschnitt, um einen Studienplatz zu ergattern. Den Universitäten sei es im Zweifel Wurscht, ob ihre Studierenden ihr Abitur in Bayern oder Bremen gemacht hätten. Hauptsache, die Durchschnittsnote passt. Das ist sicher ein Punkt. Die Gruppe „Pro-Gymnasium“ würde hier argumentieren, dass der Stoff an ihrer Schule anspruchsvoller sei. Aber stimmt das?

Neulich bekam ich ein Gespräch zwischen Theo und einem anderen Freund mit. Der Junge ist Fünftklässler an der Realschule in unserer Stadt. Theo erzählte ihm, dass er am nächsten Tag Mathe, Sport und Deutsch habe, und nach den Fächern seines Kumpels. „Ach, nichts Besonderes,“ antworte der Junge. „Zuerst lernen wir mit zehn Fingern zu tippen, und anschließend haben wir Informatik. Da lernen wir programmieren.“ Ich dachte daran, dass Theo in Deutsch gerade Reizwort-Geschichten übte, und musste etwas schlucken. Der Vater dieses Jungen ist übrigens Realschullehrer. Er hat noch einen Sohn. Für ihn stand das Gymnasium nie zur Debatte: „Die beiden haben einen riesigen Bewegungsdrang. Die lass ich lieber Sport machen, anstatt stundenlang zu büffeln. Davon haben sie mehr.“ 

Die Diskussion, ob Gymnasien zu elitär oder noch zeitgemäß sind, wird noch lange geführt werden. Vielen Leuten stellt sie sich sicher gar nicht. So oder so: Gymnasien werden weiter bestehen, dafür sorgen die Eliten schon selbst, nämlich Eltern wie wir. Es kann aber sicher nicht schaden, sich der Frage mal offen zu stellen. Vielleicht spielt der wachsende Lehrermangel irgendwann eine Rolle. Laut dem Leiter unseres Gymnasiums ist das ein ernstes Problem: Er sagt, seine Schule tue sich schwer, neue Lehrer anzuwerben – trotz bester Ausstattung und üppiger finanzieller Möglichkeiten. Der Kampf zwischen den Gymnasien sei hart. Zum Halbjahreswechsel haben sich vier Lehrer von Theos Klasse verabschiedet. Eine zieht zu ihrem Mann, ein Lehrer wechselt die Schule, eine bekommt ein Kind, und eine geht in Pension. Noch fühlt sich Theo wohl in seiner Schule. Solange das so bleibt, passt das für uns.

Beim Comedian Felix Lobrecht spielt der Frust über seine negativen Erfahrungen mit dem Gymnasium bei seinem Urteil sicher eine Rolle. Ich kann mir gut vorstellen, dass mir der 13-jährige Felix Lobrecht Schläge angedroht hätte, wenn ich ihm als gleichaltriger Gymnasiast auf dem Hof seiner Gesamtschule über den Weg gelaufen wäre. Dass er als Kind aggressiv war, um sich in seinem Gropiusstadt-Milieu zu behaupten, erzählt nicht nur Lobrechts Buch. Darüber spricht er ganz offen, etwa wenn er bei der „Sternstunde Philosophie“ im Schweizer Fernsehen zu Gast ist. Sein Abitur hat der Comedian im Übrigen mehr oder weniger autodidaktisch per Nichtschülerprüfung nachgeholt. Anschließend studierte er Politikwissenschaften und VWL in Marburg, währenddessen startete er seine Comedy-Karriere.


35 Lesermeinungen

  1. Illusionmaker sagt:

    Keine Schulform muss abgeschafft werden,...
    …vielmehr müssen die bestehenden mit mehr Nachdruck durchgesetzt werden!

    Was bringt es, wenn jeder nur mittelmäßig Begabte auf das Gymnasium gehen kann; Gefälligkeitsnoten sei dank? Erst DAS entwertet Haupt- und Realschule! Es ist nicht das vermittelte Wissen sondern der vermittelte Gedanke, dass alles unter einem Abitur heute nichts mehr bedeutet.

    Die Hauptschule sollten die besuchen, die, aus welchen Gründen auch immer, nicht für die Realschule geeignet sind und sei es eine geringere Intelligenz – ja, so etwas existiert. Die Realschule sollten die meisten Schüler besuchen, eben der „Durchschnitt“. Gymnasium ist für die, die wirklich besser sind als die Vorgenannten.

    Wenn auch einem guten Hauptschulabschluss mit gesellschaftlicher Akzeptanz und Achtung begegnet wird, das „nur“ zu einem „hat“ wird, dann lösen sich andere Spannungen schnell auf.

  2. BGrabe02 sagt:

    Mit dem Wegfall des Gymnasiums wird nichts besser, aber Vieles noch schlechter
    Tatsächlich gab es nach dem Bildungsrefomen Anfang der 70ziger eine kurzes Zeitfenster, in dem es fast allen Schichten möglich war eine Gymnasium zu besuchen sofern ausreichende Begabung vorhanden war.
    Als Zutrittshürde erweisen sich aber vorher wie nachher die Sozialisierungsunterschiede in den Gesellschaftschichten, die teilweise nach wie vor Voraussetzung für Bildungserfolge ab einem gewissen Niveau sind, und die Schulen organisatorisch und personell nie ausgleichen konnten.
    Im Gegenteil nahm im Laufe der Zeit diese fehlende Ausgleichsfähigkeit wieder zu. Zum einen durch zunehmende soziale Verwahrlosung nicht nur der Unterschichten, zum anderen durch die beständige Sparpolitik im Bildungswesen, die weit mehr Schaden angerichtet hat, als sämtliche Schulrefomen auch nur theoretisch an Erfolg hätten erzielen können.
    Eine Abschaffung des Gymnasiums würde die Bildungsspaltung nur weiter erhöhen. Im Grunde wäre das nur eine fortsetzung einer bereits auf ganzer Linie geschei

  3. heirei sagt:

    Anspruch und Wirklichkeit
    Sehr gut, dass auch hier nun einmal endlich die Bestandspflicht des Gymnasiums infrage gestellt wird. Es ist ein deutschsprachiges Unikat welches die junge Gesellschaft im weltweitenvergleich immer noch an das Ende des 19., Anfang 20 Jh. in Sachen Bildungschancen kettet.
    Die Einschläge des Versagens des deutschen Schulsystems in seinen 16 Teilen werden in den letzten Jahren immer deutlicher, eine ideologische Debatte wird aber dessen Reform wohl noch auf Jahre verhindern. Gesamtschule ist fast weltweit Standard..
    Schön wäre es doch den Anspruch, den wir an unser Bildungssystem haben, endlich einmal in die Wirklichkeit zu bringen!

  4. BGrabe02 sagt:

    elitäre Arroganz und Ausgrenzung
    ist keine Frage der Schulform, sondern des Statusdenkens innerhalb der sozialen Interaktion einer Gesellschaft.
    Ich z.B. auf eine katholische Internat und Gymnasium geschickt worden als Arbeiterkind aus Bochum im Ruhrpott, weil auf den heimischen besseren Gymnasien die Ausgrenzung drohte.
    Natürlich gab es auch katholische Schulen die sich elitär aufgrund von Status und nicht Leistung verhielten, meine Schule gehörte allerdings nicht dazu.
    Es ist eine Frage der Einstellung von Personal und Umfeld und das hat sich aufgrund des laissez faire gegenüber Ausfälligkeiten und rücksichtslosem Ehrgeiz deutlich verschlechtert in der bürgerlichen Klientel.
    Und das behebt man nicht durch Abschaffung einer Schulform.
    Vorstellen könnte ich mir eher auf das alte Volksschulsystem wieder zurückzugreifen, das bis zum Abschluss des niedrigsten Schulabschlusses gemeinsam unterrichtete und erst dann Mittelschüler und Gymnasiasten auf eigene Einrichtungen schickte.

  5. Wadel sagt:

    Elitär?
    Bei Übergangsquoten von mehr als 50% in Städten, wird man kaum vom „elitären“ Charkter des Gymnasiums sprechen können.
    Und dass eine Lehrkraft schon ab 60% eine 5 gibt, dürfte in Hessen nicht möglich sein. Dort liegt landesweit die Latte niedriger.

    • mikefromffm sagt:

      Interessant ...
      … ab wann gibt es denn in Hessen ein 5? Hast du Informationen oder nur Vorurteile? Ach so, da gibt es ja gar keine landesweite Verordnung, sondern nur deine Vorurteile.

    • BGrabe02 sagt:

      elitäre arroganz
      bedeutet nicht, das es sich um Elite handelt, nur das sich die Klientel für Elite hält und entsprechend auf die Schüler anderer Schulformen herabsieht.
      Ich weis wovon ich spreche weil ich einen Sohn am Gymnasium hatte und einen anderen auf der Hauptschule, wobei mein gymnasialer Sohn schockiert war, wie seine Mitschüler mit Hauptschülern umgingen.
      Und selbst meine Tochter auf dem Gymnasium für eine Freundschaft nicht gut genug war, weil sie den Leistungsansprüchen der Eltern einer mittelbegabten Schülerin nicht entsprach und somit nicht nützlich war.
      Es gibt wirklich eine versnobte bürgerliche Klientel die sich so aufführt und gar nicht so klein ist.

    • Wadel sagt:

      Hessen
      In der gymnasialen Oberstufe ab 45% eine 4.
      Die Mittelstufen haben sich daran zu orientieren.

  6. Benjamid sagt:

    schon
    Also, das Gymnasium kann abgeschafft werden, denn es gibt ja für leistungsstarke Schüler ein breit aufgestelltes System von Privatschulen, dass sich, denn der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, die Eltern solcher im Normalfall ja auch leisten können.

  7. hespagorat sagt:

    Save space für Lernwillige
    Welches Land benötigt keine Eliten? Ich bevorzuge das Schweizer Modell der Matura.

  8. CKirsten1971 sagt:

    Gymnasium weg!
    Ganz tolle Idee. Alles gleichmachen wie im Sozialismus. Leistung ist egal. Wir segeln im Einheitsbrei und keiner strengt sich mehr an.

    Die Geschichte, dass man von unten nicht nach oben kann, ist m. E. ein Witz. Es hält keiner einen Schüler aus einem Arbeiterviertel ab, auf das Gymnasium zu gehen. Man muss sich halt ein wenig anstrengen und die Eltern sollten das Talent auch unterstützen. Aber eine Nivellierung nach unten ist m. E. keine Lösung.

  9. Caminoscout sagt:

    Vermittelt das Bildung oder kann das weg?
    Bei uns in NRW taugt das Abi mittlerweile immer weniger – kann also weg, leider.
    In anderen Bundesländern hat es noch Wert, wer kann, soll dorthin ziehen – aber wer kann das schon?

  10. Metainter sagt:

    Unlustige Comedians oder: Wie man eine ausgelutschte Idee wieder aufwärmt...
    Das Gymnasium ist(!) inzwischen die Schule für alle, wie weiland die alte Volks- bzw. Hauptschule, und genau das ist das Problem (für die Intelligenten, Fleißigen, Strebsamen etc.)!

    s.a.: „Nach kurzer Zeit flog er wegen auffälligen Benehmens von der Schule und fand sich auf einer Gesamtschule wieder. Hier machten die Lehrer ihm und seinen Mitschülern täglich klar, dass sie Verlierer sind und im Leben nicht viel erreichen werden.“

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