Du hast nach serienversteher gesucht - Blogseminar https://blogs.faz.net/blogseminar/ Diskutiert werden das Leben der Studierenden, aktuelle Fragen der Hochschulpolitik sowie die Zweiheit von Forschung und Lehre. Tue, 13 Nov 2018 11:50:48 +0000 de-DE hourly 1 Serienversteher: “Mord mit Aussicht” https://blogs.faz.net/blogseminar/serienversteher-mord-mit-aussicht/ https://blogs.faz.net/blogseminar/serienversteher-mord-mit-aussicht/#comments Mon, 05 Nov 2018 13:32:13 +0000 http://blogs.faz.net/blogseminar/?p=6255 Diese Serie gehört zu den meist wiederholten im deutschen Fernsehen. Warum verliert der ländliche Eifel-Krimi “Mord mit Aussicht” nicht an Faszination, obwohl die Mörder längst bekannt sind? *** Ob in den Semesterferien oder während der Uni: Irgendwann steht er an, … Weiterlesen

von maikeweisenburger erschienen in Blogseminar ein Blog von FAZ.NET.

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Diese Serie gehört zu den meist wiederholten im deutschen Fernsehen. Warum verliert der ländliche Eifel-Krimi “Mord mit Aussicht” nicht an Faszination, obwohl die Mörder längst bekannt sind?

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© dpaGestrandeter Fisch: Caroline Peters als unfreiwillige Dorfpolizistin Sophie Haas

Ob in den Semesterferien oder während der Uni: Irgendwann steht er an, der obligatorische Besuch bei den Eltern. Von der studentischen Filterblase in der Unistadt zurück ins Kindheitstrauma. Tagsüber wird man mit Ausflügen geplagt, abends lotet man misstrauisch aus, ob man nicht doch Frieden schließen kann mit diesem seltsamen antiken Flimmerkasten, den die alten Leute als „Fernseher“ bezeichnen. Kurze Verwirrung dank fehlenden Touchscreens, gefolgt von mittelmäßiger Bildqualität, deutsch synchronisierten Serien und Filmen sowie Werbung, die Kopfschmerzen bereitet. Weit und breit kein „Skip-Ad-Button“.

Wie nun soll man sie in Frieden vereinen, die Kontraste, welche die Familie auch beim abendlichen Fernsehprogramm trennen? Die deutsche Erfolgsserie „Mord mit Aussicht“ scheint die Antwort gefunden zu haben: mit Humor natürlich.

Die Geschichte, die erzählt wird, ist in ihren Grundzügen selbst eine Hommage an zwischenmenschliche Kontraste. Es handelt sich um ein klassisches Fish-out-of-Water-Szenario, so simpel wie brillant: Im verschlafenen Eifelnest „Hengasch“, Landkreis „Liebernich“, ist der Leiter der Polizeiwache in den mürrisch erduldeten Ruhestand geschickt worden. Zur gleichen Zeit in Köln, scheinbar auf einem völlig anderen Planeten, fliegt der Identifikationsfigur der Serie, der Kriminaloberkommissarin Sophie Haas, eine Versetzung um die Ohren – nach ebenjenem Hengasch. Zwei Pferdekoppeln vom Ende der Welt entfernt. Eine Großstädterin in der Provinz, ein Fisch außerhalb des Wassers.

Diese Welt ist ihr zu klein

Schon in der ersten Folge wird dieser Kontrast plakativ herausgearbeitet. Zunächst wird Sophie Haas visuell abgegrenzt: Sie kommt über die saftig grün eingebettete Landstraße gerauscht und überholt demonstrativ seufzend einen grünen Traktor mit ihrem knallroten BMW Cabrio.

Vom Ortseingang bis zur Polizeiwache folgen ihr mehr oder weniger verstohlen die neugierigen Blicke der Einwohner. Auf das vorsichtige Eintreten in die Einzimmerwache mit Gemeinschaftstoilette folgt die Begegnung mit den neuen Kollegen: Dietmar Schäffer und Bärbel Schmied. Zwischen den beiden uniformierten Kollegen sticht sie mit ihrer eleganten Garderobe heraus, als wäre es Absicht. Immerhin scheint man sich gegenseitig zumindest theoretisch als menschliche Lebensform erkannt zu haben.

© dpaUnd dann zieht ihr auch noch der eigene Vater (Hans Peter Hallwachs) hinterher.

Das Dekor ihres Vorgängers wird unwirsch entsorgt, über solche Sentimentalitäten ist Sophie Haas derart erhaben, dass man meinen könnte, sie trüge ihre Nase ein wenig zu hoch. Im Zuge der ersten gemeinsamen Ermittlung gibt es genug Gelegenheiten, diesen Argwohn auszubauen. In Köln hat es sie an die Brennpunkte gezogen, Mord, Geiselnahmen, Action. Hier sieht sie sich mit Jugendlichen konfrontiert, die versuchen Kühe umzuschubsen. Die Aufklärungsquote der Hengascher Polizeiwache liegt bei hundert Prozent, erläutert Schäffer mit stolz geschwellter Brust. Er und Schmied sind sichtlich in ihrem Element, wir befinden uns mitten in ihrer kleinen Welt, in der sie sich auskennen und wohlfühlen. Haas hingegen wirkt deplaziert und tendenziell angeödet. Was die beiden Kollegen zufriedenstellt, ist ihr zu klein.

In den ersten paar Tagen nach ihrer Ankunft fällt in der örtlichen Kneipe, dem „Aubach“, dann endlich ein Schuss. Es gibt eine Verletzte und damit einen Fall für die Hengascher Polizei. Haas versucht den Täter zu finden, sie und ihre Kollegen ermitteln auf Hochtouren – und zwar exakt bis Feierabend. Pünktlich zum Dienstschluss tritt Bärbel Schmied den Nachhauseweg an. Mit den Worten “Da müssen sie schon bis morgen früh warten. Tja, Land ist Land“ lässt sie ihre verdutzte Chefin alleine in der Wache zurück.

Die Missbilligung ist eingepreist

Im Gasthof „Aubach“ pulsiert von allem unbeeindruckt das Nachtleben Hengaschs, eine symbiotische Verbindung aus Herrengedeck und Eiche rustikal. Hier prallen die beiden Welten pointiert aufeinander. Wie verhext scheint nie auf Lager zu sein, nach was es Haas gerade gelüstet. Ein Running Gag, der sich durch die ganze Serie zieht. So ist in der ersten Folge absurderweise das Wasser ohne Kohlensäure aus, während Haas in der dritten Staffel ein simpler Rotwein verwehrt bleibt. Immerhin auf eines kann man sich in der Kneipe verlassen: Die Rechnung beläuft sich, unabhängig von den verzehrten Gütern, routinemäßig auf 13,80€.

© dpaDer Schäffer (Bjarne Mädel ) und seine Frau Heike (Petra Kleinert)

In der zwölften Folge der dritten Staffel tritt dann die Band „Fraktus“ in Hengasch auf. Womöglich haben sich die drei Ausnahmetalente aus den Achtzigern beim Nachdenken über die Gesellschaft in der Gegend verlaufen. Sophie, an ihre liebe Jugend erinnert, wirft sich mit gewohnter Stilsicherheit in Schale. Ihr Outfit ist ein absolut schockierendes Destillat jener Zeit. Eine knallenge, schwarz-weiß gestreifte Hose trifft auf eine weiße Hemdbluse mit gradlinigen Akzenten aus rotem Klebeband. Schwarze Fingernägel, schwindelerregend hochtoupiertes Haar, roter Handschuh an der linken Hand, unverfrorenes Lächeln im Gesicht. Mit der triumphalen Gewissheit, gleich ihre Andersartigkeit attestiert zu bekommen, stolziert sie in die Kneipe. Und tatsächlich, Empörung ergießt sich über das „blondierte Zebra“. Doch der Tadel macht Haas nicht unsicher. Im Gegenteil, sie genießt ihre Fähigkeit, die Einwohner mit einem simplen, zurechtgegelten Pony zu provozieren. Die kollektive Missbilligung der Einwohner bestätigt ihre sorgfältig ausgestellte Divergenz vom Eiche-rustikal-Einheitsbrei.

So spinnt die Serie durch das Reagieren der Figuren aufeinander mal mehr, mal weniger subtile Kontraste, über die man lachen muss. Aber völlig unabhängig davon, ob man sich nun am Stammtisch neben Hans Zielonka oder in der roten „Angeberkarre“ von Sophie Haas eher zu Hause fühlen würde, man fühlt sich als Zuschauer willkommen.

„Ich vertrau Ihnen, Chef“

Denn das ist das Geheimnis, welches die Serie so brillant macht: “Mord mit Aussicht” sieht geschickt davon ab, eine der beiden Welten, die hier aufeinanderprallen, zur überlegenen zu küren. Die Serie erlaubt es dem Zuschauer nicht, vom hohen Ross herunter über die schielenden Dorftrottel zu kichern. Auch Sophie Haas muss immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt werden, das Dorf ruft ihr im Vorübergehen zu: „Bedenke, du bist sterblich.“ Die Kontraste zwischen den Figuren trennen diese voneinander, das stimmt. Aber der Humor, das Lachen, das daraus entsteht, eint die Figuren wieder.

Meike Droste als Dorfpolizistin Bärbel Schmied ist die Dritte im Bund.

Kommt es darauf an, so ist ohnehin nach wenigen Folgen klar, dass man zusammenhält auf der Hengascher Wache. Dann wird Dietmar Schäffer, der dritte Polizist im Auftrag Hengaschs, in der elften Folge der dritten Staffel eines Diebstahls bezichtigt. Er soll die Kasse mit dem Erlös des Feuerwehrfestes gestohlen haben. Der Verrat Delilas, die Ermordung Cäsars und selbst Watergate verblassen angesichts dieser rohen Störung der Dorfidylle. Doch für Sophie Haas und Bärbel Schmied steht die Unschuld des gemütlichen Polizisten zu keinem Zeitpunkt zur Debatte. Als das Diebesgut plötzlich in seiner Schreibeisschublade auftaucht, will Schäffer schon seinen Dienstausweis abgeben. Doch Haas nimmt ihn nicht an, obwohl ihr durchaus bewusst ist, dass es für den Kollegen nicht gut aussieht. Die letzten Worte, die in der Szene gesprochen werden, gehören Dietmar Schäffer: „Ich vertrau Ihnen, Chef.“

Deutlich wird, dass die Figuren einander mögen. Die grundverschiedene Art, den Alltag zu bestreiten, steht der Sympathie nicht im Weg. Doch vor allem zählen die Figuren aufeinander. Als die Kriminaloberkommissarin den Fall am darauffolgenden Tag löst, stellt sich heraus, dass Schäffer verleumdet wurde. Er ist unschuldig. Das Vertrauen beider Seiten war berechtigt.

Das Geheimnis der Serie

Am Ende der Folge hat Sophie Haas ironischerweise gerade jene Ordnung in das Dörfchen zurückgebracht, die sie eigentlich für kleinbürgerlich hält. Wie der Regenbogen nach der gnadenlosen Flut friedlichere Zeiten ankündigt, so verbildlicht in der Schlussszene ein letztes Stück Schokolade aus den hinteren Regionen von Bärbel Schmieds Schreibtischschublade die allumfassende Harmonie. Ohne groß zu überlegen, teilen die drei Kollegen dieses wohlwollend. Eigentlich eine durch und durch alltägliche Geste, die aber genau das transportiert, was die Serie so außergewöhnlich macht: Denn die drei Polizisten teilen nicht, weil der jeweils Andere etwas brauchte. Nicht aufgrund einer Notwendigkeit, sondern aus echtem Wohlwollen gönnt man sich die kleinen Freuden des Lebens gegenseitig. Ein seichter Treueschwur im Regen oder eine pompöse Rede können da nicht mithalten.

© dpaGegensätze vergrößern die Verteidigungslinie in Hengasch

Alle Figuren haben zahlreiche Marotten. Von Dietmar Schäffers Frisur über Bärbel Schmieds nachdrückliches „Find ich!“, mit dem sie Unsicherheiten zu überspielen sucht, bis zu Sophie Haas mit ihrem lebensmüdem Fahrstil. Sie kommt in der ersten Folge angerauscht und verschmäht die Sentimentalitäten ihres Vorgängers. Doch gleich zu Beginn hatte sich die Disposition zur Gemeinsamkeit im Detail verraten. Denn die Holztierchen des Vorgängers werden zwar entsorgt, sogleich aber durch eigenen mitgebrachten Kram ersetzt: Eine unironisch aufgestellte Schneekugel mit Kölner Dom ziert von nun an den Schreibtisch von Sophie Haas. Wie ausgesprochen geschmackvoll.

Die Marotten hindern die Figuren nicht am Zusammenfinden, sie machen als menschliche Regungen das Zusammenfinden erst möglich. Gerade, weil sie so verschieden sind, all die Pappenheimer in Hengasch, tut es so ausgesprochen gut, dass sie herzlich miteinander lachen können, über ihre Marotten, über die Kollegen und vor allem über sich selbst. Das ist das Geheimnis der Serie.

Wäre doch gelacht, wenn uns Pappenheimern das nicht auch gelingen könnte.

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Serienversteher: “BoJack Horseman” https://blogs.faz.net/blogseminar/serienversteher-bojack-horseman/ https://blogs.faz.net/blogseminar/serienversteher-bojack-horseman/#comments Fri, 23 Mar 2018 10:00:13 +0000 http://blogs.faz.net/blogseminar/?p=5464 Mit dem üblichen Sitcom-Realismus hat diese Animationsserie nichts zu tun. Hier sprechen Pferde wie Menschen. Schaut man genauer hin, offenbart sich eine niederschmetternde Analyse der Wirklichkeit. *** „It’s all bullshit Diane, that’s the gig. And you’re not good enough at … Weiterlesen

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Mit dem üblichen Sitcom-Realismus hat diese Animationsserie nichts zu tun. Hier sprechen Pferde wie Menschen. Schaut man genauer hin, offenbart sich eine niederschmetternde Analyse der Wirklichkeit.

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„It’s all bullshit Diane, that’s the gig.
And you’re not good enough at this job
to be too good for this job.“ 
(Princess Carolyn)

 

Der erste äußere Eindruck, den man von dieser Serie gewinnt, kann leicht täuschen. Sie kommt in ihrer Anmutung zunächst so bunt daher, dass sie den Verdacht auf leichtverdauliche Flausen à la “Family Guy” nährt. Doch schon das Intro von “BoJack Horseman”, in dem der Kopf des Hauptcharakters – in mehr oder minder berauschtem Zustand – vor farbenfroh bevölkerten Kulissen dahinschwebt, zerstreut diesen Verdacht auch schon wieder. Denn das besoffene Klamaukpotential wird von besorgten Mienen im Hintergrund ausgebremst, auch wenn einige von ihnen zu anthropomorphen Tiergestalten gehören und der Hauptdarsteller einen Pferdekopf trägt. Wobei diese Absurdität, die innerhalb der Serie als Selbstverständlichkeit hingenommen wird, der Serie selbst nicht ihre Schwere nimmt. Man gewöhnt sich schnell daran, dass eine rosa Katze im grünen Kleid zwar einen dekorativen Designerkratzbaum in ihrem Büro aufgestellt hat, sich ansonsten aber ausgesprochen menschlich verhält.

Diese rosa Katze namens Princess Carolyn verdient ihren Lebensunterhalt als Agentin jenes fiktionalen menschlichen Pferdes. Und hier kann es kurzzeitig etwas unübersichtlich werden, denn dieses Pferd namens BoJack Horseman ist der Protagonist der realen Serie „BoJack Horseman“, die man auf Netflix mitverfolgen kann. Im Rahmen des Universums dieser Serie war dieses Pferd aber auch schon  Protagonist einer fiktionalen Neunziger-Sitcom namens „Horsin’ Around“, die wiederum realen Serien wie „Full House“ nachempfunden ist. Sowohl die seichte Oberflächlichkeit der parodierten Serien als auch das Spiel mit den Fiktionalitätsebenen wird bis zum äußersten getrieben.

So wird in „BoJack Horseman“ erwähnt, dass in einer Folge der vierten Staffel von „Horsin’ Around“ das fiktive Pferd zum Präsidenten gewählt wird. Ein Plotpunkt, der sich eine Episode später lediglich als Traum herausstellt. „Horsin’ Around“ ist also eine Fiktion in der Fiktion, die dann eigens fiktive Elemente für die Verschachtelung der Ebenen in einem gemeinsamen Universum schafft. Gibt man „Horsin’ Around“ als Suchanfrage bei Netflix ein, so erhält man, um den Kreis zu schließen, sogar ein Ergebnis, wobei nur das Intro der fiktiven Serie tatsächlich abgespielt werden kann. Die Ebenen der Fiktionalität sollen verwischen, als wäre das menschliche Pferd Teil unserer Welt. Dies Serie hat sogar eine eigene IMDb-Seite.

Interessant ist an dieser Stelle auch, wie Surrealismus – Tierköpfe auf menschlichen Körpern – und unerbittlicher Realismus der Serie ineinanderspielen. Die scheinbare Frivolität der Tiergestalten erfasst das System Hollywood auf eine ausgesprochen ernüchternde Weise. Der Surrealismus spitzt den Realismus zu und unterwirft sich diesem gleichzeitig. Denn die Figuren funktionieren und verhalten sich, bis auf den ein oder anderen ungelenk flatternden Vogel, so wie Menschen es in der Realität auch tun würden. Bekannte reale Elemente Hollywoods und die offenbar mittelmäßig glamouröse Welt der Stars werden verfremdet dargestellt und können durch das seltsame Zwielicht zwischen Realität und Surrealismus mit Abstand, unter Ausschaltung eines Gewöhnungseffekts, betrachtet werden. Auf was die Serie abzielt, wird dabei relativ schnell klar.

Die Prämisse und das Setting sind schnell erzählt: Der Protagonist, das anthropomorphe Pferd namens BoJack Horseman, ist ein desillusioniertes Mitglied der in die Jahre gekommenen B-Prominenz. An Geld, Groupies und diversen Rauschmitteln mangelt es ihm zwar immer noch nicht, doch will es mit dieser verflixten Erfüllung im Leben nicht klappen. Die Karriere muss also wieder auferstehen, denn ein bisschen Ruhm und uneingeschränkte Bewunderung haben noch niemandem geschadet, wie uns schon die griechischen Mythen lehren.

BoJack will also seine Autobiografie herausbringen. Es mangelt ihm aber an Schreibtalent und Begeisterung, und so holt seine Agentin, Princess Carolyn, eine Ghostwriterin namens Diane mit ins Boot. Es sind wohl ihre Klugheit und ihre ungerührte Authentizität, die sie für BoJack so interessant machen. Wie sich die Seiten des Buches füllen, wächst auch die Zuneigung zwischen den beiden. Ein länger anhaltender Hoffnungsschimmer ist in der quietschbunten Depression aber nicht in Sicht. Denn Diane ist in einer Beziehung – mit dem anthropomorphen Labrador Mr. Peanutbutter. Auch er ist Schauspieler, doch da hören die Gemeinsamkeiten mit BoJack auch schon auf, denn Mr. Peanutbutter ist eher der menschlichen Interpretation des Innenlebens eines Hundes entnommen. Er ist einfältig, aber glücklich. Die moralischen Ambiguitäten seines Umfeldes verspürt er durchaus. Er scheint aber von einem naiven und gleichwohl echten Optimismus beseelt zu sein. Sieht man sich mit seinen Augen, so muss es verlockend einfach sein, sich selbst zu mögen. Eine Qualität, die ihn bestimmt auch für Diane so liebenswert macht.

Eine Serie, deren Figuren dem Showbusiness zugehören – niemanden wird es überraschen, dass dieses fortlaufend Zielscheibe der Kritik ist. Denn Hollywood ist eine Plattform, die nicht zufällig gebrochene Charaktere wie BoJack anzieht.

„It’s all bullshit Diane, that’s the gig“, hallt der frühe Befund von Princess Carolyn nach, als sie sich in der sechsten Folge der zweiten Staffel darum bemüht, mittels einer erfundenen Abtreibung einen Medienhype um einen jungen Popstar zu kreieren. Diese Sextina Aquafina ist mit ihrer bedingungslosen Oberflächlichkeit eine relativ gewöhnliche Karikatur. Für sie scheint alles ein willkommener Trittstein zu mehr Likes, Klicks und Views zu sein. Von der Idee, sich als Märtyrerin der „Pro-Choice“-Bewegung inszenieren zu lassen, ist sie begeistert – solange sie dafür bewundert wird. Es wird ein Musikvideo zum Thema gedreht, so geschmacklos und vulgär, dass es an eine Plattitüde grenzt. Das Entscheidende auf einer höheren Ebene aber ist: Sextina Aquafina bleibt ein Produkt Carolyns und Dianes, Produkt einer Strategie, die klügere Figuren sich ausdenken, Figuren, welche die Schwächen des Systems erkennen und ausnutzen.

Wenn Princess Carolyn also Hollywood und alles, was dazugehört, als Bullshit abfertigt – was sagt das dann über sie selbst aus, die dieses System forciert und aufrechterhält? Denn beide Figuren, vor allem aber Diane, tragen das Bedürfnis in sich, als gute Menschen oder Katzen wahrgenommen zu werden.

Die Serie urteilt hart über die Unterhaltungsindustrie. Sie wird als oberflächlich, frivol und egozentrisch dargestellt – und wahrgenommen. Doch keine der Figuren empfindet diese Welt so nachhaltig als abstoßend, dass sie auf die Idee käme, sie zu verlassen oder zu verändern. Alle zusammen schaffen aktiv den Grundstock für dieses System, von dem sie gleichwohl wissen, wie unbarmherzig es Menschen verschluckt und verschleißt.

Neu ist dabei nicht das Urteil, dass Hollywood seinen Glanz verliert, sobald man es näher betrachtet, sondern, dass dieses monströse System immer neu von Protagonisten geschaffen wird, deren absurde Handlungsweisen und deren Verantwortung man in der Tier-Parabel viel besser versteht. Deutlich wird, dass nicht individuelle Gier oder Bosheit den unmenschlichen Mechanismus dieses Systems in Gang setzen, sondern es auf einem bequemen und egoistischen Mitmachen beruht, das dem Zuschauer vertraut vorkommen muss.

Man könnte dem System ja entkommen, aber das würde Kraft kosten – und an den ganzen, schönen Luxus, den man dann aufgeben müsste, ach, daran will ich gar nicht erst denken. Ebenso wenig wie die Serie den Figuren Absolution erteilt, tut sie das mit den Rezipienten. Hierin liegt die Krux der Serie, unabhängig von allem Witz, den sie trotz ihrer Tristesse in sich trägt.

BoJack, der Irrende, der sein Glück immer nur mit halbem Herzen sucht und den einfachen Weg wählt, wenn es darauf ankommt, ist zugleich Identifikationsfigur. Er findet immer wieder zurück zum verabscheuten, aber vertrauten Ausgangszustand in der Filmindustrie, womit er sowohl die Serie „BoJack Horseman“ als auch Hollywood an sich am Leben erhält. Indem die Serie über sich selbst richtet, richtet sie auch über den Zuschauer – und ihr Urteil ist ehrlich. Die Mittäterschaft ist menschlich. Es ist ein gnädiges Urteil – und gleichzeitig ein zerschmetterndes.

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Serienversteher: Jetzt kommen die Blockbuster https://blogs.faz.net/blogseminar/serienversteher-jetzt-kommen-die-blockbuster/ https://blogs.faz.net/blogseminar/serienversteher-jetzt-kommen-die-blockbuster/#comments Tue, 19 Dec 2017 11:25:16 +0000 http://blogs.faz.net/blogseminar/?p=5071 Bei den Streamingdiensten ist das Blockbuster-Fieber ausgebrochen und auch Disney will jetzt im Serienfernsehen mitmischen. War das Hollywood-Kontrastprogramm bei HBO und Co. nur ein Sturm im Wasserglas? *** “The Game is on” würde Serienheld Sherlock sagen. Die Serienindustrie scheint 2017 endgültig … Weiterlesen

von Felix Simon erschienen in Blogseminar ein Blog von FAZ.NET.

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Bei den Streamingdiensten ist das Blockbuster-Fieber ausgebrochen und auch Disney will jetzt im Serienfernsehen mitmischen. War das Hollywood-Kontrastprogramm bei HBO und Co. nur ein Sturm im Wasserglas?

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© NetflixSehnsucht nach der Krönung: Claire Foy als die junge Königin Elizabeth II. in der Netflix-Serie “The Crown”

“The Game is on” würde Serienheld Sherlock sagen. Die Serienindustrie scheint 2017 endgültig vor dem Umbruch zu stehen. Allenthalben greift die “Blockbusterisierung” um sich: mehr Geld, mehr Starpower, bereits bekannte Geschichten, die neu verpackt werden. Was lange dem Hollywoodkino vorbehalten war, hat nun auch die Serienwelt erreicht.

Was ist geschehen? Wenn man zurückblickt und bedenkt, welche Erwartungen und Hoffnungen an die aktuelle Generation qualitativ hochwertiger Langformserien geknüpft wurden, kommt man nicht umhin zu bemerken, wie viel sich in der Zwischenzeit verändert hat. “The Sopranos”, “The Wire”, “Six Feet Under”, – produziert von Kabelfernsehsendern wie HBO –, versprachen zu Beginn der 2000er eine neue Form von Fernsehen: dunkler, künstlerischer, mit komplizierteren Plots und einem bessern Gespür für Realismus. Mehr Klasse statt Masse.

Die Pay-TV-Industrie schien uns das zu geben, was Hollywood scheinbar nicht länger liefern konnte und wollte: gut gemachte Unterhaltung in Langform; Unterhaltung, bei der die Autoren und die Ausarbeitung von Geschichten im Vordergrund stehen, nicht die Effekte oder Filmstars; Stoffe, die kein Studio anrühren würde, weil sie zu abseitig waren, um sie erfolgreich auf dem Massenmarkt zu Geld zu machen. Serien wie “Mad Men” und “Breaking Bad” erinnerten, wie der Filmkritiker David Thomson zuletzt schrieb, an das Hollywoodkino der Siebziger, als die Filme ihre Zuschauer für eine kurze Zeit endlich forderten, bevor die Blockbuster das Ruder übernahmen.

Franchise ad infinitum

Doch im Jahr 2017 ist auch die amerikanische Serienindustrie – und machen wir uns nichts vor, dort spielt die Musik – dem Blockbusterfieber anheimgefallen. Erst kürzlich gab Amazon bekannt, für 250 Millionen Dollar die Rechte an Tolkiens “Herr der Ringe”-Universum erworben zu haben. Jeff Bezos bekommt sein eigenes “Game of Thrones” und Amazon ein eigenes Serienschlachtschiff – bis zu 750 Millionen Dollar will man lockermachen, um den Zuschauern Mittelerde in voller Pracht zu bieten.

© HBOEwiger Kampf um die Krone: Lena Headey als Cersei Lannister in “Game of Thrones”

Und der Internetkonzern aus Seattle ist nicht allein, wenn es um neue Großprojekte geht. “Game of Thrones” beschert HBO seit Jahren volle Kassen, mit “The Crown” hat Netflix nur eines von vielen Schwergewichten aufgefahren, und AMC feiert mit “The Walking  Dead” Erfolge. So lukrativ ist der Serienmarkt mittlerweile, dass auch das Schwergewicht Disney mitmischen will und kurzerhand seinen eigenen Streamingservice eröffnen wird, auf dem – Überraschung – zuallererst das Star-Wars-Franchise ad infinitum ausgerollt werden soll. Fehlt eigentlich nur, dass J.K. Rowling demnächst die Serienrechte an Harry Potter an den Meistbietenden verhökert und die drei erfolgreichsten Filmfranchises der vergangenen Dekaden fänden sich alle in Serienform wieder.

Dass zunehmend auf das Blockbusterkonzept gesetzt wird, muss dabei nicht weiter überraschen. Wie in der Filmindustrie wird bei den Quality-TV-Serien seit dem Siegeszug der Streamingdienste ein Gutteil der Einnahmen international erwirtschaftet und da funktionieren am besten Stoffe, die auch über einen nationalen Kontext hinaus Anziehungskraft besitzen. “Babylon Berlin” hat dies zuletzt eindrucksvoll bewiesen – nicht so sehr, weil es das aktuelle Deutschland gut widerspiegelt (eine Serie wie “Im Angesicht der Verbrechens” hätte in Übersee vermutlich nur begrenzten Erfolg) sondern historische Themen verarbeitet, die im Ausland gerne mit Deutschland in Verbindung gebracht werden. Historiendramen gehen eben immer, das haben in den letzten Jahren “Downton Abbey”, “Victoria” aber auch “Mad Men” eindrucksvoll bewiesen. Sicherlich nicht geschadet hat vermutlich auch, dass „Babylon Berlin“ eben nicht im Köln der goldenen Zwanziger angesiedelt ist, sondern in Berlin – jener Geradeso-Weltstadt, von der besonders junge Briten und Amerikaner nicht genug bekommen können.

Keine guten Nachrichten für die Platzhirsche

Gleichzeitig ist der Konkurrenzkampf zwischen den Anbietern brutal. Großprojekte versprechen, die Zuschauer zu binden. Ottonormalzuschauer lässt sich eben immer noch am besten mit einem großen Franchise ködern. Denn auch wenn Amazon und Netflix immer mehr über die Vorlieben ihrer Zuschauer wissen – die massive Datenauswertung macht es möglich – und so Inhalte maßschneidern können, generieren Stoffe mit Breitenwirkung im Zweifelsfall immer noch die zuverlässigsten Einnahmen. Um auf Nummer sicher zu gehen, setzt man auf “mass appeal”, steckt eine Menge Geld hinein und finanziert mit den erwirtschafteten Gewinnen, so die eingespielte Reihenfolge, die kleineren Nischenprojekte. An sich ist das nicht verwerflich und wäre sogar zu begrüßen. Nur besteht eben auch die Gefahr, dass man sich von der Erfolgsformel „Blockbuster“ davontragen lässt – zum Leidwesen der kleineren, poetischen Stoffe.

© HuluElisabeth Moss in der Hulu-Serie “The Handmaid’s Tale”

Diejenigen, die das neue Qualitätsfernsehen “Made in the USA” vor wenigen Jahren noch als “den neuen Roman” und die Zukunft des Kinos gefeiert haben, ziehen künftig wohl den Kürzeren, stellt sich doch heraus, dass die erhoffte Kulturrevolution durch das Serienfernsehen auch nur ein Sturm im Wasserglas war, der sich letztendlich den vermeintlich unhintergehbaren Gesetzen der ökonomischen Logik beugen muss.

All das bedeutet freilich nicht, dass die betont künstlerischen Qualitätsserien, die bei Feuilletons und anspruchsvollen Zuschauer so beliebt sind, über Nacht verschwinden. Pay-TV Sender wie HBO und AMC werden fürs Erste sicherlich Kurs halten – schließlich zahlen deren Abonnenten nicht gerade wenig für gute Sendungen. Und auch bei Amazon und Netflix wird für solche sicher nicht das Licht ausgehen: Produktionen wie “The Handmaid’s Tale”, “Mindhunter” oder “Stranger Things 2” beweisen, dass fürs Erste auch weiterhin Platz für “künstlerisch wertvolle” Serien sein wird. Auch gilt die Produktion „Maniac“, die 2018 bei Netflix ausgestrahlt wird, als vielversprechend, genauso wie „The Ballad of Buster Scruggs“, die von den Coen-Brüdern inszeniert wurde.

Doch Streamingplattformen wie Netflix und Amazon kommen in Zukunft wohl nicht umhin, den Massenmarkt zu bedienen – und sich gegen neue Konkurrenz zu behaupten. Denn auch Apple drängt jetzt in den Serienmarkt und plant im nächsten Jahr bis zu eine Milliarde Dollar in neuen „Content“ zu investieren. Auch von Seiten Disneys droht Gefahr. Dort will man zusätzlich zum Aufbau eines Streamingdienstes Teile von Rupert Murdochs 21st Century Fox übernehmen. Für die Platzhirsche sind das keine guten Nachrichten; immerhin 19 Prozent der beliebtesten Serien auf Netflix (9 Prozent bei Amazon) stammen aktuell von Fox und Disney. Wenn die nun zu Disneys neuem Service wandern, muss man sich Alternativen überlegen. Nur mit Arthouse-Projekten und Nischenserien kommt man gegen diese Konkurrenz nicht an.

Wie es weitergehen wird? Ob anspruchsvolles Fernsehen auch in Zukunft einen Platz auf den Streamingplattformen haben wird? Die nächsten Jahre werden es zeigen, der Zuschauer hat ein Wörtchen mitzureden.

von Felix Simon erschienen in Blogseminar ein Blog von FAZ.NET.

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Sherlock, Stranger Things & Co.: Wie in Fernsehserien geraucht wird https://blogs.faz.net/blogseminar/die-zigarette-danach-warum-in-fernsehserien-geraucht-wird/ https://blogs.faz.net/blogseminar/die-zigarette-danach-warum-in-fernsehserien-geraucht-wird/#comments Fri, 08 Dec 2017 13:22:15 +0000 http://blogs.faz.net/blogseminar/?p=4705 Lässig balancierte Glimmstengel haben das Kino groß gemacht und den Aufstieg des Serienfernsehens begleitet. Dann kam das Rauchverbot, heute wird jede Zigarette dreimal umgedreht. Wo glüht noch was? Elfte Folge unserer Reihe “Serienversteher”. *** Humphrey Bogart, James Dean, Marlon Brando … Weiterlesen

von Uwe Ebbinghaus erschienen in Blogseminar ein Blog von FAZ.NET.

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Lässig balancierte Glimmstengel haben das Kino groß gemacht und den Aufstieg des Serienfernsehens begleitet. Dann kam das Rauchverbot, heute wird jede Zigarette dreimal umgedreht. Wo glüht noch was? Elfte Folge unserer Reihe “Serienversteher”.

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Sherlock (Benedict Cumberbatch) kämpft in der Folge “Im Zeichen der Drei” mit seiner Nikotin-Sucht.

Humphrey Bogart, James Dean, Marlon Brando oder Clint Eastwood sind ohne Tabak kaum vorstellbar. Würde man der Filmgeschichte die Zigarette entziehen, blieben unzählige leere Hände und Münder zurück, die nichts mit sich anzufangen wüssten.

Warum passt die Zigarette eigentlich so gut zum Film und zu stilisierten Schauspieler-Porträts? Liegt es daran, dass sie als eine Art Seelenrequisit imstande ist, auch am fast ruhenden Körper eine innere Bewegung anzudeuten? Zweifellos ist sie fotogen, bringt Linien und Achsen ins Bild, die das Anschauen interessanter machen. Nicht zuletzt zeigt das beim Inhalieren verzogene Gesicht eine Bereitschaft, sich zu sammeln, das eigene Leben zu überdenken und zu ändern. Das erzeugt Spannung. Paradoxerweise verlieren viele Situationen durch den Einsatz einer Zigarette an Künstlichkeit. Mit Zigarette in der Hand oder im Mundwinkel ist der Schauspieler nicht einfach nur da, er tut auch etwas, wenn es auch meist vollkommen nutzlos ist.

Erst die Kippe, dann die Ermittlung: Humphrey Bogart in dem Noir-Klassiker “Die Spur des Falken” (1941)

Über das Rauchen im Film gibt es inzwischen zahlreiche Bücher und Dokumentationen. Unbeachtet bleibt darin meist, dass das Motiv in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine völlig neue Entwicklung durchlaufen hat. Vor allem im Serienfernsehen – dort also, wo man sich erzählerisch auch heute noch Zeit für eine Zigarette nehmen kann – hat das Rauchen eine neue dramaturgische Funktion übernommen.

Schien immer irgendwie aus Solidaritätsgründen zu rauchen: Götz George als Schimanski

Um diese Entwicklung zu erkennen, muss man sich zunächst in die verqualmten Polizeistuben der frühen Fernsehserien zurückversetzen, muss sich in Deutschland etwa an den von Erik Ode gespielten “Kommissar” (ab 1969) hinter einer dicken Rauchwolke erinnern, an den Zigarrenraucher Walter Richter im ersten “Tatort” (1970) oder an Schimanski in den Ruhrpott-Kneipen der achtziger Jahre. Wobei der ermittelnde Raucher, der das Denken bei gezielter Tabakinhalation zu intensivieren versucht, schon seit Sherlock Holmes und Maigret ein liebevoll zitiertes Klischee darstellt.

Das Rauchen als integraler Bestandteil von Unterwelt und Bildkomposition: gemäldehaftes Werbefoto für die “Sopranos”

Doch irgendwann um die Jahrtausendwende herum, parallel zur Renaissance des epischen Serienfernsehens in Amerika, kam allmählich Sand ins Getriebe. Da gab es auf der einen Seite Produktionen wie die “Sopranos” (HBO ab 1999) oder “Mad Men” (AMC ab 2007), in denen das exzessive Rauchen eine besondere Eigenweltlichkeit betonen sollte, über die man fast schon wieder schmunzeln musste, auf der anderen Seite solche, deren Handlungen im neuen Jahrtausend angesiedelt waren. In dieser Phase hatte der Nichtraucherschutz bereits so sehr an Bedeutung gewonnen, dass das Bildschirm-Paffen in Bundesbehörden oder der Gastronomie nur noch unrealistisch gewirkt hätte. Mit einem Mal wollte jede vor der Kamera entzündete Zigarette wohl überlegt sein.

© Allstar/LIONSGATE TELEVISIONRauchzwang in der Werbebranche, doch am Set kamen nur Kräuterzigaretten zum Einsatz: Jon Hamm als Don Draper in “Mad Men”

Rauchen? Nein, danke

Ein gutes Beispiel für diese verlorene Unbefangenheit bot in jüngster Zeit die Serie “This Is Us” (NBC ab 2016), in deren erster Folge dem Zuschauer eine bemerkenswerte Szene präsentiert wird. Da blickt ein Vater durch die Scheibe der Geburtenstation auf seine gerade zur Welt gekommenen Zwillinge, ein drittes Kind starb im Mutterleib. Hinzu tritt ein Feuerwehrmann und schüttelt den Kopf über das Schicksal, das ihm an diesem Tag widerfahren ist. Er fand einen Säugling vor der Feuerwehrstation und brachte ihn hierher, ins Krankenhaus. Jetzt liegt das schwarze Baby neben den Zwillingen. Der Feuerwehrmann bietet dem Zwillingsvater eine Zigarette an, der jedoch lehnt ab – und beschließt im nächsten Moment, das gefundene Kind zu adoptieren.

Diese Szene, sie spielt im Jahr 1980 und der Feuerwehrmann raucht dann eben alleine auf der Geburtenstation, enthält eigentlich alle Zutaten für die existentielle Zigarette unter Männern alter Schule. Doch die aus dem Western oder dem Film noir bekannte Überlebenshilfe-Zeremonie unterbleibt ostentativ, wobei man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass der für seine Tabak-Aversion bekannte Sender NBC mit dieser vorbildlichen Zurückweisung zugleich den Zuschauer erziehen wollte.

Die Schleichwerbung wurde vermieden, eine verborgene Botschaft an den Zuschauer nicht: Szene aus “This Is Us”

Die Büchse der Pandora

Eine noch eindeutiger moralische Dimension erhält die Zigarette in der Showtime-Serie “The Affair” (ab 2015), in welcher der Bücher schreibende Familienvater Noah Solloway und die junge Kellnerin Alison Lockhart, die vor kurzer Zeit ihr Kind verloren hat, ein Verhältnis beginnen. Aus mehreren Perspektiven rekonstruiert die Serie im Stile von Kurosawas Filmklassiker “Rashomon”, wie es dazu kam. Auffällig dabei, dass sowohl Noah als auch Alison eine Zigarette als Ausgangspunkt für ihren Seitensprung darstellen. Die Logik dahinter soll sich wohl wie folgt ausnehmen: Etwas, das gesellschaftlich so wenig anerkannt ist wie die Zigarette, schafft im gemeinsamen Genuss eine Verschworenheit, die auf weitere moralische Verfehlungen vorbereitet.

Eine hübsche Pointe besteht dann darin, dass beide Charaktere in ihrer jeweiligen Erzählversion darauf bestehen, der andere habe die Zigarettenpackung, diese Büchse der Pandora, zuerst geöffnet. Der Zigarette wird dabei eine erhebliche symbolische Kraft zugesprochen, die jedoch letztlich durch eine stark vereinfachende Küchenpsychologie aufgeladen wird – eine erstaunlich schlichte Entscheidung innerhalb dieser sonst so intelligenten Produktion.

© Screenshot ShowtimeWer hat die verhängnisvolle Zigarette nun angeboten: Noah (Dominic West) oder Alison (Ruth Wilson)? Die Erinnerung an ein und die selbe Szene trügt auch bei der Kleidung, die in beiden Versionen abweicht.

Das Pausenhof-Ritual

Würde Sherlock Holmes heute noch rauchen? In der BBC-Neuinterpretation mit Benedict Cumberbatch (ab 2010) versucht er jedenfalls, es sich dauerhaft abzugewöhnen. Er raucht, wenn überhaupt, meist in Anwesenheit seines Bruders – in der Serienfolge “Sein letzter Schwur” zum Beispiel im Rahmen eines pubertären Pausenhof-Rituals, das eine der ganz seltenen emotionalen Verbindungen zwischen den Brüdern schafft. Ist es Zufall, dass genau dieses Ritual seit einiger Zeit in vielen amerikanischen Serienproduktionen eine bemerkenswerte Konjunktur erlebt?

Sherlock (Benedict Cumberbatch) mit seinem Bruder Mycroft (Mark Gattis) in der Anfang 2014 ausgestrahlten Folge “Sein letzter Schwur”

Vor allem eine fast gleichzeitig gedrehte Variante dieser Konstellation hat sich in den letzten fünf Jahren verselbständigt. Gemeint ist die Nikotin-Zeremonie, die Frank und Claire Underwood in der Serie “House of Cards” (Netflix ab 2013) regelmäßig am geöffneten Fenster ihrer Wohnung vollziehen. Das Motiv wird in der Serie behutsam vorbereitet. In der ersten Folge raucht der zukünftige amerikanische Präsident Frank Underwood zunächst allein am Fenster, um wieder einmal eine überlebenswichtige Intrige im Kopf zu spinnen. Claire tritt hinzu, Frank reicht ihr seine Zigarette, sie nimmt sie, zieht aber nicht daran, sondern drückt sie mit etwas Verzögerung aus.

In der vierten Folge wird die Zigarette dann zunächst als Verführungsinstrument à la “The Affair” eingesetzt. Claire trifft einen früheren Geliebten, folgt ihm ins Hotelzimmer, wo dieser ihr ein nostalgisches Päckchen entgegenhält, sie nimmt eine Zigarette, raucht nach alter Gewohnheit, er versucht sie zu küssen. Nur mit einiger Anstrengung widersteht sie und kehrt zu ihrem Mann zurück. Jetzt kommt es zu der ersten geteilten Zigarette der Serie, ein idyllischer Moment zwischen Mann und Frau, der zugleich eine der bestimmenden Fragen der Serie vorwegnimmt: Ist Gleichberechtigung neben einem Alphatier wie Frank Underwood auch nur ansatzweise möglich?

Der Präsident und seine Gattin – vermeintlich privat.

Dramaturgisch gesehen ist diese einträchtige Raucherszene aber auch ein brüchiges Moment. Man blickt in ihr – und eigentlich nur in ihr – auf ein Paar wie jedes andere, eines mit verpassten Träumen und schönen Erinnerungen. Der Zuschauer wird in den Fenster-Szenen dazu verführt, sich mit den beiden zu identifizieren, sich in sie einzufühlen. Doch muss ihm eigentlich schon bald klar sein, dass die gesamte Handlung der Serie und vor allem Franks Ansprachen an das Publikum immer auf die eine Erkenntnis hinauslaufen: dass sich Claire und Frank Underwood eben nicht zur Identifikation eignen, dass sie kein Herz haben und nichts ihre Skrupellosigkeit aufhalten kann.

Die Motive bleiben im Dunkeln

Ein Sprung von den Top- zu den Underdogs im Fernsehen: Auch in der Serie “Better call Saul” (AMC ab 2015), die in den frühen 2000er Jahren spielt, gibt es das Motiv der geteilten Zigarette. Die beiden Anwälte Jimmy McGill (Bob Odenkirk) und Kim Wexler (Rhea Seehorn) ziehen sich wiederholt zum heimlichen Rauchen in die Tiefgarage oder eine andere abgeschiedene Ecke zurück, um beruflich keine Angriffsfläche zu liefern. Zugleich sind die beiden sehr eigenwillige Gerechtigkeitsfanatiker mit Tendenz zum Querulantentum. Die geteilte Zigarette in der Tiefgarage veranschaulicht somit auch ihre Unberechenbarkeit.

© Allstar/SONY PICTURES TELEVISIONWas hat er jetzt wieder vor? Jimmy McGill überrascht seine Freundin Kim und den Zuschauer immer wieder.

In “Better Call Saul” passt die Raucher-Szene erzählerisch perfekt zum Stil der Serie, in der man sich unentwegt fragen muss, was der Hauptfigur Jimmy McGill wohl gerade wieder für eine verquere Idee durch den Kopf geht. Jimmy und Kim, jeder für sich, treffen ihre wichtigsten Entscheidungen bei einer stillen Zigarette, kurz vor dem Filter tritt der andere hinzu und wird über die neuesten Lebensentwürfe informiert. Die Beweggründe aber bleiben meist poetisch im Dunkeln.

Der verinnerlichte kalte Krieg

In der jüngsten Staffel der viel gelobten Netflix-Serie “Stranger Things” (ab 2016) scheint sich das Pausenhof-Ritual dann fast schon in ein recht freischwebendes Zitat verwandelt zu haben. In der Schlussszene teilen sich die tapfere Mutter Joyce Byers (Winona Ryder) und der Polizisten Jim Hopper (David Harbour) eine Zigarette, obwohl beide ohnehin recht viel alleine rauchen. Joyce Byers hustet sogar, als sei es ihre erste. Recht künstlich plaziert, soll die Zigarette an dieser exponierten Stelle wohl die Sehnsucht nach einer im weitesten Sinne aufregenden Jugend einfangen, die sich durch die ganze Serie zieht.

Wir schreiben die Achtziger, die Arbeit mit den überirdischen Kreaturen ist getan, jetzt kann die Zigarette herumgereicht werden.

Die angeführten Beispiele zeigen deutlich: Die Zigarette ist im Serienfernsehen der vergangenen Jahre einerseits seltener, andererseits wichtiger geworden. Mit der Zigarette in der Hand werden auf dem Bildschirm die wichtigsten Entscheidungen und die größten Gefühle geteilt, wobei die Zigarette zuweilen überfrachtet wird.

Vielleicht sollten sich die vielgepriesenen amerikanischen Serien beim Einsatz der Zigarette eine Scheibe an zwei deutschen Produktionen abschneiden, die auch international sehr erfolgreich waren. In “Weißensee” und “Deutschland 83” wird derart viel gepafft, dass man schon beim Zuschauen Kopfschmerzen bekommt. Zigaretten werden hier ohne erkennbaren Hintersinn, ähnlich wie bei “Mad Men”, einfach weggeraucht, sie sind allenfalls ein Symbol für den verinnerlichten kalten Krieg jener Jahre, in denen sie entzündet werden.

Die Zigarette im amerikanischen Serienfernsehen aber schmeckt oft nicht nur moralinsauer, was Gift für jede Unterhaltung und jede Kunst ist, sondern auch zunehmend schal. Vor allem die Originalität des Pausenhof-Rituals hält sich in Grenzen. Zeit für die Schulglocke.

von Uwe Ebbinghaus erschienen in Blogseminar ein Blog von FAZ.NET.

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Serienversteher: „Suits“ https://blogs.faz.net/blogseminar/serienversteher-suits/ https://blogs.faz.net/blogseminar/serienversteher-suits/#comments Mon, 16 Oct 2017 08:56:15 +0000 http://blogs.faz.net/blogseminar/?p=4486 An der Oberfläche regiert der Glitzer, drunter lauern Probleme mit Liebe und Mutti: Die Serie “Suits” ist Anwaltsserie und Familiensaga in einem. Wie versucht sie, den Zuschauer zu fesseln? *** Die Anwaltsserie ist ja auch so ein typisch amerikanisches Phänomen. … Weiterlesen

von maxihardt erschienen in Blogseminar ein Blog von FAZ.NET.

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An der Oberfläche regiert der Glitzer, drunter lauern Probleme mit Liebe und Mutti: Die Serie “Suits” ist Anwaltsserie und Familiensaga in einem. Wie versucht sie, den Zuschauer zu fesseln?

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© AllstarNichtidentifikation ausgeschlossen: Die Anwaltskanzlei “Pearson Hardman”

Die Anwaltsserie ist ja auch so ein typisch amerikanisches Phänomen. Angefangen bei eher klassischen Varianten wie “Boston Legal” oder “Law and Order” in seinen diversen lokalen Versionen über “Damages” und “How to Get Away with Murder”, bei denen man mitunter gar nicht mehr so genau weiß, wer eigentlich Recht bricht und wer es verteidigt bis hin zu “The Good Wife”, wo persönliches und gerichtliches Drama praktisch ein und dasselbe sind, hat das amerikanische Fernsehen eine nicht enden wollende Armada an seriellen Anwaltsgeschichten im Angebot. “Suits” bringt das alles zusammen: Die Anwälte sind nicht ganz so dubios und skrupellos wie in “Damages”, Kinder und Küche nicht ganz so präsent wie in “The Good Wife”, sowohl moralisch Verwerfliches als auch Persönliches findet aber durchaus Platz, ebenso wie Referenzen zu zahlreichen anderen Serien und Filmen innerhalb und außerhalb der Anwaltswelt. “Suits” ist ein bisschen von allem.

Der anfängliche zentrale Konflikt trägt die Handlung durch die ersten Staffeln: Harvey Specter, bester „Closer“ der Kanzlei „Pearson Hardman“, wählt als seinen Associate Mike Ross aus, der zwar brillant ist und dank photographischem Gedächtnis mühelos Gesetzbücher (und Filme) herunterbeten kann, leider aber keinen Universitätsabschluss in Jura hat und somit eigentlich gar nicht als Anwalt praktizieren darf. Das tut er aber trotzdem, was die Entscheidungsträger der Firma in den Sog von Lügen und Versteckspielen hineinzieht, derer es bedarf, um Mikes Geheimnis zu wahren.

© USA Network, ScreenshotAls Repetitorium für Jura-Studenten ungeeignet: Jessica Pearson verteidigt Mike

Nebenbei werden zahlreiche komplizierte Fälle gelöst, meist geht es dabei mehr ums große Geld denn um Gerechtigkeit. Das Stichwort hier ist: nebenbei. Denn auch wenn “Suits” auf seiner glamourösen Oberfläche so tut, als sei es eine Anwaltsserie, ist das eigentlich nicht der Kern der Sache. Man kann völlig problemlos alle sechseinhalb verfügbaren Staffeln (fünf davon auf Netflix) schauen, ohne auch nur irgendetwas über das amerikanische Rechtssystem zu wissen oder etwas darüber zu lernen.

Ein Zuhause für die Verlorenen

Was an der Serie eigentlich so gut und verlockend ist, sind nicht die juristischen Fälle, sondern, erstens, die Figuren, die einem vorkommen wie bessere, erfolgreichere Versionen seiner selbst, mit mehr Geld und schöneren Wohnungen, aber essentiell denselben Problemen, mit denen sich Emporkömmlinge und solche, die es sein wollen, zwischen 20 und 35 nun mal rumschlagen: mit Bindungsangst und gescheiterten/unerwiderten/komplizierten Liebesgeschichten, mit problematischen Beziehungen zur Mutter und der alltäglichen Diskriminierung jener, die nicht weiß, männlich und heterosexuell sind. Und über alledem thront die Frage, was man denn nun eigentlich will vom Leben (außer Glitzer).

Die Serie hat zwar keine Antworten auf all diese Fragen, bietet aber so ziemlich jedem Zuschauer eine Figur mit Persönlichkeitskrise und daraus resultierendem Identifikationspotential:

Da ist Harvey Specter, geschäftlich ziemlich gut, Deals zu besiegeln, privat eher nicht. Mit seinen fortschreitenden Geheimratsecken und stillen Momenten, in denen er mit melancholischem Hundeblick alte Schallplatten hört, sieht er aus wie eine Verständnis-Werbe-Kampagne für beziehungsunfähige Männer – es fällt schwer, ihm böse zu sein.

© USA Network, ScreenshotBetreiben Filme-Raten als Ballsportart: Harvey (Gabriel Macht, links) und Mike (Patrick J. Adams)

Das ist Jessica Pearson. Sie will ziemlich viel: den Namen an der Tür der Kanzlei und den Ring am Finger. Eine Ehe ist schon gescheitert – kein Grund, die Erwartungen ans Leben runterzuschrauben. Ah, außerdem ist sie auch die einzige schwarze Frau an der Spitze einer Anwaltskanzlei im fiktionalen New York der Serie, was thematisiert und problematisiert, aber nicht breitgetreten wird – sehr erfrischend.

Da ist Louis Litt, der cholerische Unsympath, unter dem jeder als Praktikant irgendwann irgendwo schonmal gelitten hat. Dabei will er doch nur etwas Aufmerksamkeit und Zuneigung, und das bitte nicht nur von seinem Therapeuten.

Da ist Donna Paulsen, eine Art emanzipierte “Sex and the City”-Version. Genauso schön, klug und schlagfertig wie ihre vier High-Heel-Schwestern, aber durchaus in der Lage, “Suits” durch den Bechdel-Test zu bringen – auch wenn sie noch nicht so ganz rausgefunden hat, was genau das „Mehr“ ist, das sie vom Leben will.

© USA Network, ScreenshotBesteht den Bechdel-Test: Donna Paulsen (Sarah Rafferty)

Und für alle anderen gibt es Mike und Rachel: Ersterer ist zwar neben Harvey offiziell der Protagonist der Serie und letztere wird von der Freundin von Prinz Harry dargestellt, abgesehen davon sind sie aber wohl die langweiligsten der Hauptfiguren. Hier finden sich alle wieder, die auch erst kürzlich mit dem Liebsten darüber diskutiert haben, welches Bild mit in die gemeinsame Wohnung darf, deren wilde Zeit mit Drogen und Affären vorbei ist, nur noch ab und an nostalgisch erinnert wird. Ohne diese beiden soliden Figuren wäre die Anwaltskanzlei – die inzwischen „Pearson Specter Litt“ und bald wohl nur noch „Specter Litt“ heißt – aber auch nicht, was sie eigentlich ist, hinter dem Spiegelglas, wenn man den Blick von Manhattans Dächern weg nach innen richtet: Zuhause. Zuhause für die Verlorenen. Für Harvey, Donna, Louis. Und letztendlich auch für die Zuschauer, die sich hier in eine Utopie selbstgewählter Familie verlieren können, in der trotz aller Streitereien am Ende des Tages kein Stein auf dem anderen gelassen wird, wenn es einem der Familienmitglieder an den Kragen geht.

Ein Fest für Meta-Zuschauer

Simpel ist die Serie dabei keineswegs, im Gegenteil. Und das ist der Faktor der sie, zweitens, so sehenswert macht: Immer wieder kommentiert sie explizit und implizit andere Serien und Filme. Mike und Harvey passen sich quasi pausenlos Zitate zu wie einen der Star-signierten Basketbälle in Harveys Büro. Als Zuschauer fühlt man sich je nach Ausmaß des populärkulturellen Hintergrundwissens manchmal bis häufig wie Louis Litt, der versucht, mitzuspielen und es doch nicht so richtig schafft. Die Referenzen reichen von Film-Klassikern wie “Batman” (Harvey braucht Mike so wie Batman Robin), “Glengarry Glen Ross” („Coffee’s for Closers.“) und “James Bond” („Spectre. Harvey Spectre.“), die doch einiges über das Selbstverständnis der Protagonisten verraten, bis hin zum Fernsehserienkanon der letzten zwanzig Jahre: “Mad Men”, die “Sopranos”, “The Wire”, “Game of Thrones”. Hier werden nicht nur die Lannisters, Daenerys und „Winter is coming“ referenziert, sondern ganze Folgen an den HBO-Giganten angelehnt: In der aktuellen Staffel etwa bringt Louis einen imaginären Cersei-inspirierten Walk of Shame hinter sich – die Folge trägt dazu wenig subtil den Titel „Shame“.

© USA Network, ScreenshotAnspielung auf “Game of Thrones”: Louis (Rick Hoffman) ergeht sich in Schande

Ein Fest für alle, die sich im eng gewobenen Populärkulturnetz, in dem “Suits” sich gebettet hat, einigermaßen auskennen. Man munkelt, das eine oder andere Trinkspiel sei daraus bereits hervorgegangen. Wer die Vorlagen nicht kennt, kann an “Suits” trotzdem viel Freude haben und vielleicht die ein oder andere Inspiration für die Liste noch zu schauender Serien und Filme mitnehmen.

Ob mit oder ohne Trinkspiel: “Suits” ist auf der einen Seite Realitätsflucht in eine Glitzerwelt mit Luxus- Wohnungen, Autos und Uhren, die man sich niemals nie leisten könnte, andererseits aber auch nicht der schlechteste Ratgeber dafür, wie man berufliche Katastrophen, Demütigungen und Liebeskummer mit etwas Würde überleben kann. Und im Endeffekt machen die Figuren in “Suits” etwas sehr Ähnliches wie der Zuschauer: Sie wappnen sich mit Filmen und Serien für die Schlachten des Alltags – zumindest in ihrer Hochglanzwelt funktioniert das ziemlich gut.

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Serienversteher: “Breaking Bad” https://blogs.faz.net/blogseminar/serienversteher-breaking-bad/ https://blogs.faz.net/blogseminar/serienversteher-breaking-bad/#comments Sat, 16 Sep 2017 11:57:40 +0000 http://blogs.faz.net/blogseminar/?p=4211 Vor vier Jahren wankte der Chemiker Walter White zum letzten Mal durch ein Drogen-Labor. Vor allem eine Frage blieb dabei offen: Was sollten die doofen Nazis am Ende? Die Antwort liefert den Schlüssel zur Serie. Neunte Folge unserer Reihe Serienversteher. … Weiterlesen

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Vor vier Jahren wankte der Chemiker Walter White zum letzten Mal durch ein Drogen-Labor. Vor allem eine Frage blieb dabei offen: Was sollten die doofen Nazis am Ende? Die Antwort liefert den Schlüssel zur Serie. Neunte Folge unserer Reihe Serienversteher.

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Noch hat der arme Jesse gut lachen. Als ihn sein ehemaliger Lehrer Mr. White mal wieder anpöbelt, warum er denn nicht exakt seinen Anweisungen gefolgt sei, reckt Jesse in der dritten Fole spontan seinen Arm in die Luft und imitiert mit dem Zeigefinger ein Oberlippenbärtchen. „Wuow, Heil Hitler, Bitch!“, ruft er spöttisch aus. Spult man beim jeweiligen Streaming-Anbieter gute fünf Staffeln vorwärts, hat sich Jesse Pinkmans Lieblingsschimpfwort auf tragische Weise gegen ihn gerichtet: Eine “White Supremacist Gang”, echte Neonazis also, halten ihn als Sklaven in ihrem Keller gefangen. Soll das eine späte Rache der Serie an ihm sein, Botschaft: Mit den Nazis ist nicht zu spaßen?

Jack Welker und seine tätowierte Nazibande beenden die Serie “Breaking Bad”, dieses fünfbändige Filmexperiment, das von Kritikern und Fans immer mal wieder als beste Serie der Welt gehandelt wird. Heute, bald zehn Jahre nach der allerersten Folge, ist Mr. White ein Teil der Popkultur. Gleich mehrere Portale wie Netflix und Amazon Prime locken ihre Kunden weiterhin erfolgreich mit “Breaking Bad”, und der Hype bricht nicht ab: Das Spin-Off “Better Call Saul” wurde gerade für zehn Emmys nominiert. Manche behaupten sogar, Walter White hätte Chemie endlich zu einer Modewissenschaft gemacht.

Ein nicht unerheblicher Anteil der Fans aber kratzt sich unzufrieden am Hinterkopf, sobald er an die letzten Folgen der Serie denkt. Ganze Artikel setzen sich mit der Frage auseinander: „Breaking Bad: Wieso die Nazis nicht funktionierten“. Und es stimmt: Die Nazis in der Serie sind zwar ganz schön gemein, doch das wusste man schon vorher. Tiefgründige Charakterstudien erlauben diese Bösewichte nicht, und so dürfte man sich schnell darauf einigen, dass die Nazis in der Serie keine würdigen Nachfolger für den diabolischen Hühnchen-Verkäufer Gus Fring darstellten. Ein erzählerischer Fehlgriff also?

Nicht unbedingt. Schaut man die Serie mit etwas Abstand von neuem an, dann springen nicht nur die zahlreichen Verweise auf Nazis und Deutschland unmittelbar ins Auge, es entsteht auch ein Sog, sie in eine Beziehung zu setzen.

Überall Nazis

Es mag sich weithergeholt anhören, aber die Serie lässt von Anfang an keine Chance verstreichen, Deutschland in die Handlung hineinzuziehen. Eine erste, aber wichtige Fährte legt ein vermeintlich formales Detail: Neben Walter White und seinem Alter Ego „Heisenberg“ treten immer krudere Figurennamen in die kleinen Vorstadt ein, zum Beispiel der glatzköpfige Auftragskiller Mike Ehrmanntraut, der laut Polizeiakte korrekt “Michael” heißt und ein bestimmtes negatives Deutschlandbild verkörpert: Er ist eiskalt und unmoralisch, der treue Gefolgsmann von Gustavo – und gleichzeitig liebt er seine Enkelin über alles, für die er das verdiente Geld von den Drogengeschäften beiseitelegt. Der Soziologe Georg Simmel nannte das einmal die „Dialektik des deutschen Geistes“: treu, effektiv und skrupellos.

Dann wären da noch Hank und Marie Schrader, Gale Bötticher und Daniel Wachsberger, ein geschniegelter Anwalt, der Gus Frings Nachlass verwaltet. Besonders hervorstechend aber sind das Ehepaar Elliott und Gretchen Schwartz. Mit ihnen zusammen gründet Walter White die Firma Gray Matter, die er aufgrund einer verzwickten Dreiecksbeziehung frühzeitig verlässt. “Breaking Bad” spielt gezielt mit den Namen seiner Figuren, die in geradezu Thomas Mann’scher Manier andeutungsvoll auf bestimmte Charaktereigenschaften hinweisen. Kein Witz: Im Januar 2017 hat einer der Drehbuchautoren zugegeben, dass der Name Gustavo Fring vom deutschen Fußballnationalspieler Torsten Frings entlehnt wurde.

Unübersehbar wird die Deutschlandmanie der Autoren zu Beginn der fünften Staffel. Auf irritierende Weise ist zu Beginn der Folge “Madrigal” plötzlich eine deutschsprachige Männerstimme zu vernehmen, auch im englischen Original. Zuschauer aller Länder blicken nun via “Breaking Bad” in einen Laborraum in Hannover. Ja, Hannover, die eigentlich unaufgeregteste Landeshauptstadt der Welt, nun als Gangsterhauptstadt in “Breaking Bad”. Hier in Niedersachsen sitzt die Autofirma “Madrigal Elektromotoren GmbH”, offenbar eine wirtschaftliche Supermacht, und eine Reihe ängstlicher Wissenschaftler steht in Reih und Glied vor einem Mann namens „Herr Schuler“.

© Screenshot AMCHallo, Deutschland: “Breaking Bad” in Hannover (Episode 2×5: Madrigal)

Die ganze Szene ist die Übertreibung eines Stereotyps: Zitternde Untertanen blicken gespannt auf ihren “Führer”, der wenige Minuten später auf der Toilette einen klinisch sauberen Selbstmord aufs Parkett legt. Das hätte Bernd Eichinger nicht klischeebeladener inszenieren können. Als dann auch noch die Neonazi-Gang um Jack Welker auftaucht und indirekt auch mit “Madrigal Elektromotoren” zusammenarbeitet, werden zwei Dinge klar: das Deutschland in “Breaking Bad” ist emotionskalt und autoritär, faschistoid. Und noch dazu ist Deutschland das Schlimmste, was die pseudo-realistische Welt von “Breaking Bad” zu bieten hat.

Deutschland kann dabei jedoch kaum als topographischer Ort ernstgenommen werden, es ist vielmehr  eine Art universales Prinzip – eine Triebkraft im Menschen, die mit dem Bösen in Verbindung steht, und oft auch eine Vorlage für Absurditäten aller Art. So etwa, wenn Badger und Skinny Pete, zwei Kumpels von Jesse, bei einem Zockerabend langatmig erklären, weshalb “Nazi Stormtrooper Zombies” schlimmer seien als gewöhnliche Nazis: „Sie brauchen dein Fleisch nicht wegen der Proteine, sondern sie fressen dich, weil sie Amerika hassen!“ Ach so. Und dann ist da noch Gale Bötticher, der esoterisch angehauchte frühere Partner von Walt, der in einem etwas verstörenden Video den Song “Major Tom” nachtanzt. Aber nicht etwa “Space Oddity” von David Bowie, er singt den Neue-Deutsche-Welle-Schlager von Peter Schilling.

Musikalisch begabt ist übrigens auch Jesse, der in seiner Jugend in einer Band mit dem klangvollen Namen “TwaüghtHammër” spielte. Aus dem Song “Fallacies” – übersetzt: „Fehlschlüsse“ – dudeln die Protagonisten in langweiligen Momenten unter anderem diese Zeile vor sich hin: “Oh, how do I escape you, little Führer of my heart?” Die Liste mit kleinen Anspielungen ließe sich munter fortsetzen. Die weitaus wichtigere Frage aber ist: Wozu das Ganze?

Das Prinzip der Serie

Vor allem die Szenen in Hannover zeigen: Das Deutsche in “Breaking Bad” scheint die Serienmacher auch als ästhetisches Prinzip zu interessieren. Und tatsächlich legt Showrunner Vince Gilligan hier eine gewisse Obsession an den Tag: Schon als Drehbuchautor von Akte X betitelte er eine Folge mit dem fremdsprachigen Titel “Unruhe” und ließ Scully einige Sätze auf Deutsch plaudern. Ein anderer Autor, George Mastras, arbeitete vor “Breaking Bad” an der Science-Fiction-Serie “The Dresden Files”.

Jetzt also “Breaking Bad”. Das Hauptthema der Serie wird schnell deutlich: Über dem kränklichen Walter White braut sich eine Wolke von Autorität und Macht zusammen, bis er nicht nur immer böser wird, wie es der Serientitel schon nahelegt, sondern zugleich auch immer deutscher. Dem Flirt mit dem Faschismus verfallen aber nicht nur die Bösewichte. Nahezu jede Figur unteriegt im Laufe der Serie einer Attraktivität des Bösen, ganz so, als ob ein unterdrückter Trieb, vielleicht eine chemische Notwendigkeit, sie dazu zwingen würde.

Gibt es eine Wechselwirkung von Chemie und Verbrechen? Das Moment der Chemie stellt den zweiten Grundpfeiler der Serie, wie sich in der knackigen Titelsequenz sehen lässt, und es ist zugleich leitend für das Erzählprinzip der Serie insgesamt. Das chemische Prinzip ist schnell erklärt, denn der ehemalige Lehrer Mr. White stellt es in der allerersten Folge seinen Schülern selbst vor. „Nun, technisch gesehen ist Chemie die Erforschung von Substanzen. Aber ich betrachte sie eher als die Studie der Veränderung“. Natürlich redet Mr. White an dieser Stelle bereits über etwas ganz anderes: „Das ist doch das ganze Leben, oder nicht? […] Es ist der dauerhafte Kreislauf. Es ist Lösung und Auflösung, immer und immer wieder. Es ist Wachstum, dann Verfall, dann Transformation.“

Wachstum, Zerfall, Transformation: Das ist zugleich die erzählerische Formel von “Breaking Bad”. Erst wächst der Drogenhandel, dann muss der ein oder andere Business-Partner beseitigt werden. Anschließend geht das Spiel wieder von vorne los, allerdings in weiterer Verzweigung: Gustavo wird auf das blaue Meth aufmerksam, Walt exportiert den Stoff mithilfe von “Madrigal” bis nach Europa und so immer weiter. Kurzgefasst: Mit jedem Zerfall wird die Ausgangssituation um einen Härtegrad komplexer, bis schließlich die höchste Ebene des Verbrechens erreicht ist: Hannover.

Das Deutsche in uns

Was treibt die Figuren dazu, die Grenze der Moral zu überschreiten und auf häufig irrationale Weise kriminell zu werden? Auf den ersten Blick könnte man meinen, es sei die Gesellschaft, die den krebskranken Walter White zum Drogenhandel zwingt und ihre Individuen systematisch diabolisiert. Doch diese Lesart von “Breaking Bad” ist nicht haltbar. „Ich tat es, weil ich es mochte“, gesteht Walter in der letzten Folge seiner Frau Skyler, und wenn man genau hinschaut, entdeckt man an ein leises Lächeln auf Walts Gesicht nach jeder Gaunerei, auch wenn es manchmal nur ganz vage angedeutet ist. Er tut das Böse aus freien Stücken. Es steckt in seiner Chemie.

Die Serie “Breaking Bad” inszeniert eine These: Es geht in der Serie um eine chemische Lust am Verbrechen, die in der Natur des Menschen angelegt sein soll. Hier kommt auch die Funktion der Nazis ins Spiel: Sie legen nicht nur eine Fährte aus, die zur Grundfrage der Serie führt, sondern sie liefern auch ein historisches Beispiel dafür, wie sich dieser natürliche Trieb nach dem Amoralischen ungefiltert ausleben kann. Indem Walter White die Neonazis in einem unwahrscheinlichen Plot-Twist noch an Bosheit übertrifft, zeigt er: Sein Trieb zum Bösen hat sich bis zum Maximum ausgelebt und so kann er abtreten. Fatalerweise wieder mit einem zufriedenen Lächeln.

© Screenshot AMCScheint die Gefahr zu genießen: Walter White in Episode 6×5.

In amerikanischen Zeitschriften wurde der Serie wiederholt ein heimlicher Rassismus vorgeworfen. Und tief in der Erzählformel, in dieser Vernetzung von (Bio-)Chemie und Handlungsmotivation, schlummert tatsächlich eine problematische Note: eine Sichtweise, die Handlungen von Menschen nach ihren naturgegebenen Anlagen beurteilt. Trotzdem kann im Fall von “Breaking Bad” keineswegs ein unterschwelliger Rassismus konstatiert werden, welcher den Zuschauern didaktisch aufgezwungen wird: Die Chemie des Verbrechens wird vielmehr experimentell erforscht und immer wieder als zutiefst amoralisch denunziert.

“Breaking Bad” ist damit die Studie einer These, ein fünfbändiger Experimentalroman. Man sollte seine Ergebnisse nicht unreflektiert übernehmen. Doch in einer sechzigstündigen Re-Lektüre von “Breaking Bad” darf man zumindest einmal angeregt über die Attraktivität von Macht nachdenken.

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Alle Folgen unserer Reihe Serienversteher

von raphaelstuebe erschienen in Blogseminar ein Blog von FAZ.NET.

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Geht das Serienwunder in die “Tatort”-Falle? https://blogs.faz.net/blogseminar/geht-das-serienwunder-in-die-tatort-falle/ https://blogs.faz.net/blogseminar/geht-das-serienwunder-in-die-tatort-falle/#comments Sat, 12 Aug 2017 08:36:13 +0000 http://blogs.faz.net/blogseminar/?p=3709 Amerikanische Fernsehserien sind besser als deutsche. Doch in der Schwemme von Neuproduktionen muss man inzwischen feststellen: da nutzt sich gerade ein Erfolgsrezept ab. Die Zutaten werden immer offensichtlicher. Achte Folge unserer Reihe “Serienversteher”. *** Die neuesten Folgen von “Game of … Weiterlesen

von Uwe Ebbinghaus erschienen in Blogseminar ein Blog von FAZ.NET.

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Amerikanische Fernsehserien sind besser als deutsche. Doch in der Schwemme von Neuproduktionen muss man inzwischen feststellen: da nutzt sich gerade ein Erfolgsrezept ab. Die Zutaten werden immer offensichtlicher. Achte Folge unserer Reihe “Serienversteher”.

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© HBOStatisch: die siebte Staffel der Thronkämpfe

Die neuesten Folgen von “Game of Thrones” waren bisher enttäuschend. Es wurde ungeheuer viel im Stehen verhandelt, zur Abwechslung gab es pro Folge ungefähr zwei Psychoduelle und eine blutige Schlacht. Dachte man nach der sechsten Staffel, die von den Drehbuchautoren ohne Hilfe der Buchvorlage von George R. R. Martin entworfen worden war, es müsse mit den überraschenden Ideen immer so weiter gehen, stellte sich jetzt erstmals Ernüchterung ein.

Diese ließ auch bei der – einerseits zurecht gelobten – Netflix-Serie “Ozark” nicht lange auf sich warten, in der ein Finanzberater nach einem fatalen Fehler seines Geschäftspartners als Geldwäscher ums Überleben kämpfen muss. Die Serie wird durch hervorragende Schauspieler getragen, allein Peter Mullan als latent bedrohlicher Mohn-Gärtner Jacob Snell (der Name erinnert lautlich an den Bösewicht Szell aus dem “Marathon-Mann”) lohnt das Einschalten, doch mit fortschreitender Folgenzahl stellen sich immer mehr Déjà-vu-Erlebnisse ein, die irgendwann das Gefühl aufkommen lassen, die Zeit könne einem phantasievoller gestohlen werden. Schon bald meint man, eine Masche zu erkennen, wobei das Bedürfnis, diese zu entflechten, noch dadurch verstärkt wird, dass der Hauptdarsteller und Teil-Regisseur Jason Bateman in einem Interview sagte, der “Showrunner”, also der ausführende Produzent, habe sich bei “Ozark” “einen Haufen offener Fragen” gewünscht, die erst in der achten Folge aufgelöst werden sollten, kurz vor dem Finale. Will man als Zuschauer tatsächlich derart durchschaubar bei Laune gehalten werden?

Läuft das amerikanische Serienwunder, das seit fast zwanzig Jahren – seit den “Sopranos” könnte man sagen – die Fernsehlandschaft vor sich hertreibt, jetzt in die “Tatort”-Falle? Etabliert sich wegen des von Netflix, Amazon, HBO und Co. entstandenen Überangebots allmählich eine routinierte Regionalisierung, ein Wiederaufnahme-Programm für Abo-Kunden? Im folgenden soll, ausgehend von Motiven der Serie “Ozark”, eine Art ungeschriebenes Erfolgsrezept amerikanischer Fernsehserien rekonstruiert werden, das in Zukunft gerne wieder sparsamer eingesetzt werden könnte.

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Das Setting: abgelegene Gegend – Wasser

© Screenshot NetflixSchlechte Aussichten für Marty Byrde

Es ist eine Schlüsselszene in der ersten Folge von “Ozark”: Marty Byrde (Jason Bateman), gezwungen, an dem abgelegenen “Lake of the Ozarks” in Missouri Drogen-Geld zu waschen, sieht am Schluss der Folge, wohin es ihn räumlich verschlagen hat: Wald und Wasser, so weit das Auge reicht. Seine Familie tritt hinzu, der kleine Sohn macht gute Miene zum bösen Spiel, die Teenager-Tochter kann es kaum fassen, die Frau schaut ungläubig – und die Kameraeinstellung wird immer totaler, bis man die Byrdes vor lauter Bäumen nicht mehr sieht.

Filmische Stimmungsbilder mit viel Wasser, bei denen der Mensch wie in einem Gemälde von Caspar David Friedrich verschwindet, sind nicht neu, seit “The Night of the Hunter” und Coppolas “Pate II”, der am Lake Tahoe beginnt, kennen wir sie. Und “Ozark” macht zudem auch keinen Hehl daraus, sich stilistisch eng an Jane Campions Miniserie “Top of the Lake” anzulehnen. Doch wir kennen das Motiv wässriger Verlorenheit eben auch noch aus der auf Long Island spielenden Serie “The Affair”, und da der Zuschauer mit skurriler Abgelegenheit auch in “I love Dick” (spielt in Marfa, Texas), “Better Call Saul” und “Breaking Bad” (beide Alberquerque, New Mexico), “True Detective”(Louisiana) oder in “Lillehammer” konfrontiert wird, kommt man um den Vergleich mit dem Regionalisierungs-Prinzip des “Tatorts” kaum umhin. Wobei die allergrößte Drehbuchautoren-Idylle wohl eine gesetzlose, korrupte Küstengegend ist, in der wirklich fast alles passieren kann. Küstenlängen sind im Fernsehen sozusagen unendlich, denn man kann einen immer kleiner werdenden Maßstab anwenden.

 

Das überdimensionierte Haus

© Screenshot AmazonHart umkämpft: Das Haus der Pfeffermans in der Amazon-Serie “Transparent”

Da die großen Schwarzgeldvorräte der Byrdes in “Ozark” hauptsächlich zum Gewaschenwerden bestimmt sind, bleibt für das künftige Domizil der Familie nur ein Mini-Budget übrig. Wie aber soll man große Geschäfte in kleiner Bleibe machen? Das Drehbuch greift zu einem Trick: Im Angebot des örtlichen Immobilienmaklers befindet sich überraschenderweise auch ein riesiges Architektenhaus mit großen Glasflächen, das für kleines Geld zu haben ist – unter der Bedingung allerdings, dass der schwerkranke Besitzer im Keller wohnen bleiben und gelegentlich mit seiner Sauerstoffflasche durchs Haus schlurfen darf.

Der Zuschauer liebt spektakuläre Häuser, das scheint für Serien-Produzenten festzustehen. Allmählich könnte sich der Zuschauer aber auch übertölpelt fühlen, blieb doch zum Beispiel in der Amazon-Serie “Transparent” völlig unklar, wie sich der frühere Politologie-Professor Mort Pfefferman jemals dieses unbeschreiblich schöne Haus in Südkalifornien hat leisten können. Und dass der Lehrer Noah Solloway in “The Affair” mit seiner Familie bei dem stinkreichen Schwiegervater auf Long Island unterschlüpfen kann,  ist wohl auch nur unter Schöner-Wohnen-schöner-Fernsehen-Aspekten ein überzeugendes Setting. Der Zuschauer jedenfalls muss beim Anschauen all dieser Schauplätze allmählich den Eindruck gewinnen, dass er ohne Privatstrand oder eigenen Pool überhaupt kein ernstzunehmender Zeitgenosse ist. Kurz: In amerikanischen Drama-Serien hat sich eine Tendenz zur Pilcherisierung breit gemacht.

Wobei große Häuser am Wasser dramaturgisch gesehen vor allem deshalb so beliebt sind, weil sie ausreichend Angriffsfläche bieten. Familien, die in überdimensionierten Häusern leben, sitzen jederzeit auf dem Präsentierteller. Auch in dieser Hinsicht waren der zweite Teil des “Paten” und “Die Sopranos” Trendsetter.

 

Die Familie in die Legalität überführen

© dpaAus einem Hauptmotiv der “Pate”-Trilogie machten die “Sopranos” eine Serie mit sechs Staffeln

Und noch ein weiteres Motiv hat “Ozark” von den beiden Mafia-Epen übernommen: das immer wieder scheiternde Bestreben der Hauptfigur, sich selbst und die eigene Familie mit dem nächsten großen Coup auf den Boden der Legalität zurückzuführen.

Zugegeben, dieses Motiv, das auch bei “Better Call Saul” oder “How to Get Away with Murder” erkennbar wird, ist wirklich verführerisch, allein, weil es sich aus einem Mafia-Kontext heraus vielfach variiert zu einer modernen Grunderfahrung gemausert hat. Wer kennt nicht das Gefühl, schuldlos schuldig geworden zu sein, und sei es nur, weil man irgendwann einmal den ersten Schritt in Richtung eines mit persönlicher Freiheit erkauften Wohlstands getan hat? Dahinter verbirgt sich auch ein altes Tragödien-Motiv, wobei das göttliche fatum, das im antiken Drama das Schicksal der Helden bestimmt, im amerikanischen Serienfernsehen durch ökonomische Zwänge ersetzt wird, die beim organisierten Verbrechen besonders unausweichlich sind. Doch so schön das Legalisierungs-Motiv auch ist – als Zuschauer hat man für die nächste Zeit erst einmal genug davon.

 

Der Schelm

© dpaDeutet virtuos das Geschehen in der Glaskugel: Bob Odenkirk als Rechtsanwalt James “Jimmy” McGill in “Better Call Saul”

In den meisten neuen amerikanischen Serien, gerade auch in denen mit hohem Zombie-Anteil, herrscht gesellschaftlich gesehen vorwiegend Ordnungslosigkeit. Die Hauptfiguren, zu denen auch Juraprofessorinnen (“How to Get Away with Murder”) und Anwälte (“Better Call Saul”) gehören, können eigentlich nur überleben, wenn sie die Grenzen von Gut und Böse zumindest zeitweilig überschreiten. Als Sympathieträger kommen sie dann eigentlich nur noch in Frage, wenn sie so wie James McGill (“Saul”) eine Mischung aus Schelm und Frontier darstellen, einen rhetorisch begabten Trickser, der ein A vormacht, um ein O zu erreichen.

Auch “Dexter” gehört in diese Riege ebenso wie der Zwerg Tyrion Lannister aus “Game of Thrones”, der mit seinem Sprachwitz zugleich an die Narrenfiguren bei Shakespeare erinnert. Und abermals hinkt Marty Byrde, der es versteht, in Notsituationen überzeugend loszuplappern, seinen Vorgängern hinterher.

 

Der Zufall

© dpaDer Teufel ist ein Eichörnchen: Michael C. Hall als Forensiker Dexter Morgan

Nichts spielt dem Schelm so sehr in die Karten wie der Zufall. Er ist sein Lebenselixier. Wenn die Welt aus den Fugen geraten ist und die Willkür regiert, kommt der am weitesten, der am besten improvisieren kann – und das meiste Glück hat. In “Dexter” ist der fast lachhafte Dusel, der dem serienmordenden Titelhelden in brenzligen Situationen zuverlässig zuhilfe kommt, oberstes Gestaltungsprinzip, aber auch in “Ozark” spielt er eine wichtige Rolle, wobei die immer absurder werdenden Versprechen, die Marty Byrde dem Drogenkartell geben muss, tatsächlich einen eigenen Humor verraten.

 

Spiel mit dem Zuschauer: Vorenthalten von Informationen

© dpa“Rashomon” auf Long Island: Ruth Wilson und Dominic West in “The Affair” – auch hier kommen nach sechs Folgen an der Küste Drogen ins Spiel

Das notorischste Prinzip in den meisten neuen amerikanischen Serien aber ist das des nicht-linearen Erzählens, das inzwischen ebenso durchschaubar und routiniert erscheint wie das lineare Erzählen beim öffentlich-rechtlichen “Tatort”. Was in der grandiosen BBC-Serie “The Singing Detective” 1986 noch echten Kunstsinn verriet, das Spiel mit vorenthaltenen Informationen und wechselnden Perspektiven, welches sich der Tatsache verdankte, dass die Hauptfigur selbst ihre Vergangenheit rekonstruieren musste, ist inzwischen in vielen Serien zum künstlichen Versteckspiel verkommen.

Das Vorgehen ist immer das gleiche: “Ein Haufen offener Fragen” wird in den Raum gestellt, dem Zuschauer wird der Eindruck vermittelt, er könne sie aus recht mutwillig hingeworfenen Fragmenten allmählich selbst beantworten, was aber meist nicht möglich ist, da die große Auflösung dem Finale vorbehalten bleiben soll, das wiederum von Staffel zu Staffel so lange hinausgezögert wird, wie die Zuschauer bereit sind, bei der Stange zu bleiben.

Kunstvoll oder gar ein Äquivalent zum multiperspektivischen Roman ist diese Form des Serienfernsehens kaum noch. Es fehlt ihr an so etwas wie poetischem Wahrheitssinn, wonach die gezeigten Teile den Schlüssel zum Ganzen in sich tragen. Neues amerikanisches Serienfernsehen ist meist vor allem Spannungsmache, wobei das klassische “Whodunit” durch die Frage “Wann schnappt man ihn/sie?” abgelöst wurde. Ersetzen kann es über weite Strecken allenfalls noch den Unterhaltungsroman.

© dpaIn der charmantesten Anwaltskanzlei der Fernsehgeschichte: Bob Odenkirk als Titelheld in “Better Call Saul”

Diese Entwicklung ist bedauerlich, zumal es Serien wie “Better Call Saul” oder “The Affair” auch in jüngerer Zeit immer wieder gelingt, poetische Momente und symbolische Details in die Handlung einzuführen, Momente, in denen einem plötzlich etwas über das Leben und die Menschen klar wird, was man vorher noch nicht wusste.

Mit Variationen des gerade dargestellten Erfolgsrezepts hingegen, das scheint gewiss, wird das amerikanische Serienfernsehen seinen Innovations-Nimbus verlieren. Neue Ideen und Dramaturgien sind jetzt gefragt, und man wird sehen, ob die vielen schnell gewachsenen amerikanischen Serien-Schmieden sie hervorbringen können. Wahrscheinlich wird beim Zuschauer am Ende die Einsicht stehen, dass sich Qualität auch im Fernsehen nicht beliebig vermehren lässt.

 

Alle Folgen unserer Reihe “Serienversteher”

von Uwe Ebbinghaus erschienen in Blogseminar ein Blog von FAZ.NET.

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https://blogs.faz.net/blogseminar/geht-das-serienwunder-in-die-tatort-falle/feed/ 34
Serienversteher: “Vikings” https://blogs.faz.net/blogseminar/serienversteher-vikings/ https://blogs.faz.net/blogseminar/serienversteher-vikings/#comments Thu, 30 Mar 2017 13:50:22 +0000 http://blogs.faz.net/blogseminar/?p=2480 Kann es sein, dass die Mittelalter-Serie “Vikings” besser ist als “Game of Thrones”? Es fließt zwar noch mehr Blut, aber die Dramaturgie ist raffinierter und die Ausgangsfrage radikaler: Wer bestimmt unser Schicksal? *** Fernsehserien sind die neuen Fortsetzungsromane, diese These … Weiterlesen

von Uwe Ebbinghaus erschienen in Blogseminar ein Blog von FAZ.NET.

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Kann es sein, dass die Mittelalter-Serie “Vikings” besser ist als “Game of Thrones”? Es fließt zwar noch mehr Blut, aber die Dramaturgie ist raffinierter und die Ausgangsfrage radikaler: Wer bestimmt unser Schicksal?

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© HistoryGlaubt er an alle Götter, an keinen Gott – oder an den, der ihm die größte Freiheit gewährt? Ragnar Lodbrok (Travis Fimmel) aus der Serie “Vikings”

Fernsehserien sind die neuen Fortsetzungsromane, diese These hat sich längst herumgesprochen und erstaunt niemanden mehr. Nicht restlos geklärt aber ist bislang, warum sich bestimmte Stilformen und Themen in den letzten Jahren besonders durchgesetzt haben. Warum zum Beispiel spielen Zombies eine derart große Rolle in den neuen Produktionen – spiegelt sich darin eine diffuse Angst des Wohlstandsbürgers vor verborgenen Gefahren wider, die nicht tot zu kriegen sind, die Angst vor dem Fremden im Vertrauten?

Das vielleicht beliebteste Thema in den Serien der letzten Jahre aber ist ein anderes: die Macht. Was ja eigentlich sonderbar ist, denn von den Millionen Zuschauern, die Serien wie “House of Cards” (2013ff.) oder “Game of Thrones” (2011ff.) auf allen möglichen Kanälen und Medien anschauen, kennen sich wohl nur die wenigsten wirklich aus mit ihr und ihren Mechanismen. Haben wir es im Falle der “Macht”-Serien, zu denen auch “Die Borgias” (2011-2013), “Die Tudors” (2007-2010) und “Marco Polo” (2014 bis 2016) zählen, also mit einer Form von Kompensations- oder Erleichterungs-Fernsehen zu tun? Demnach wäre der Otto-Normal-Machtlose fasziniert von der Gegenseite seines Alltags; er durchlebt die Höhen und Tiefen der Mächtigen, obwohl sie mit ihm auch nicht das Geringste zu tun haben, und kann sich, da Macht meistens böse endet, nach einem mehrstündigen Fernsehabend mit dem guten Gewissen ins Bett legen, dass er zwar nichts aus sich gemacht, aber wenigstens mit all den Intrigen nichts zu tun hat. Findet der Zuschauer “Macht”-Filme so gut, weil er selbst so machtlos ist?

© Allstar Picture Library/NetflixDer wohl großzügigste Thron in der Geschichte des Serien-Fernsehens: Benedict Wong als Kublai Khan in der Netflix-Serie “Marco Polo”, die, wie man hört, wegen zu hoher Produktionskosten eingestellt wurde

Dramaturgisch gesehen sind Serien, in denen es um den Erhalt von Macht geht, insofern eine überschaubare Angelegenheit, als sie im Grunde vor allem aus zwei Quellen schöpfen: Shakespeare, wenn es um die einzelne Herrscherfigur geht, die allmählich dem Wahnsinn anheimfällt, und Puzo/Coppolas “Der Pate” mit seinen Hauptthemen “Familie”, “Erbfolge”, “Loyalität” und “Dialektik des Aufstiegs”, dessen Kehrseite in der Unmöglichkeit des Ausstiegs besteht. In Coppolas Mafia-Epos sind schon die meisten Motive des “Macht”-Serienfernsehens vorgeprägt, die sich in Spielarten von Sex, Verrat, Lüge und Vernichtung darstellen – wobei sich all diese Motive natürlich hervorragend für Fortsetzungsgeschichten eignen. Denn dank ihrer weiß man nie, was als nächstes passiert und welcher neue Kontrahent Bewegung ins Spiel bringt.

Der Wille zur Expansion

Diese Unberechenbarkeit hat vor allem die HBO-Serie “Game of Thrones” auf die Spitze getrieben und sie elegant mit elisabethanischer Rhetorik verwoben. Andererseits: Warum die hier letztlich vorherrschende Fantasy bemühen, wenn die Weltgeschichte noch so viele unglaubliche Stoffe und historische Schreckgespenster zur detaillierten Ausgestaltung bereithält? Die Mongolen in Peking zum Beispiel oder eben die Wikinger in Paris, beide angeführt von Machtmenschen, die voll ins “Pate”-Schema passen: Kublai Khan (“Marco Polo”) und Ragnar Lodbrok (“Vikings”, “The Last Kingdom”), der allerdings eher ein Sagenheld ist. Beide Machtmenschen eint dabei der Wille zur Expansion und die Herausforderung, widerstreitende Interessen und Reiche gegen die Kräfte der Beharrung zu vereinigen. Während in der Realität Unionen zu zerfallen drohen, reüssiert im Fernsehen das – allerdings blutige – Gegenprogramm.

© Screenshot HistoryDieser Thron aus der letzten Staffel von “Vikings”, auf dem sich die Schildmaid Lagertha (Katheryn Winnick) niedergelassen hat, ähnelt dann doch sehr dem Eisernen Thron aus “Game of Thrones”

Die vielen Parallelen zwischen der kanadisch-irischen Serie “Vikings” (2013ff.) und “Marco Polo” sind dabei umso erstaunlicher, als beide Produktionen größtenteils zu gleicher Zeit geplant und gedreht wurden. Kurios, dass in beiden Serien kulturvermittelnde Figuren – Marco Polo im Reich des Kublai Khan, der Mönch Athelstan bei den Wikingern – eine herausragende Rolle spielen. Außerdem ist der Zuschauer in beiden Serien, stärker als das im Fernsehen normalerweise der Fall ist, gezwungen, sich mit allerlei Kriegsgerät und Belagerungsstrategien auseinanderzusetzen, was ihm allerdings durch eine liebevolle, manchmal geradezu verschwenderische Ausstattung erleichtert wird.

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Was aber macht die Serie “Vikings”, in der es grob gesagt um den Aufstieg des nordmännischen Bauern Ragnar Lodbrok zum skandinavischen König und Entdecker der westlichen Welt geht, jenseits all dieser Parallelen aus, worin ist diese Serie wirklich unvergleichlich?

Zunächst wirken die vier Staffeln “Vikings”, die derzeit etwa bei Amazon Prime zu sehen sind, in vielem schwächer als die Mittelalter-Referenzserie “Game of Thrones”. Das Schauspieler-Ensemble besteht aus einer kruden Mischung von unterschiedlich begabten früheren Models, Muskelprotzen und einigen wenigen Shakespeare- und Hollywood-Darstellern. Außerdem gibt es weit weniger ausgefeilte Rhetorik als bei den Thron-Spielern und – trotz der unter Wikingern angeblich üblichen freien Liebe – vor allem in der ersten Staffel nur auffällig prüde Sex-Szenen.

Das Betreten einer neuen Welt

Auf anderem Gebiet aber sind die “Vikings” ungewöhnlich radikal: Der ungehemmte Schwertkampf ist das gängigste Ausdrucksmittel ihrer Hauptcharaktere, der blutbespritzte Kriegerkopf das allgegenwärtige Emblem der Serie – dagegen ist selbst “Dexter” (2006 bis 2013) harmlos. Dahinter freilich scheint ein Kalkül zu stecken, das über plumpe Spannungsmache hinausreicht. Denn zum einen ist das stumme Erdulden von Qualen bei den Wikingern Voraussetzung für die Aufnahme in das göttliche Walhalla – und altnordische Religion, zu der etwa auch das Menschenopfer gehört, nimmt die Serie wirklich ernst -, zum anderen soll der Zuschauer hier wohl in einer Art Schocktherapie mit dem Archaischen schlechthin konfrontiert werden. Wobei die Vergangenheit bewusst als eine Erfahrung dargestellt wird, die nicht ohne weiteres aktualisiert werden kann oder soll. Die Vergangenheit soll befremdlich bleiben.

© Screenshot HistoryRagnars Bruder Rollo (Clive Standen) kämpft meist mit freiem Oberkörper und lässt somit besonders viel Blut auf seiner Haut gerinnen.

So bleibt es für den Zuschauer dauerhaft schockierend, mit welcher Selbstverständlichkeit und in welcher Breite die Wikinger immer wieder die Macht an sich reißen, indem sie andere kaltblütig abmurksen. Andererseits folgt dieses Vorgehen einer archaischen Logik, die durch eine Verengung der Perspektive zumindest plausibel gemacht werden soll. Wie, fragt der Film, wird ein Haufen bewaffneter Männer und Frauen, die noch kein Verständnis von der Gestalt der Welt haben, die keine Landkarten und kaum Gesetze kennen, wohl vorgehen, wenn sie die Küste eines ihnen unbekannten Landes betreten – und auf Gegner stoßen? In der Ausgestaltung dieser Konstellation verbinden sich dramaturgisch eine frühe Form des Abenteuer-Tourismus’ mit einer Situation, die vielen Video-Spielern bestens vertraut ist, wenn sie wieder einmal eine neue virtuelle Welt betreten.

Das Drehbuch Michael Hirsts, der auch die beiden “Elizabeth”-Filme mit Cate Blanchett sowie “Die Tudors” und “Die Borgias” geschrieben hat, ist nicht zu unterschätzen. Es hält den Geist wach. Hirsts Strategie besteht dabei im Grunde darin, eine vom Zuschauer erwartete Psychologie gegen die Schicksalsgläubigkeit der Wikinger auszuspielen. Und denen geht es im Grunde nur um die konsequente Durchsetzung eines göttlichen Willens, was den Darstellern der Wikinger außer Entschlossenheit über weite Strecken nicht allzu große Ausdruckskunst abverlangt – dies vielleicht auch zur Rechtfertigung des Castings.

© Screenshot HistoryDer blinde Seher (John Kavanagh) entwirft die Zukunft.

Als eine Art übergeordneter auktorialer Erzähler fungiert ein von allen nur “Seher” genannter Schamane, dessen Prophezeiungen sich oft nur deshalb erfüllen, weil die Figuren so inbrünstig an sie glauben. Weissagt der Seher etwa Ragnars erster Frau, Lagertha, dass sie kein Kind mehr bekommen werde, sieht sie, unerwartet schwanger geworden, während eines Kriegszuges keinen Grund mehr, sich und ihr Ungeborenes zu schonen – und verliert ihr Kind nicht zuletzt auch aus diesem Grund. Und vielleicht wäre Rollo (Clive Standen) erst gar nicht auf die Idee gekommen, seinen Bruder Ragnar bei den Franken zu verraten, wenn der Seher ihm nicht zuvor eine glänzende Zukunft vorausgesagt hätte.

Die wahre Macht

Und dann gibt es da noch die Figur des Ragnar selbst, bei der unklar bleibt, ob sie noch an die alten Götter glaubt. Der spätere Wikinger-König lässt sich aus taktischen Gründen nicht nur taufen, sondern führt auch recht anspruchsvolle religiöse Diskurse mit dem englischen König Egbert. Bei alldem gewinnt man den Eindruck, dass seine Neugier und seine Stärke gerade aus der Skepsis gegenüber einer göttlichen Vorbestimmung erwachsen. Wäre er ein Fatalist wie alle anderen – wäre er trotzdem mit seinem Schiff in den unbekannten Westen hinausgefahren?

Andererseits kommt Ragnar um die Anerkennung der nordisch-göttlichen Macht nicht umhin, allein, weil seine Umwelt von ihr geprägt ist. Und da aus Sicht der Nordmänner die Macht bei den Göttern liegt, ist, wer das Glück verliert, zugleich von ihnen verlassen worden – und kann sich auch als Herrscher nicht mehr halten.

Am Ende verliert Ragnar seine politische Macht, doch er erkennt, dass die eigentliche Macht in dem Vermächtnis besteht, das er seiner Familie und vor allem seinen Söhnen hinterlässt. So kann er sie indirekt zwingen, sein letztes politischen Ziel zu erreichen.

© Screenshot HistoryRagnars Sohn Iwar will in Spezialrüstung Rache nehmen – und nähert sich dabei äußerlich dem Fantasy-Genre an.
© Screenshot HistorySchöne Pointe: Als die Wikinger-Brüder Halfdan und Harald ihren Anführer Iwar zum ersten Mal in voller Montur sehen, müssen sie lachen, als wollten sie sagen: was für eine verrückte Show!

Um zu unserer Eingangsthese zurückzukehren: Ja, die Handlung in “Vikings” erweist sich tatsächlich als fordernder als die von “Game of Thrones”. Der Einsatz von Gewalt und Machtmotiven folgt nicht in erster Linie dem Spannungserhalt, sondern übergeordneten existentiellen Fragen. In “Game of Thrones” weiß man nie, was als nächstes passiert, bei den “Vikings” nicht, welchen Lebenswiderspruch Hirst als nächstes aus dem Hut zieht.

Allerdings, wie heißt es in einem Songtext von “Element of Crime”: “Nach hundert Folgen sind alle Abenteuer fad'” – und so droht es nun auch den “Vikings” zu ergehen. Die vierte Staffel deutete es bereits an, der Trailer zur fünften Staffel, die noch für dieses Jahr angekündigt wurde, lässt eine weitere Angleichung an die Dramaturgie von “Game of Thrones” erahnen. Doch würde es bei einem Drehbuchautor wie Michael Hirst andererseits nicht verwundern, wenn die “Vikings” auch dieses Schicksal abwenden könnten.

Der Trailer zur fünften Staffel

von Uwe Ebbinghaus erschienen in Blogseminar ein Blog von FAZ.NET.

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Serienversteher: “Stranger Things” https://blogs.faz.net/blogseminar/serienversteher-stranger-things/ https://blogs.faz.net/blogseminar/serienversteher-stranger-things/#comments Fri, 03 Feb 2017 18:28:54 +0000 http://blogs.faz.net/blogseminar/?p=2119 Die preisgekrönte Netflix-Serie beginnt wie ein typischer Teeniefilm. Doch dann gewinnt die Suche nach zwei verschwundenen Jugendlichen plötzlich enorm an Tiefe. Was geht hier vor?  *** Das Genre der Mystery- und Horrorfilme ist überlaufen mit Klischees: der Nebencharakter, der beschließt, … Weiterlesen

von maikeweisenburger erschienen in Blogseminar ein Blog von FAZ.NET.

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Die preisgekrönte Netflix-Serie beginnt wie ein typischer Teeniefilm. Doch dann gewinnt die Suche nach zwei verschwundenen Jugendlichen plötzlich enorm an Tiefe. Was geht hier vor? 

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41091754© NetflixEs geschah 1983: die Clique um Nancy, Barb und Steve

Das Genre der Mystery- und Horrorfilme ist überlaufen mit Klischees: der Nebencharakter, der beschließt, man müsse, trotz des benachbarten Axtmörders, dringend mal nachts im Wald spazieren gehen; eine kreischende Cheerleaderin, die im richtigen Moment stolpert; der Protagonist, der sich zum Ziel setzt, dem verfluchten Haus auf den Grund zu gehen, statt die Beine in die Hand zu nehmen.

Wie es aber gelingen kann, solche Klischees in echte Figuren zu verwandeln, das zeigt die Mysteryserie „Stranger Things“ von Netflix: Vier Jungs im besten Middle-School-Alter spielen, natürlich im Keller, „Dungeons and Dragons“. Betont schrill werden sie, ausgerechnet in den entscheidenden Sekunden, von einer ungeduldigen Mutter zurück in die Realität gezerrt. Der Tag neigt sich dem Ende zu, widerwillig verabschieden sich Dustin, Will und Lucas von Mike, um die Heimfahrt anzutreten, allerdings nicht, ohne vorher noch einen Blick ins Obergeschoss des Hauses geworfen zu haben. Dort telefoniert Nancy, der Prototyp einer großen Schwester, auf dem Bett liegend gerade mit ihrer besten Freundin.

Welch harmlos-heimelige Kulisse. Wäre es nicht eine Schande, wenn sich hier plötzlich eine Katastrophe übernatürlichen Ausmaßes ereignete?

This image released by Netflix shows Winona Ryder in a scene from "Stranger Things." Ryder was nominated for a Golden Globe award for best actress in TV drama on Monday, Dec. 12, 2016. The 74th Golden Globe Awards ceremony will be broadcast on Jan. 8, on NBC. (Curtis Baker/Netflix via AP) |© NetflixSie ist meistens aufgelöst, hat aber den richtigen Riecher: Für die Rolle der Joyce wurde Winona Ryder für einen Golden Globe nominiert und gewann mit dem “Stranger Things”-Ensemble den Screen Actors Guild Award.

Nun, eine Nacht aus einem Horrorfilm später, gräbt die ordnungsgemäß zerstreute, alleinerziehende Mutter Joyce in der Sofaritze nach ihren Autoschlüsseln. Diese sind zwar schnell gefunden, doch ist die Freude darüber nur von kurzer Dauer, da Will, ihr jüngster Sohn und ambitionierter D’n’D-Spieler, nicht auffindbar ist. Als er sich auch in der Schule nicht blicken lässt, kommt das nächste Klischee ins Spiel: Ein verbraucht wirkender Kleinstadtcop mit tragischer Hintergrundgeschichte sowie einer dazu passenden Vorliebe für einsame Saufgelage, Donuts und Kaffee. Konfrontiert mit einer aufgelösten Joyce, die steif und fest darauf besteht, ein vermisstes Kind sei bereits eins zu viel, hält sich sein Arbeitseifer zunächst in Grenzen.

Weil aber ein Rudel Klischees nicht ohne einen Alpha auskommt, bietet „Stranger Things“ endlich mal wieder einen von diesen uninteressanten Antagonisten, der standardmäßig seine Pflicht erfüllt, sodass man ihm standardmäßig die Pest an den Hals wünscht. Genauer gesagt ist der Bösewicht eine Gruppe, die nicht, wie so häufig, ein gewissen- und gesichtsloses Unternehmen repräsentiert, sondern hier eine, streng davon abzugrenzende, gewissen- und gesichtslose Regierungsorganisation. Deren Ziel kennt niemand so ganz genau (Unterkategorie 5b), weshalb sich Massenvernichtungswaffen (Unterkategorie 5d) nicht ausschließen lassen.

Den regierungsnahen Bösewichtern jedenfalls, so wird in der ersten Folge enthüllt, ist ein Mädchen ausgebüxt, wobei die Annahme, man wolle es vielleicht nur wegen eines vergessenen Mathebuchs nochmal sprechen, ob des verschwörerischen Tons, spätestens aber wegen der ABC-Schutzanzüge relativ schnell versiegt.

This image released by Netflix shows Millie Bobby Brown in a scene from, "Stranger Things." The series was nominated for a Golden Globe award for best TV drama on Monday, Dec. 12, 2016. The 74th Golden Globe Awards ceremony will be broadcast on Jan. 8, on NBC. (Netflix via AP) |© NetflixHat besondere Fähigkeiten: Eleven, beeindruckend gespielt von Millie Bobby Brown

Eben dieses Mädchen, mit dem klangvollen Namen Eleven, rettet sich in einen Diner und wird dort, nach anfänglicher Verwirrung, von dessen Besitzer Benny aufgepäppelt. Zudem alarmiert dieser das Jugendamt – und damit leider auch die Bluthunde von der geheimen Regierungsorganisation. Diese schicken eine harmlos wirkende Dame voraus, die sich als Mitarbeiterin des Jugendamtes ausgibt, um Benny zur Begrüßung prompt in den Kopf zu schießen.

Dieser Mord war zwar für die Story nicht notwendig, aber zumindest ist mit ihm lächerlich klar geworden, dass es sich um einen ganz besonders gewissenlosen Antagonisten handelt. Bis jetzt also keine Anzeichen für eine bemerkenswerte Fernsehserie. Oder sind es am Ende  gar die Klischees, die die Serie besonders machen?

Ja!
Also, ich meine: Nein.

41209973© NetflixUnauffällig, aber abgründig: zwei Laborkittel von der Regierung und der Mann mit dem sehr deutsch klingenden Namen Dr. Brenner (Matthew Modine)

So viel steht fest: Alle Figuren werden zunächst wie Klischees vorgestellt, Klischees oder vielleicht besser “Typen”. Wobei eine Figur, die einem Typus entspricht, sich dadurch auszeichnet, dass sie, im Gegensatz zu einer Charakterfigur, nur durch wenige, festgelegte Eigenschaften bestimmt ist. Das Besondere an „Stranger Things“ ist nun aber, dass diese Typen durch eine gefährliche Situation die Gelegenheit erhalten, Charakter zu zeigen.

Das Klischee ermöglicht zunächst den Einstieg in eine vertraute Atmosphäre, in der man sich zu Hause fühlt. Gezeigt wird ein Cop oder eine alleinerziehende Mutter und zwar in Situationen, die dem Zuschauer nur zu gut bekannt sind. Mit relativ wenig Zeit und Aufwand wird klar, was die Zuschauer von der Figur erwarten können, wie diese im Grunde strukturiert ist. Aber eben diese Erwartungen werden schon in der ersten Folge unterlaufen, denn statt dem altbekannten Klischee zu erlauben, uns zu langweilen, wird es für das genaue Gegenteil genutzt – bei “Stranger Things” viel stärker, als man das zum Beispiel von Spielberg-Filmen her kennt, auf die immer wieder angespielt werden.

image2© NetflixDer Cop (David Harbour) wollte eigentlich seine Ruhe haben – dann erlebt er die Verbrechensserie seines Lebens

Alle Protagonisten von „Stranger Things“ enthalten diese Dynamik. Angefangen bei dem Kleinstadtcop Hopper, dessen Unlust an der Polizeiarbeit schnell und restlos in Professionalität und Wagemut umschlägt. Es gelingt ihm sogar, sich aufrichtig auf die Emotionen der anderen Figuren einzulassen und mit dieser Fähigkeit die hyperventilierende Joyce im entscheidenden Moment zu beruhigen.

Diese wiederum zeigt sich in der Not erfinderisch und schafft es dank großer Eigensinnigkeit, mit ihrem verschwundenen Sohn in Kontakt zu treten. Der wiederholte Versuch des Antagonisten, sie durch Manipulation zum Schweigen zu bringen, scheitert, und zwar vor allem an ihrer Zielstrebigkeit und Standfestigkeit. Diese erfrischende Kehrseite der Figur, von Winona Ryder mitreißend dargestellt, ergibt einen Charakter, der einem unwillkürlich ans Herz wächst, was wiederum erheblich zum Charme der Serie insgesamt beiträgt.

Am auffälligsten ist die angesprochene Dynamik aber bei der prototypischen großen Schwester Nancy zu beobachten – ein ausgesprochen willkommener Umstand, vor allem, wenn man sich in der heiklen Situation befindet, etwas Kluges über diese Serie schreiben zu wollen, ohne gleich den ganzen Plot zu spoilern.

image© NetflixDie vermeintlich strebsame Nancy (Natalia Dyer) wird ihrer Mutter zum Rätsel, nur der Zuschauer lernt sie intensiver kennen.

Noch bevor die Serie richtig ins Rollen kommt, kann man schon erahnen, dass Nancy mehr in sich trägt, als ihr sittsamer, wadenlanger Faltenrock zunächst vermutet lässt. Als sie sich heimlich mit Steve, ihrem Liebsten, der zugleich der schulinterne Playboy ist, verabredet, beweist sie bereits eine gewisse Bereitschaft, Regeln zu brechen, allerdings kommt nie das Gefühl auf, bei dem anständigen Mädchen handle es sich um eine bloße Fassade, die abgelegt wird, sobald die Erwachsenen aus dem Raum sind. Stattdessen scheint es sich eher um zwei authentische Facetten einer einzelnen Figur zu handeln.

Durch das Verschwinden ihrer besten Freundin Barbara mit einem Verlust belastet, der einem Teen-Slasherfilm entsprungen sein könnte (man fragt sich in diesem Zusammenhang, ob Teenager, die dreister Weise Spaß haben wollen und es wagen, Bier zu trinken, in amerikanischen Medien jemals ungestraft davon kommen), entschließt Nancy sich, der Sache auf den Grund zu gehen und zwar mit Gewalt.

image4© NetflixBeim Training mit ihrem neuen Verbündeten Jonathan (Charlie Heaton) beweist Nancy eine ruhige Hand.

In der Umsetzungsphase bildet das muntere, hübsche Mädchen mit den guten Noten, nun eine ungewöhnliche Allianz mit dem Sonderling Jonathan, Sohn von Joyce, Bruder des verschwundenen Will, der ebenfalls die zentrale Dynamik von Klischee und besonderer Abweichung austrägt. Ab Folge Vier beginnen die beiden, bewaffnet bis an die Zähne, einen Schlachtplan umzusetzen, um Barb und Will zu finden.

Wenn Nancy in Folge Fünf bei einer gemeinsamen Schießübung mit Jonathan in wenigen Sätzen die heile Welt ihrer Eltern seziert – die beiden lebten nicht aus Zuneigung, sondern nur noch aus Bequemlichkeit miteinander – und damit ins Herz der vermeintlich intakten, spießbürgerlichen Kleinfamilie trifft, hat sie sich von ihrem ursprünglichen Typus fast restlos entfernt.

Nancy ist jetzt keine naive Jungfrau in Nöten mehr, der man vorturnen muss, wie das Leben geht. Sie versteht es, wie sich zeigt, eine Situation angemessen einzuschätzen und daraus Konsequenzen zu ziehen. Klugerweise legt sie aber nicht alle Merkmale des Ursprungs-Klischees ab, schließlich ist das Ergebnis einer solchen Entwicklung in den meisten Fällen einfach nur ein neues Klischee. Nein, auch dieser Falle weicht Nancy gekonnt aus.

image5© NetflixDie Schüler Mike, Dustin und Lucas kommen auf der Suche nach Will aus dem Staunen nicht heraus

Das typische Mädchen von nebenan wird also nicht mit einem Fingerschnippen zum abgeklärten Badass, wodurch uns jenes seltsame Zerrbild erspart bleibt, das in schlechten Filmen so oft mit einer resoluten Frau verwechselt wird.

In „Stranger Things“ legt das Klischee zwar die Basis der Figuren, mündet dann aber, in dem meisten Fällen, in charakterliche Komplexität. Die Serie macht das Klischee zu etwas Besonderem, was im Gegenzug die Serie außergewöhnlich macht. Das ist das Geheimnis von “Stranger Things” – jenseits des rätselhaften Schlusses.

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Was lehrt die Flüchtlingskrise in „Game of Thrones“? https://blogs.faz.net/blogseminar/fluechtlingskrise-in-game-of-thrones/ https://blogs.faz.net/blogseminar/fluechtlingskrise-in-game-of-thrones/#comments Fri, 09 Dec 2016 10:35:13 +0000 http://blogs.faz.net/blogseminar/?p=1647 Schaut man die HBO-Serie „Game of Thrones“ einmal nur unter dem Aspekt des Migrationsdrucks an, fällt es einem wie Schuppen von den Augen: Das sind ja wir, das ist ja unsere Krise, die hier dargestellt werden. Fünfte Folge der Reihe … Weiterlesen

von Uwe Ebbinghaus erschienen in Blogseminar ein Blog von FAZ.NET.

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Schaut man die HBO-Serie „Game of Thrones“ einmal nur unter dem Aspekt des Migrationsdrucks an, fällt es einem wie Schuppen von den Augen: Das sind ja wir, das ist ja unsere Krise, die hier dargestellt werden. Fünfte Folge der Reihe “Serienversteher”.

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This image released by HBO shows a scene from "Game of Thrones." The series was nominated for a Golden Globe award for best television drama on Thursday, Dec. 10, 2015. The 73rd Annual Golden Globes will be held on Jan. 10, 2016. (HBO via AP) |© dpa, HBOEr macht die Wildlinge zu Flüchtlingen und ist der eigentliche Strippenzieher in der HBO-Serie “Game of Thrones”: der Nachtkönig der Weißen Wanderer

Allen Nackedeis, Sadisten und rollenden Köpfen zum Trotz, die in der Mittelalter-Phantasy-Serie „Game of Thrones“ permanent das Bild queren: die Intrigen zwischen den zahlreichen Thronanwärtern, ihren rechten Händen und wechselnden Liebschaften sind in der mit Auszeichnungen überhäuften HBO-Serie nicht das eigentlich Beunruhigende. Im Vergleich zu dem zentralen Handlungsknoten sind sie lediglich unterhaltsames Geplänkel, welches allerdings das Gesetz einer jeden Serie besonders gekonnt erfüllt, nämlich, die Sache so weit es geht am Laufen zu halten, ohne die Geduld und die Intelligenz des Zuschauers zu beleidigen.

James Cosmo Television: Game of Thrones (Game Of Thrones) (TV-Serie, USA 2011-) 17 April 2011 SAB4412 A.P.L. Allstar Picture Library/Hbo **Achtung** Für dieses Bild gilt: Nur redaktionelle Nutzung, Copyright: Hbo und/oder der vom Rechteinhaber beauftragte Fotograf. Verwendung ausschließlich für redaktionelle Berichterstattung in Zusammenhang mit diesem Film und entsprechender Filmtitelnennung. Cover-, Buch-, Kalendernutzungen und ähnliches nur nach vorheriger individueller Absprache. Fotovermerk ist obligatorisch und muß den Hinweis Hbo enthalten. Sofern angegeben sollte auch Nennung des Fotograf erfolgen. Kommerzielle Nutzung jedweder Art ist untersagt, eine Freigabe ist nur möglich, wenn die schriftliche Genehmigung des Rechteinhabers eingeholt wird. **Warning** This Photograph is for editorial use only and is the copyright of Hbo and/or the Photographer assigned by the TV or Production Company & can only be reproduced by publications in conjunction with the promotion of the above TV Programme. A Mandatory Credit To Hbo is required. The Photographer should also be credited when known. No commercial use can be granted without written authority from the TV Company. Rollenname(n): Jeor Mormont“Euer Dach, eure Regeln”: Lord Kommandant Mormont (James Cosmo) von der Nachtwache sieht sich zum Paktieren mit dem Wildlings-Patriarchen Craster gezwungen

Was aber ist das zentrale Thema in „Game of Thrones“? Um das zu beantworten, genügt es, die Aussage Lord Mormonts in einer Schlussszene der ersten Staffel beim Wort zu nehmen. Hier fragt der massige Kommandant der Nachtwache seinen Kämmerer Jon Schnee, dessen Bruder Robb gerade von den Bewohnern des Nordens zum König gekrönt wurde und sich nun im Kampf gegen seine Konkurrenten aufreibt: „Meinst du, der Krieg deines Bruders ist wichtiger als unserer? Wenn tote Menschen und Abscheulicheres uns in der Nacht verfolgen, meinst du, es ist dann noch von Belang, wer auf dem Eisernen Thron sitzt?“ Diese Frage ist aus dem Filmgeschehen heraus eindeutig mit „nein“ zu beantworten. Das, was sich nördlich des „Mauer“ genannten Schutzwalls abspielt – eine Migrationsbewegung, die sich einem anhaltend strengen Winter und den nach potentiellen Wiedergängern jagenden Weißen Wanderern verdankt -, übertrifft die Ränke im Süden erheblich, selbst wenn dort Drachen und „Seefeuer“ eingesetzt werden.

Eine bedrohliche Masse

Und noch ein Punkt spricht dafür, dass die Bedrohung jenseits der Mauer das entscheidende Thema von „Game of Thrones“ ist. Schaut man sich den Handlungsstrang auf dem Gebiet nördlich des Schutzwalls genauer an, fällt auf, dass er meist an dramaturgisch wichtigen Stellen eingesetzt wird: gleich in der Einstiegsszene der Serie, am Beginn der dritten Staffel, am Schluss der ersten, zweiten und fünften, dort meist mit Cliffhanger-Funktion. Dem Zuschauer wird also schon rein formal der Eindruck vermittelt: Selbst wenn sich die Handlung südlich der Mauer immer wieder bei wechselnden Machtverhältnissen einpendelt und auf einen neuen Platzhalter für den Eisernen Thron hinausläuft – der wahre Konflikt, die Sprengkraft der enormen Armuts- und Klimaflucht, ist nicht einmal angetastet.

In this image released by HBO, Jon Snow, portrayed by Kit Harington, left, appears with Mance Rayder, portrayed by Ciaran Hinds in a scene from season four of "Game of Thrones." The season five premiere airs on Sunday. (AP Photo/HBO, Helen Sloan) |© dpa, HBO“Ich habe ihnen gesagt, dass wir alle draufgehen, wenn wir nicht nach Süden gelangen”: Der Anführer der Wildlinge, Manke Rayder (Ciarán Hinds), erklärt Jon Schnee (Kit Harington), wie es ihm gelang, die Stämme nördlich der Mauer zu einen.

Im Kern handelt es sich bei „Game of Thrones“ um ein Flüchtlings-Epos – und zwar nicht um eines, bei dem, wie in der „Odyssee“, ein listiger Held ganz schön rumkommt, das träfe allenfalls auf die sozusagen “unbegleiteten Kinder-Flüchtlinge” der Familie Stark zu (vor allem auf Arya), sondern um ein Flüchtlingsdrama, bei dem die meisten Betroffenen über weite Strecken eine trotz Verfolgung bedrohliche Masse darstellen – wobei die Serie, das muss man berücksichtigen, insgesamt wenige wirklich positive Figuren aufzubieten hat.

Keine Willkommenskultur

Auch wenn immer wieder einzelne Wildlinge wie Goldy, Osha und – mit Abstrichen – Ygritte und Tormund als Menschen wie du und ich dargestellt werden, so sind die Menschenfresser (Styr und Konsorten), Kinderschänder (Craster) und Barbaren bei den Wildlingen doch in der Mehrzahl. Selbst eine belesene Stimme der Vernunft in den Reihen der Nachtwache wie Samwell Tarly, der die Meinung vertritt „Wir haben keine 800 Kilometer lange und 200 Meter hohe Mauer errichtet, um unseresgleichen auszusperren. Die Nacht bricht an, … sie kommt für uns alle näher“ (Folge III, 10), wird in der vierten Staffel keinen Zweifel daran lassen, dass die auf die Mauer drückenden Wildlinge nur nach strengsten Kriterien einzulassen sind.

Der Wildling Tormund erklimmt die Mauer© HBONiemand wird ihn willkommen heißen: Der Wildling Tormund erklimmt die Mauer

Und auch Jon Schnee, der in der fünften Staffel zum Kommandanten der Nachtwache gewählt wird – und zwar, obwohl der Wahlkampf von seinen Gegnern zuvor auf die Alternative zugespitzt worden war: „Wollt ihr einen, der sein ganzes Leben lang gegen die Wildlinge gekämpft hat (Haudegen Alliser Thorne) oder einen, der mit ihnen ins Bett geht (John Schnee – er hatte eine Liebesbeziehung zu der Wildling-Frau Ygritte)? – selbst er spricht sich am Ende der fünften Staffel für eine Verbündung mit den Wildlingen allein mit der Begründung aus, dass nur auf diese Weise, wenn überhaupt, ein Sieg über die Weißen Wanderer zu erringen ist.

Der Zuschauer hält zur Mauer

Dramaturgisch gesehen wird dem Zuschauer in “Game of Thrones” eher die Haltung aufgezwungen: Die Wildlinge sollte man besser nicht reinlassen. Dabei hat der Zuschauer gerade mal ein Dutzend von ihnen näher kennengelernt. Und als die ersten Wildlinge, darunter Tormund und Ygritte, in der vierten Staffel mit Steigeisen als Spione und Unruhestifter die Mauer erklimmen, kommt der Zuschauer nicht umhin, insgeheim zu hoffen, dass ihr Unternehmen scheitert. Der Zuschauer hält zur Mauer, deren Ursprünge schon die Bewohner der nördlichen Gefilde längst vergessen haben. Sie wurde nämlich nicht zur Abwehr von Wildlingen, sondern von Weißen Wanderern hochgezogen. Und genau dieses Zusammenwerfen von Gefahrenmomenten macht die Serie, bei Licht betrachtet, inhaltlich grobkörnig.

Alfie Allen & Sophie Turner Television: Game of Thrones (Game Of Thrones : Season 6) (TV-Serie) USA 2011-, / 6. Staffel, season 6 24 April 2016 SAP63856 A.P.L. Allstar Picture Library/HBO **Achtung** Für dieses Bild gilt: Nur redaktionelle Nutzung, Copyright: und/oder der vom Rechteinhaber beauftragte Fotograf. Verwendung ausschließlich für redaktionelle Berichterstattung in Zusammenhang mit diesem Film und entsprechender Filmtitelnennung. Cover-, Buch-, Kalendernutzungen und ähnliches nur nach vorheriger individueller Absprache. Fotovermerk ist obligatorisch und muß den Hinweis enthalten. Sofern angegeben sollte auch Nennung des Fotograf erfolgen. Kommerzielle Nutzung jedweder Art ist untersagt, eine Freigabe ist nur möglich, wenn die schriftliche Genehmigung des Rechteinhabers eingeholt wird. **Warning** This Photograph is for editorial use only and is the copyright of and/or the Photographer assigned by the TV or Production Company & can only be reproduced by publications in conjunction with the promotion of the above TV Programme. A Mandatory Credit To is required. The Photographer should also be credited when known. No commercial use can be granted without written authority from the TV Company. Rollenname(n): Theon Greyjoy, Sansa Stark© A.P.L. Allstar Picture Library, HBOAlles eine Frage der Perspektive: Dreharbeiten für “Game of Thrones” – und wieder ist jemand auf der Flucht, diesmal Sansa Stark (Sophie Turner) und Theon Graufreud (Alfie Allen)

Schon in der Anfangsszene kommt es zu einer horrorhaften Vermischung von Wildlingen und Weißen Wanderern, die lange nachwirkt. Letztere haben nicht nur eine archaische Blutorgie mit allerlei Kadavern inszeniert, sie schicken auch in Zombies verwandelte Wildlinge ins Gefecht gegen die Menschen. Die Wildlinge werden dabei als komplett verdinglicht dargestellt, lange bleibt unklar, wo genau die Grenze zwischen ihnen und den Weißen Wanderern liegt. Gemeinsam jedenfalls strahlen sie den blanken Horror aus und wecken Urängste, denen die Stark-Familie zunächst nur dadurch zu begegnen können meint, dass sie einen Boten der schlechten Nachricht als Lügner und Deserteur hinrichtet.

Strukturell gesehen kann man die Wirkung, welche die Weißen Wanderer im Zusammenspiel mit den menschlichen Wiedergängern ausstrahlen, wohl am ehesten mit dem Schrecken vergleichen, den organisierter Terror zu erzeugen versucht. Dazu passt, dass die Weißen Wanderer zum Teil als Schläfer dargestellt werden; und auch ihre Unberechenbarkeit, kalte Unmenschlichkeit und die Willenlosigkeit, die sie unter ihren Anhängern erzeugen, ähnelt den Eigenschaften und Methoden terroristischer Organisationen.

So kann man zusammenfassend sagen: Der Mauer- und Eindringlings-Horror wird in “Game of Thrones” in erster Linie dramaturgisch, als Spannungsmoment eingesetzt, wodurch ein beunruhigender Grundton angestimmt wird, der hängenbleibt, auch wenn die Autoren ihn mit durchschaubar guten Absichten immer wieder punktuell zu Gunsten der Wildlinge relativieren.

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Bemerkenswert ist vor diesem Hintergrund nun das Engagement zahlreicher Seriendarsteller für Flüchtlinge aus Syrien. In einem Video rufen sie zur Solidarität auf:

 

(Ein zweites Video findet sich hier.)

Fragen könnte man sich dabei, warum gerade die Stars von “Game of Thrones” in diese exponierte Rolle von prominenten Flüchtlingshelfern geschlüpft sind? Und muss wohl zur Antwort geben: Davon abgesehen, dass man darin eine Bestätigung unserer Eingangsthese sehen kann, hat die Tatsache, dass gerade die Bösewichte der Serie die größten Redeanteile in dem eingeblendeten Video besitzen, wohl auch damit zu tun, dass es immer eine besondere Wirkung entfaltet, wenn Zyniker und erklärte Fremdenfeinde (qua Rolle) plötzlich eindringlich Gastfreundschaft einfordern.

Übrigens hat auch George R. R. Martin, der Autor der Buchvorlage für „Game of Thrones“ (“Das Lied von Eis und Feuer”),  vor etwas mehr als einem Jahr in seinem Blog zu Solidarität mit den syrischen Flüchtlingen aufgerufen und sein Engagement explizit von dem damals schon xenophob auftretenden Donald Trump abgesetzt.

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Erst gegen Ende der fünften Staffel, nach dem sogenannten “Massaker von Hartheim”, bei dem Weiße Wanderer Tausende von – zur Flucht übers Wasser bereite – Wildlinge niedermetzeln, um sie anschließend wiederzubeleben und der immer größer werdenden “Armee der Toten” hinzuzufügen, zeichnet sich zumindest ansatzweise ein Wendepunkt in der Bewertung der Wildlinge ab. Auf Jon Schnees Befehl hin lässt die Nachtwache die Überlebenden des Massakers die Mauer passieren. Allerdings wird der Kommandant Schnee diese revolutionäre Entscheidung nicht überleben, er wird vom reaktionären Flügel seiner Kameraden hingerichtet, ersteht aber dank eines Zaubers wieder auf.

FILE - This file image released by HBO shows Kit Harington as Jon Snow, left, in a scene from "Game of Thrones." "Game of Thrones" was one of the hottest topics on Facebook in 2015. (Helen Sloan/HBO via AP, File) |© dpa, HBOAuf der Flucht in ein besseres Leben: Ein von Jon Schnee angeführter Wildlings-Trupp versucht, Armutsgrenzen zu überwinden.

Doch trotz der zunehmenden Differenzierung ist “Game of Thrones” auch nach Abschluss der sechsten Staffel (natürlich) noch kein in sich stimmiger Kommentar zur Weltlage, sondern nach wie vor in erster Linie eine höchst professionelle Spannungsmaschinerie, für die im Fall der Weißen Wanderer ein etwas schwammiger, aber stark nachwirkender Mythos eingesetzt wird.

Man muss jetzt abwarten, in welche Richtung sich das Epos fortentwickelt. Dass die Handlung auf eine eher magische Lösung hinauslaufen wird, bei welcher der “dreiäugige Rabe” Bran Stark noch eine wichtige Rolle spielen könnte, der um die Weißen Wanderer aufzuhalten, freiwillig in den Norden gezogen ist, lässt sich aber schon absehen. Wobei mit einer magischen Lösung der Flüchtlingskrise in “Game of Thrones” im Endeffekt vor allem ihre faktische Schwer-Lösbarkeit bestätigt würde.

Angesichts der momentanen Situation in Europa, der Türkei und Syrien kann man der Serie “Game of Thrones” aber vor allem eine Lehre abgewinnen: dass Mythen, die künstliche Angst erzeugen, in Flüchtlingsfragen kein guter Ratgeber sind.

von Uwe Ebbinghaus erschienen in Blogseminar ein Blog von FAZ.NET.

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