Der Anlass nichtig, die Wirkung groß: Als Elias die mit Milch und Haferflocken gefüllte Frühstücksschale vor sich sah, war Schluss mit lustig. Erst schaute er entgeistert, dann brach sich die kindliche Empörung vollends Bahn. Nein, so nicht, die Milch hatte er doch selbst einfüllen wollen! Was von mir also als harmlose väterliche Dienstleistung gedacht war, hatte er als Affront verstanden. Weil er doch selbst einfüllen wollte. Mit allen Konsequenzen: Weinen, Schreien, rückwärts fallen lassen. Der Anfall dauerte danach fast eine Viertelstunde. Ein eher unakademisches Viertel.
Für Eltern mit einem Kind im Alter von zwei oder drei Jahren hat dieses Schreckensszenario einen Namen: Trotzphase. Kennt man, macht jeder durch, lässt sich nur schwer abstellen – raubt aber den letzten Nerv. Die Trotzphase beginnt – je nachdem – im Alter von anderthalb Jahren und kann dauern, die absolute Hochphase aber liegt um die Jahre zwei und drei. Die Hochphase zieht allerdings ziemlich runter, zumindest die Eltern, die ihr zuvor zuckersüßes Kind von einer anderen Seite kennenlernen, wenn sich der Junge im Supermarkt vorm Süßigkeitenregal auf den Boden wirft oder die Tochter im Restaurant einen Schreianfall bekommt.
Was die Sache nicht leichter macht: Man weiß ja genau, wo es herkommt: Der sich entwickelnde kindliche Intellekt drängt nach neuen Erfahrungen und sieht die Welt erstmals als Spielfeld, das sich durch das eigene Handeln steuern lässt. Das Kind will sich ausprobieren und nicht gebremst werden durch Regeln, die Erwachsene setzen, und die ihm unverständlich sind oder besser: bleiben müssen. Es ist vielleicht ein Trost für genervte Eltern, dass die Kinder vor allem deshalb bocken, weil sie sich im Kreise ihrer Eltern, ihren wichtigsten Bezugspersonen, sicher fühlen.
Es ist ja in diesem Alter so: Wenn Elias seinem geliebten Nachbarmädchen an den Haaren zieht, fängt es an zu weinen – was er wiederum als mindestens interessant, wenn nicht sogar spannend findet. Um zu verstehen, dass es dem Mädchen wehtut, müsste er etwas entwickelt haben, was meist erst nach dem dritten Lebensjahr entsteht: Empathie. Die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, ist die Voraussetzung, um die Sinnhaftigkeit von Regeln zu begreifen. Bis sich das halbwegs entwickelt hat, ist Trotz die natürliche Reaktion eines Kindes, das seine kleine Welt plötzlich nicht mehr versteht, weil sich ein Wunsch nicht erfüllt, oder es etwas tun muss, das es partout nicht will.
So wie: Staubsaugerkabelaufrollen. Staubsaugerkabelausrollen. Überhaupt selbst Staubsaugen! Milcheinfüllen. Milchschütten. Überhaupt Schütten! Deckelaufschrauben. Deckelzuschrauben. Ganz allgemein Schrauben. Fensterheberbedienen. Autotüraufmachen. Besenschwingen. Gabelhalten. Gummibärchenessen. Eislutschen. Apfelsaftrinken. Und zwar nicht drei Gummmibärchen, sondern dreißig. Und nicht ein halbes Glas Apfelsaft, sondern am liebsten: literweise. Oder: Helfen beim Sachenzusammensuchen und Zimmeraufräumen. Oder: nicht mehr zu seiner Freundin hinuntergehen, weil es gleich Abendessen gibt. Stattdessen: Zähneputzen!
In dem einen Fall muss das Kind also lernen, dass manche Dinge gerade nicht angesagt sind – und es manchmal wiederum Dinge gibt, die man, obwohl unangenehm, tun muss. Vertrackt. Wie soll man da den Überblick behalten, zumal, wie wir ja wissen, die Fähigkeit, sich in jemandes Gedanken hineinzuversetzen, fast noch gar nicht entwickelt ist? Es gibt deshalb auch keine Aussicht, mit Vernunftappellen oder intellektuellen Brücken, die man als Erwachsener zu bauen glaubt, die Situation zu entschärfen. Der Trotzanfall ist roh und ungeschminkt und im Brustton der Überzeugung vorgetragen, mitunter als Brustton der Verzweiflung bei nichtigem Anlass.
Wie reagieren? Die wichtigste Lektion als Erwachsener ist wohl die, sich nicht mit auf die Reise dieser emotionalen Achterbahnfahrt zu begeben. Ruhe bewahren, entspannt bleiben, lächeln – statt die Anspannung des Kindes in sich aufzunehmen und deshalb noch mehr Gereiztheit in die Situation hineinzugießen. Was allerdings verdammt schwer ist, zumal Trotzanfälle gerne morgens zwischen Aufstehen und Aufbruch ausbrechen, also dann, wenn Kinder und Erwachsene in ihren Routinen aus Zähneputzen, Frühstücken und Schuhebinden eigentlich geräuschlos funktionieren sollten. Just in jener halber Stunde Ruhe, die wir morgens vor der Arbeit zum Frühstücken haben, knallt Elias‘ Trotzanfall gerne dazwischen. Trotz-Kinder brauchen eben auch ihr Publikum, und beide Elternteile sind entweder abends oder eben morgens anwesend.
Wenn sich die Eltern durch diese Stimmung anstecken lassen, geht das Geschrei erst recht weiter. Milderung ist in Sicht, wenn Vater oder Mutter Verständnis zeigen und demonstrative Gelassenheit zur Schau stellen, sich vielleicht ein paar Meter wegbewegen, mal kurz in einen anderen Raum (in Hörweite) gehen oder das Kind einfach in den Arm nehmen. Jedenfalls die Situation kontrollieren, souveränes Verständnis zeigen, dabei aber klar die Regeln beachten und bei wichtigen Dingen nicht einknicken – und sich bei weniger wichtigen Themen flexibel zeigen. Zugegebenermaßen, das ist gar nicht so leicht, zumal man morgens ja durchaus selbst in Eile und deshalb ja nur bedingt entspannt ist.
Wenn alle Stricke reißen: besser in die neutrale Zone bringen. Bei Elias wirkt die Auszeit mit Wasserfläschen auf dem Bett wahre Wunder. Nach ein paar Minuten der Ruhe kühlt er gewöhnlich wieder schnell in seinen normalen Modus herunter – und kommt zu uns zurück ins Wohnzimmer, fast so, als sei nichts gewesen. Das ist ja sowieso das erstaunlichste Momentum bei der Kindererziehung: Wie schnell ein Kind so tun kann, als sei nichts gewesen – als Eltern ist man nicht mehr ganz so flexibel, und man reibt sich nur verwundert die Augen. Und ist erleichtert.