Als ich damals an der Uni anfing, Filmwissenschaft zu studieren, hatte ich gleich in der Einführungswoche eine amüsante Begegnung. Verschwörerisch nahm mich ein Student aus einem höheren Semester zur Seite und raunte mir zu: „Bist du dir ganz sicher, dass du das hier wirklich willst? Du wirst nach diesem Studium nie wieder einen Film so unbeschwert ansehen können wie jetzt.“ Er hatte Recht. Schnitt, Gegenschnitt, Totale, Halbtotale, all das läuft ständig in meinem Kopf mit, auch wenn ich einfach nur durch die Fernsehkanäle zappe. Doch ich habe das bisher immer als Bereicherung empfunden.
Wenn ich heute in einem Café sitze, und ganz selbstverständlich als erstes Blumenvase, Zuckerstreuer, Servietten und Speisekarte auf die gegenüberliegende Tischseite schiebe, meine Ärmel hochkremple und meine Handtasche über die Rückseite des am weitesten entfernten Stuhls hänge, muss ich an diesen Studenten denken. Denn seit mein Sohn angefangen hat, nach allem zu greifen, was er durch ruckartiges Vorwärtswerfen seines kleinen Oberkörpers mit ausgestreckten Armen auch nur im Entferntesten erreichen kann, bin ich vom Zustand des „Seins“ in den Zustand des „Tuns“ übergegangen. Gehe ich in ein Café, kann ich nicht einfach nur sitzen – sondern ich sehe all die möglichen Gegenstände, die in weniger als drei Sekunden zu Boden segeln könnten, und muss handeln. Ich nenne es: Der Mami-Radar springt an. Ich muss alle Gegenstände schnellstmöglich sichern, auch wenn ich mich gerade noch beherrschen kann, danach wie das SWAT-Team laut „Clear!“ zu brüllen.
Der Mami-Modus geht sogar noch weiter: Wenn ich die Sachen ohnehin schon in die Hand nehme, kann ich sie doch auch gleich noch kurz in Ordnung bringen, denke ich mir, jetzt ganz Mama Sisyphos. So drehe ich die Bierdeckel Ecke auf Ecke, sortiere die Zuckerpäckchen und stelle die Speisekarten nach Größe sortiert in den Ständer. Neurotisch, denken Sie? Das Schlimmste ist: Ich habe mich schon dabei ertappt, dass der Mami-Radar auch anspringt, wenn mein Sohn gar nicht dabei ist. Dabei kann ich mich wirklich nicht daran erinnern, dass ich je in einen Bierdeckel gebissen, 25 Päckchen Zucker auf den Boden geworfen oder die Speisekarte in meine Gnocchi gepfeffert hätte. Unruhig schaue ich auf das weiße Hemd meines Freundes – wie lange es wohl weiß bleiben wird? Rücke Gläser und Messer zur Seite und sammle die umherfallenden Krümel in eine Serviette, nicht auf einen Teller, damit sie nicht das nächste attraktive Ziel für das gar nicht anwesende Kind werden könnten.
Gehe ich dann zur Toilette, rolle ich im Automodus noch schnell die heruntergefallene Klorolle wieder auf, wische unter dem Seifenspender die heruntergelaufenen Tröpfchen auf und vergewissere mich, dass der Mülleimerdeckel gut geschlossen ist – Ausräumgefahr! Im Zug wische ich mit einem Feuchttuch über das Tischchen, den Mülleimer und die Armstütze, bringe den leeren Coffee-to-go-Becher meines Vorgängers in den Abfall und räume Magazin und Fahrplan ordentlich in die Sitztasche. Erst dann kann ich durchatmen.
Ich bin mit meinem Mami-Radar nicht allein. Auf Facebook schicken sich meine Freundinnen Bilder von Esstischen zu mit dem Kommentar: „Was jeder sieht“ versus „Was eine Mutter sieht“. Blumenvase, Zuckerstreuer und Weingläser sind rot umrandet und leuchten geradezu: Gefahr! Schnell handeln.
Bevor ich selbst Mutter wurde, war ich immer beeindruckt, wie schnell meine Freundinnen waren, die selbst schon Kinder hatten. Während ich mir bei Besuchen nach dem Frühstück im Bad noch die Zähne putzte, hatten sie schon den Tisch abgeräumt, die Spülmaschine eingeräumt und angestellt, die Küche geputzt und alle verstreuten Spielsachen wieder aufgesammelt. Ich weiß jetzt auch wieso: Zeit ist knapp, und was man nicht sofort macht, dazu kommt man im Zweifel den ganzen Tag nicht mehr.
Doch auch da kann ich inzwischen mithalten, sogar medizinisch nachweisbar. Zufällig nehme ich seit Jahren regelmäßig an einer Studie teil, zu der auch ein Geschicklichkeitstest gehört. Möglichst schnell muss man Holzstäbchen in vorgefertigte Löcher sortieren. In diesem Jahr war die Studienleiterin erstaunt: Ich hatte mich um fast zwei Sekunden im Vergleich zum Vorjahr verbessert. Stolz verriet ich der Studienleiterin mein Geheimnis: „Ich bin jetzt Mama.“