Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Der richtige Ort für einen Zwangsurlaub

Nicht nur während des „Festival of lights“ ist das Brandenburger Tor ein Touristenmagnet. Das begeistert auch Teenager und Kinder.

„Ich fahre nicht mit euch weg. Das könnt ihr vergessen.“ Lara ist fünfzehn, hat keine Lust und wirklich anderes zu tun, als eine ganze Woche mit ihrer jüngeren Schwester und uns Eltern abzuhängen. Aber wir können ruhig fahren, ohne sie, teilt sie großzügig mit. Mache ihr überhaupt nichts aus! „Alleine zuhause? Das kannst du vergessen!“, erwidere ich. Ich bin noch nicht bereit, die Familienreisen ohne sie anzutreten. So lange es geht, werde ich mich gegen das Unvermeidliche wehren. Außerdem liegt es mir wirklich am Herzen, dass auch sie ein paar schöne Tage mit uns verbringt. Auf der anderen Seite möchte ich mir von einem schlechtgelaunten, meckernden Teenager nicht den Urlaub verderben lassen.

Mein Mann und ich liebäugeln mit einem Trip nach Berlin und Potsdam. Da können die Mädchen in der Hauptstadt direkt ein bisschen Geschichte schnuppern! Vor ein paar Monaten hat uns Bully Herbigs Film „Ballon“, in dem die wahre Geschichte über die Flucht zweier Familien aus der ehemaligen DDR in ihrem selbstgenähten Heißluftballon erzählt wird, sehr gefesselt. Zudem hat Lara bereits mehrere Bücher gelesen, die die alten DDR-Zeiten thematisieren. Und überhaupt spielt nahezu jeder zweite coole Teenagerfilm in Berlin. Berlin ist das London von Deutschland! Hip und angesagt! Mit diesen Argumenten versuche ich Lara die Reise schmackhaft zu machen.

„Mensch, Mama, ich habe gesagt, ich will nicht weg!“ „Aber wir wollen nach Berlin! B-e-r-l-i-n! Brandenburger Tor, Checkpoint Charlie, East Side Gallery, die Spree“, locke ich. „Und nach Potsdam. Filmpark Babelsberg, Schloss Sanssouci.“ Sie verdreht die Augen. Wo ist nur meine neugierige und begeisterungsfähige Tochter geblieben? Schlösser und Parks haben doch früher eine magische Anziehungskraft auf sie ausgeübt!  „Wir buchen für dich und Maya auch ein eigenes Doppelzimmer! Mit WLAN!“  Die Zeiten des Familien-Hotelzimmers sind schon länger gezählt. Fünfzehnjährige wollten nicht mehr mit ihren Eltern in einem Raum residieren. Eigentlich nicht mal mehr mit der drei Jahre jüngeren Schwester, aber irgendwo muss man finanziell auch die Kirche im Dorf lassen. „Berlin hat eine unglaublich hohe Promidichte. Wer weiß, wen wir dort alles treffen.“ Lara lächelt nur müde. „Ist klar!“ „Wirklich! Als ich mit Papa vor ein paar Jahren in Berlin war, ist Harald Glööckler an mir vorbeigelaufen.“ Mit Harald Glööckler kann ich sie dann wirklich nicht überzeugen, also werfe ich den letzten entscheidenden Köder: „Shoppen! KaDeWe! Hackesche Höfe! Kurfürstendamm!“ Sie überlegt. „Und wo wohnen wir dann? In diesem großen, berühmten Hotel am Brandenburger Tor?“ „Natürlich! Wir steigen im Adlon ab. Wo denn sonst“, sage ich schmallippig und tippe mir an die Stirn.

Doch es ist beschlossene Sache: Wir fahren nach Berlin, aber Lara wird, wie sie mir ein paar Tage später verkündet, sowieso die meiste Zeit ohne uns unterwegs sein. Weil sie sich in Berlin nämlich mit Emma treffen wird. Emma habe ich vor ein paar Monaten flüchtig kennenlernen dürfen, bevor sie mit ihren Eltern nach Berlin gezogen ist. Ich kommentiere das mit einem kurzen „Aha“. Es bringt grundsätzlich nichts, mit Teenagern über ungelegte Eier zu diskutieren. Meine Tochter stellt sich anscheinend vor, tagsüber mit ihrer Berliner Freundin den Kurfürstendamm leer zu shoppen, um dann anschließend die Nächte in angesagten Clubs durchzutanzen.

Bei unserer Ankunft in Berlin werden wir vom goldenen Herbst verwöhnt. Wir steigen in einem Hotel am Alexanderplatz ab und befinden uns somit zentral und in unmittelbarer Nähe zu ALEXA, einem großen Einkaufszentrum. „Gut, dann können wir ja jetzt direkt shoppen gehen“, schlägt Lara vor. Ich weise sie auf den Sonnenschein und die Tatsache hin, dass es Sonntag ist und das Shoppingcenter somit geschlossen. Entrüstet beschließt sie, alles erst mal möglichst blöd zu finden, auch die vorgeschlagene Stadtrundfahrt mit dem Bus. Aber als sie dann oben im offenen Cabrio-Doppeldeckerbus sitzt, die Sonne strahlt und der Fahrtwind ihr Haar streichelt, sieht sie zufrieden aus. Und auch der anschließende Besuch bei Madame Tussauds („Eigentlich habe ich ja keinen Bock, aber okay“), der lange Fußmarsch quer durch die Stadt und das Abendessen in dem netten Restaurant am Hackeschen Markt („Eigentlich würde ich lieber ins Hotel, da gibt es wenigstens vernünftiges WLAN, aber okay, ich habe auch Hunger“) scheinen ihr zu schmecken. Zwischendurch schickt sie ihren Freundinnen Sprachnachrichten: „Boah, meine Familie schleppt mich jetzt schon seit fünf Stunden durch die Gegend. Ich will nach Hause.“ Doch richtig abnehmen kann man ihr die Anti-Haltung nicht.

Sie genießt ganz offensichtlich die Tage in der Hauptstadt („Ich habe echt nicht gedacht, dass Berlin so kultig ist“), bummelt durch die vielen Geschäfte, schippert mit uns über die Spree und steht am Abend beeindruckt vor dem bunt angestrahlten Brandenburger Tor und den vielen anderen Gebäuden, die im Rahmen des „Berlin leuchtet“ Festivals von Künstlern mit Licht und Projektionen spektakulär in Szene gesetzt werden. Das Mauermuseum am Checkpoint Charlie, in dem geglückte und missglückte Fluchtversuche aus der ehemaligen DDR dokumentiert sind, begeistert beide Mädchen. An dieser Stelle bedanke ich mich an Bully Herbig, der es mit seinem tollen Film geschafft hat, meine beiden Töchter für diesen Teil der DDR-Geschichte zu interessieren. Sogar der von mir avisierte Promi kreuzt unseren Weg: Auf der Friedrichstraße radelt am vierten Tag David Garrett an uns vorbei. Das löst aber nur bei mir Schnappatmung aus („Mama, krieg dich ein. Der ist auch nur ein Mensch.“).

Natürlich kommt es zwischendurch immer mal wieder zu kleinen Reibereien und Diskussionen. Laras Laune kann ohne Ankündigung von einem auf dem anderen Moment wechseln. Gerade noch ausgeglichen und interessiert, ist sie im nächsten Moment auf Krawall gebürstet. Mein Mann und ich üben uns in Gelassenheit, die wichtigste Eigenschaft, die Eltern von Teenagern lernen sollten. Wir bekommen Sightseeing, Shopping, Spaß und ein bisschen Bildung unter einen Hut und keiner kommt mit seinen Bedürfnissen zu kurz. Wir akzeptieren, dass Lara einen Abend allein auf dem Hotelzimmer bleiben möchte, um eine Auszeit von uns zu nehmen, während wir noch einmal mit Maya zum Lichtfestival losziehen. Dafür pellt Lara sich unter großen Anstrengungen jeden Morgen aus dem Bett und erscheint zum gemeinsamen Frühstück (sie verschläft tatsächlich nur ein einziges Mal). Als sie sich am Ende der Woche für ein paar Stunden mit Emma verabreden will, planen wir das Treffen entsprechend ein. In Potsdam ist es in erster Linie Laras Wunsch, Schloss Sanssouci zu besichtigen („Klar buchen wir die Schlossbesichtigung! Gar keine Frage! Ich will sehen, ob das auch so prunkvoll ist, wie das Schloss von Ludwig II, das wir letztes Jahr am Herrenchiemsee besichtigt haben.“). Es ist ein Moment von vielen, in denen ich zufrieden feststelle, dass das begeisterungsfähige und interessierte Mädchen doch noch in ihr schlummert und nicht vollständig von einem shopping- und handysüchtigen Teenager überlagert wurde.

Am Morgen unserer Abreise steht Lara neben mir am Hotel-Buffet und erwähnt unverhofft: „Ich fand die Woche mit euch eigentlich echt schön.“ Mein Mutterherz geht auf wie warmer Hefeteig im Backofen. „Aber jetzt rechne doch mal aus, wie viel ihr gespart hättet, wenn ich nicht mitgekommen wäre.“ Ich überschlage im Kopf spaßeshalber ein paar Zahlen, denke an das sündhaft teure Entrecôte, das sie beim Italiener gegessen hat, an die Eintrittsgelder für Museen und Filmpark, die Rundfahrten, die unzähligen Caramel-Frappuccinos und die Klamotten, die sie uns abschwatzen konnte und komme dennoch nur zu einem Ergebnis: Die gemeinsame Zeit, unsere intensiven Gespräche und die vielen kleinen Erlebnisse mit der gesamten Familie sind und bleiben für mich unbezahlbar. Berlin wird uns allen in wunderbarer Erinnerung bleiben.