Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Lesen? Nein, danke!

Nicht alle Kinder lesen gern. Aber man kann wenigstens versuchen, es ihnen von klein auf nahezubringen.

Lesen nimmt in unserem Haushalt einen großen Stellenwert ein. Ich habe meinen Töchtern von klein auf vorgelesen – täglich und manchmal stundenlang. Erst waren es Bilderbücher, die wir gemeinsam betrachteten, dann die ersten Geschichten aus Vorlesebüchern und später umfangreichere Kinderromane.

Als sie sich später durch die ihre ersten Erstleserbücher kämpften, habe ich sie motiviert und nicht lockergelassen. Das Lesen der aneinandergereihten Buchstaben, die anfangs vermeintlich noch kaum Sinn ergeben, ist für Leseanfänger anstrengend und frustrierend. „Komm lies zwei Sätze, dann lese ich den Rest der Seite“, lockte ich oder: „Wenn du jetzt noch eine ganze Seite schaffst, dann lese ich dir noch ein weiteres Kapitel vor.“ Später, als die Kinder längst flüssig lesen konnten, las ich weiter vor. Manchmal greifen wir heute noch zu den Lieblingsgeschichten aus den alten Kinderbüchern. Das mag Maya besonders. Es erinnert sie an ihre frühe Kindheit und die vielen gemeinsamen Abende, an denen ich mit einem Buch in der Hand an ihrem Bett gesessen habe. Kürzlich hat sie den Vorlesewettbewerb der 6. Klassen ihrer Schule gewonnen. Der jährlich stattfindende Vorlesewettbewerb wird von der Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels in Zusammenarbeit mit Buchhandlungen, Bibliotheken, Schulen und kulturellen Einrichtungen veranstaltet. Ich war nicht überrascht. Maya weiß, wie man eine Geschichte so betont und lebhaft vorlesen kann, dass man ihr gerne zuhört.

Lesen – die wichtigste Grundlage der Bildung  

Ohne Lesen keine Bildung. Ohne Bildung keine Chance auf einen erfolgreichen Bildungsweg. Ganz einfach! Einfach für meine Kinder und die Kinder, deren Eltern es ähnlich handhaben wie ich. Die Freude am Lesen und Schreiben ist meinen Kindern in die Wiege gelegt worden. Aber gerade in bildungsfernen Schichten kommen Kinder in der Frühförderung immer noch viel zu kurz.

Laut der aktuellen Pisa-Studie der OECD ist der Leistungsunterschied im Bereich Lesekompetenz zwischen Schülerinnen und Schülern mit günstigem sozioökonomischem Hintergrund und solchen mit ungünstigem Hintergrund in Deutschland beträchtlich und hat sich seit 2009 um 9 Prozentpunkte ausgeweitet.

Für diese Kinder verringern sich schon im Kindesalter die Chancen auf einen erfolgreichen Werdegang drastisch. Es ist wichtig, mit der Leseförderung lange vor dem Schuleintritt zu beginnen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind später selber öfter zum Buch greift, ist bei den Kindern, denen schon früh und regelmäßig vorgelesen wurde, größer als bei anderen Kindern. Abends noch einmal vor dem Schlafengehen Quality Time mit den Eltern genießen und in eine Geschichte abtauchen. Gemeinsam gruseln, rätseln oder lachen, welches Kind würde sich dem verweigern? Der Einstieg ist so simpel, eigentlich gibt es für Eltern hier keine Ausrede. Wer abends geschlaucht vom Tag ist, der legt sich einfach zu seinem Kind mit ins Bett oder liest auf dem Sofa vor, um gleichzeitig die Beine hoch zu legen. Zwanzig Minuten oder vielleicht auch nur fünfzehn Minuten Zeit für sein Kind. Das muss drin sein! So entwickelt sich über viele Jahre ein festes Eltern-Kind-Ritual und das Kind greift später – hoffentlich – selbst zum Buch. 

„Lesen ist uncool“

Mehr als die Hälfte der Jugendlichen, die an der aktuellen Pisa Studie teilgenommen haben, gaben an, vor allem zu lesen, um benötigte Informationen zu bekommen. Nur ein Viertel liest wirklich gerne. Ein Drittel hält Lesen gar für Zeitverschwendung. Jeder fünfte Fünfzehnjährige kann nicht einmal auf Grundschulniveau lesen. Bundesbildungsministerin Anja Karliczek findet das bedenklich und betonte, dass sie die ins Leben gerufenen verschiedene Programme zur frühkindlichen Förderung konsequenter weiterverfolgen werde.

Ich hoffe sehr, dass das Bildungsministerium aktiv am Ball bleibt und ich hoffe auch, dass Lesen irgendwann wieder ein besseres Image bekommt. Denn Lesen gilt, nicht nur in bildungsfernen Kreisen, häufig als uncool. Maya liest gerne, im direkten Vergleich zu ihrer großen Schwester Lara aber gemäßigt. Lieber treibt Maya Sport. Nach dem Duschen hockt sie sich für eine Stunde in ihre Kuschelecke oder macht es sich abends im Bett gemütlich und liest, um zu entspannen. Lara tickte da immer schon etwas anders und extremer. Sie hatte als Kleinkind einen sehr großen Bewegungsdrang und war körperlich eine echte Herausforderung für mich. Las ich ihr jedoch vor, war sie das ruhigste und konzentrierteste Kind der Welt. Sobald sie einigermaßen flüssig lesen konnte, wurden wir Stammgast in der Stadt-Bücherei und brachten die ausgeliehenen Bücher gleich körbeweise nach Hause. Erst las sie sich durch das gesamte Regal mit den Pferde- und Einhornbüchern und ging bald zu dicken Fantasy-Büchern und den gängigen Mädchenbuch-Reihen über. Egal, ob sie im Auto, im Garten, im Restaurant oder am Strand im Sommerurlaub saß – Laras Nase steckte stets in einem Buch. Sie nahm ihre Bücher mit in die Schule, um in jeder noch so kurzen Pause schnell noch ein paar Seiten zu inhalieren. So wurde sie von den Klassenkameraden schnell als Freak und langweiliger Bücherwurm abgestempelt. Lesen und dann auch noch ständig über Bücher reden – wie uncool! Das hat Lara damals sehr verletzt und frustriert.

Auf dem Gymnasium wurde es nicht einfacher für sie. Als Lara zu allem Überfluss auch noch anfing, über Bücher zu bloggen, war ihr der Spott vieler Mitschüler sicher. Jugendliche in der Pubertät zeigen für Kinder, die ihrer Meinung nach nicht dem Mainstream entsprechen, in der Regel wenig Empathie.   Lesen wird von Kindern und Jugendlichen selten als ernstzunehmendes Hobby akzeptiert. Wir haben uns als Eltern oft Gedanken darüber gemacht, wie wir Lara in dieser Situation helfen können. Hätten wir ihr raten sollen, weniger zu lesen oder zumindest weniger darüber zu reden und am besten nicht darüber zu bloggen? In Zeiten, in denen darüber lamentiert wird, dass Kinder viel zu wenig lesen, hätte ich meine Tochter ausbremsen sollen? Es war für Lara wichtig, sich mit Jugendlichen und Kindern zu vernetzen, die die gleiche Leidenschaft wie sie teilten. Ich fuhr mit ihr auf die Buchmesse und zu Lesungen, wo sie auf Gleichgesinnte und Autoren traf, die sie durch ihr Blog kannte und mit denen sie sich austauschen konnte. Ein großes Auffangbecken war außerdem unsere Städtische Bücherei, die kontinuierlich viele tolle Aktionen für lesebegeisterte Kinder und Jugendliche anbietet.

Bücher im Smartphone-Zeitalter

Ich frage mich, ob es zu meiner Schulzeit anders lief. Hatte exzessives Lesen schon immer so ein schlechtes Image?! Ich kann mich daran erinnern, dass wir in der Klasse untereinander Bücher austauschten. Sehr beliebt waren damals die typischen amerikanischen Teenagergeschichten, die der Cora Verlag als Heftroman für Mädchen unter dem Namen „Denise“ zweiwöchentlich herausbrachte. Es gab einen Roman mit einem blauen Cover und einen Roman mit einem rosafarbenen Cover. Man kaufte den einen und die Freundin den anderen, um anschließend auszutauschen. Ging man ins Schwimmbad, nahm man ein Buch mit. Wahrscheinlich ist es wirklich ein wenig unserer Zeit geschuldet. Irgendwo fehlt neben Instagram-Fotoshooting, dem Lieblings-Youtube-Kanal, Snapchat und unbegrenzt Netflix-Serien gucken wahrscheinlich einfach die Zeit, um zusätzlich in der Freizeit noch täglich in Buch-Welten abzutauchen.  

Auch Lara liest inzwischen nicht mehr so unersättlich wie noch vor ein oder zwei Jahren und eher in den Ferien, wenn sie viel Zeit am Stück und Langeweile hat. Mit fünfzehn Jahren steckt sie mitten in ihrer Sturm- und Drangphase. Die sozialen Kontakte sind ihr zurzeit wichtiger als alles andere. Wichtiger als Bücher. Gleichzeitig sind die Anforderungen in der Schule höher geworden. Es geht viel Zeit fürs Lernen drauf und sie ist froh, das Image des uncoolen Lesewurms losgeworden zu sein.

In der aktuellen 7. Pisa Studie lag der Schwerpunkt diesmal auf der Lesekompetenz. Es geht also darum, wie gut die Schüler Texte verstehen, sie nutzen, bewerten und über sie reflektieren können. Erstmals wurde auch getestet, wie gut es den 15-jährigen gelingt, Informationen im Netz zu gewinnen und die Glaubwürdigkeit von Texten zu beurteilen.

Lara ist wahrscheinlich selbst (noch) nicht bewusst, wie sehr ihr ihre Leidenschaft fürs Lesen jetzt schon in der Schule und später für ihren weiteren beruflichen Werdegang von Nutzen sein wird. Sie besitzt eine relativ sichere Rechtschreibung und hat keine Probleme, sich in komplexe Texte einzuarbeiten, Referate auszuarbeiten und sprachlich ansprechend zu formulieren. Das kompensiert ein wenig ihre Schwächen in den naturwissenschaftlichen Fächern, vor allem in Mathe.

Lesemuffel – Eine Frage der Begabung, des Geschlechts und der richtigen Buchwahl     

Es ist natürlich auch eine Frage der genetischen Veranlagung, ob ein Kind lieber Knobelaufgaben löst und sich mit Zahlen beschäftigen möchte oder enthusiastisch zu dicken Büchern greift. Ich habe mir schon früh die Zähne an Lara ausgebissen, wenn ich versucht habe, sie für Zahlenspiele zu begeistern.   

Beim Lesekompetenztest schnitten die Mädchen in allen Ländern und Volkswirtschaften, die an PISA 2018 teilnahmen, deutlich besser ab als die Jungen, während die Jungs in Mathematik im Schnitt 7 Punkte mehr als die Mädchen erreichten.

Es ist also nicht nur ein Klischee, wenn man behauptet, Jungs würden in der Regel weniger lesen und wären eher besser in Mathe. Dennoch kann man mit der richtigen Buchauswahl Abhilfe schaffen. Jungs lesen anders, das hat auch die Buchbranche inzwischen erkannt und bringt immer mehr Bücher heraus, die gezielt Jungs ansprechen sollen. Bestes Beispiel, dass das funktionieren kann, ist die Serie „Gregs Tagebuch“, eine Comic-Roman-Serie, die bei Jungs sehr angesagt ist. Andere Jungs lesen vielleicht lieber ein erklärendes Sachbuch, das sich mit einer bestimmten Thematik befasst oder von ihrem Lieblingssportler geschrieben wurde. Hauptsache das Kind sucht sich das Buch, das es interessiert, selbst aus. Man selbst mag vielleicht als Kind das „Doppelte Lottchen“ und „Die Drei Fragezeichen“ geliebt haben, aber vielleicht mag das eigene Kind lieber Monstergeschichten oder legt Wert darauf, dass das Buch witzig geschrieben und schön illustriert ist und aktuelle Themen behandelt.

Lara liest in der Not alles, was ihr in die Quere kommt. Das konnte dann auch schon mal der Sammelband eines Julia-Heftliebesromans sein, den sie als Elfjährige von der minimalistisch ausgestatteten Hotelbibliothek im Griechenlandurlaub auslieh, weil sie nach zehn Tagen buchtechnisch auf dem Trockenen saß. Maya wiederum ist sehr wählerisch und mag Geschichten, die nah an ihrer Realität geschrieben sind, locker und witzig erzählt und auf keinen Fall traurig sind.  Das Buch für die nächste Etappe des Vorlesewettbewerbs hat sie daher sehr sorgfältig ausgewählt und mir daraus bereits einige Male vorgelesen. Vorgelesen zu bekommen ist etwas Wunderbares. Auch für uns Erwachsene.