Mittelhessen, 2017. Es ist halb neun, als ich mit einem Auge auf mein Handy linse. Viel zu früh zum Aufstehen. Viertel nach 11 – alles im Haus ist ruhig, ich drehe mich also noch einmal um. 12 Uhr 30. Ich habe Kaffeedurst und so schäle ich mich gezwungenermaßen doch einmal aus dem Bett. Im Wohnzimmer feixen mich meine Freunde an. Sie haben längst gefrühstückt, waren im Wildpark Rehe streicheln, dehnten sich bei einer Runde Kinderyoga und spielten schon etliche Matches Tischtennis, mit Finale. Sie haben die Kaninchen hinterm Haus entdeckt und dass der Supermarkt schon um 12 Uhr schließt. Sie waren einkaufen, haben Nudeln mit Tomatensoße gekocht und sich gewundert, was wir eigentlich so machen. Wir haben: geschlafen. Sie haben: Kinder.
Mallorca, 2019. Es ist halb 7, als mein Sohn sich zum ersten Mal mit seinem Füßen über mein Gesicht einen Weg durch das Bett zum Fenster bahnt. „Da!“ Hinter dem Fenster liegt erst der Spielplatz und dann das Meer. Da will er hin. Um viertel nach 11 haben wir geduscht, gefrühstückt, unsere Strandsachen gepackt, Max im Buggy zum Morgenschläfchen durch die Anlage gefahren, ihn zum zweiten Mal eingecremt, die Badesachen samt Buggy an den Strand gehievt, einen Babypool in den Sand gegraben, das 25. Mal den Sonnenhut wieder aufgesetzt, einmal im Pool und zwei Mal im Meer gebadet, einen Eiskaffee in der Strandbar getrunken, einen Zeitungsartikel dreimal angefangen und kein Mal fertiggelesen und dann alle Badesachen wieder ins Hotelzimmer geschleppt, etwas hektisch der Blick auf die Armbanduhr. Wir sollen schließlich zum Mittagessen bei der Clique im Ferienhaus sein. Als wir um 12.30 Uhr bei unseren Freunden ankommen, liegen sie auf Luftmatratzen im Pool oder noch im Bett. Keiner rührt sich.
Das Leben mit Kind ist nicht vergleichbar mit dem Leben, das man vorher führte, das haben wir längst gemerkt. Und obwohl Freunde es einem prophezeit haben, fragt man sich jetzt, womit man eigentlich seine Zeit verbrachte, bevor das Kind geboren war. Als man noch nicht nach jeder Mahlzeit die Wohnung grundsanieren musste. Als man noch nicht viele Stunden damit verbrachte, jemand anderen zum Einschlafen zu überreden. Als man im Urlaub nachts mallorquinischen Rotwein trinken konnte und den Tag mit einem Kaffee und ein paar Oliven in der Strandbar startete.
Es waren aber auch Zeiten, in denen man sich dann doch nie aus dem Bett quälte, um den Sonnenaufgang anzuschauen, der an vielen Orten der Welt einfach nur Wow ist. In denen man die Wochenenden mit Nichtstun oder Serienschauen verbrachte, viel zu viel arbeitete, zu wenig draußen war und sich viel zu häufig mit Dingen beschäftigte, auf die man eigentlich keine Lust hatte – Steuererklärung, Höflichkeitsbesuche, Pflicht-Zeitungsartikel lesen.
Seit wir Max haben, verbringen wir unsere Tage im Freien, spazieren barfuß durch den Sand, beobachten, wie der Essigbaum auf dem Balkon unbeirrt im Blumenkasten heranwächst, wohlwissend, dass er giftig ist und weichen muss, sobald Max’ kleine Hände bis hinauf reichen. Wir lernen, die Welt wieder durch Kinderaugen zu sehen, um Max die kleinen Wunder zu zeigen, denen wir täglich begegnen. „Siehst du die Katze? Sie schläft, so wie du auch oft. Schau mal, wie ihr Schwanz zuckt.“ Unser Leben ist klein geworden, einerseits, und irgendwie auch größer. Jeder Tag ist neu. Für Nichtstun bleibt uns einfach keine Zeit mehr.
Max ist ein Abenteuer-Baby und liebt Action. Nirgendwo ist er so ausgeglichen wie auf chaotischen Flughäfen, an überfüllten Mittelmeerstränden oder in großen Gruppen Menschen, die Spielklötze aufsammeln, Türme bauen, Grimassen schneiden und mit ihm eine sehr vorhersehbare Form von Fangen spielen. Dennoch zögerten wir anfangs, ob wir wirklich fünf Tage lang zu zwölft mit zwei Babys in einem Ferienhaus mit Pool gut aufgehoben sind. Max ist sehr sozial, aber auch etwas raumgreifend. Wären die anderen nach einem Tag genervt von ihm? Würde er permanent versuchen, sich in den Pool zu stürzen? Müssten wir ihm auf Schritt und Tritt folgen, um Unfälle mit dem Grill zu verhindern und herumliegende Handys, Sonnenbrillen, Mückenschutzmittel und Urlaubsromane in Sicherheit zu bringen?
Unsere Sorgen zerstreuten sich bald: Wir passten bettenmäßig ohnehin nicht alle ins Haus, und so wählten wir mit unserem Hotelzimmer die Option „das Beste aus zwei Welten“. Im Ferienhaus waren immer genug Hände da, um Max und seinen Spielkameraden von Treppen, Grill und Feuerlöscher fernzuhalten. Der Pool interessierte die Kinder kaum – es gab genug andere Unterhaltung. Und wenn Max ausgepowert oder morgens früh wach war, konnten wir am Hotel unternehmen, wonach uns der Sinn stand: Baden, Klettern, die Strände erkunden, nach Palma fahren, Treppensteigen üben, die ersten Burgen bauen und kaputthauen, einkaufen, Laufen üben, Eiskaffee trinken.
Und eines überraschte uns dann am meisten: Wir hatten befürchtet, mit Baby nicht mehr bei der Feiergemeinde mithalten zu können, weil wir außer Übung sind und das Baby irgendwann ins Bett muss. Doch letztlich waren wir die Engagiertesten beim Abendprogramm, wir konnten einfach nicht genug bekommen. Das Baby schlief nebenan auf ein paar Polsterauflagen. Als wir eine Runde Limbo starteten, saßen die Nicht-Eltern um uns herum und hielten erstaunt ihre Handykameras auf uns gerichtet. Sie waren noch erschöpft davon, dass sie bis am Vortag im Büro gesessen hatten, und wollten erst mal chillen. Wir erinnern uns mit etwas Wehmut an diese Zeit zurück, die für uns erst einmal Vergangenheit ist. Auf uns warten jetzt Wildpark, Spaghetti Bolognese und Kaninchen hinterm Haus. Und irgendwie freuen wir uns sogar drauf.