Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

„Kann die ihr Kind nicht erziehen?“

Wo kommen nur diese Hörnchen her? Manche Kinder kann man einfach nicht zu sanften Engeln erziehen.

Heute bin ich in der Stadt einer Mutter mit ihrem bockigen Kleinkind begegnet. Der kleine Junge lief weg und forderte seine Mutter regelrecht heraus. Sie schimpfte und sah verzweifelt und sehr, sehr müde aus. Ich hatte Mitgefühl mit ihr, denn ich kenne die Reaktionen der Leute, wenn man mit so einem Kind in einem Café oder Restaurant sitzt. Nach spätestens zehn Minuten wird man giftig angeschaut oder die Leute schütteln scheinbar wissend den Kopf und murmeln Sätze wie: „Die hat ihr Kind nicht im Griff“ oder „Unmöglich, kann die ihr Kind nicht richtig erziehen?“

Als „brav“ oder „gut erzogen“ werden häufig die Kinder wahrgenommen, die scheinbar funktionieren, ohne Widerstand an der Hand laufen und nie heulen. Ich hatte so ein Kind. Maya wich mir als Kleinkind nicht von der Seite. Das hätte sie sich auch gar nicht getraut. Zu groß war ihre Angst, mich verlieren zu können. Ich empfand Mayas Anhänglichkeit immer als sehr angenehm. Man konnte sie problemlos überall hin mitnehmen. „Die ist aber lieb“, lobten Fremde, wenn sie friedlich ihr Eis im Café löffelte oder mir half, beim Einkaufen die Sachen aufs Einkaufsband zu legen, und am Ende der Kasse geduldig wartete, bis ich bezahlt hatte. Maya war Balsam für meine Nerven. Die Wiedergutmachung für ihre große Schwester Lara, die mich in ihren ersten Lebensjahren körperlich und seelisch oft an meine Grenzen gebracht hatte.

Sobald Lara mit knapp einem Jahr laufen konnte, war sie auch schon weg. So richtig weg! Sie rannte wohin sie wollte, immer ein schelmisches Grinsen auf den Lippen. Je besser ihre Beine trainiert waren, umso schneller wurde sie. Jeder Spaziergang wurde zur Machtprobe. Angst existierte in ihrer Welt nicht. Es war ihr egal, wenn wir aus ihrem Blickfeld verschwanden. Wir mussten nach links, sie rannte nach rechts. Aufenthalte in Restaurants oder Cafés waren mit Lara eine Tortur. Sie turnte überall rum, fummelte an fremden Handtaschen oder rannte plötzlich dem Kellner in die Küche hinterher. „Muss doch mal möglich sein, dass wir uns zum Brunchen im Restaurant treffen. XY bringt ihr Kind ständig mit und da ist das auch kein Problem“, sagte eine kinderlose Freundin, als ich sie einmal fragte, ob wir uns zum Oster-Frühstück nicht lieber bei uns Hause treffen könnten. Es war anstrengend, das erklären zu müssen.

Im Urlaub aßen mein Mann und ich unser Hotelabendessen in Rekordzeit und kämpften regelmäßig mit Sodbrennen. Lara pflegte die Teller vom Tisch zu fegen, wenn sie satt war und nicht mehr sitzenbleiben wollte. Sah sie in einem Geschäft etwas, das ihr Interesse weckte, war sie kaum davon abzuhalten, es genauer zu begutachten und anzufassen. Um den bösen Blicken und Kommentaren vorzubeugen, war ich wie ein Panther auf der Jagd stets zum Absprung bereit, um sie einzufangen. Mein Mann unterschätzte Lara damals sehr oft. „Lass sie nicht aus den Augen! Halt sie fest!“, mahnte ich ihn, als ich mich einmal in der Weihnachtszeit an der vollen Kaufhauskasse anstellte. „Klar“, lachte er lässig, um keine Minute später leichenblass den Kinderwagen samt Weihnachtseinkäufen stehen zu lassen und durch die brechend volle Kaufhausetage zu rennen.

Ich erinnere mich an einen Nachmittag, an dem ich mit Lara in der Stadt unterwegs war. Sie war noch keine zwei Jahre alt. Nach zwei Stunden war ich völlig erledigt, brauchte aber noch dringend etwas fürs Abendessen und ging in einen kleinen Lebensmittelladen. Lara rannte wie wild durch die Gänge, während ich meine Einkäufe auf dem Arm balancierte und versuchte sie wieder einzufangen. Als mir das schließlich gelang und ich mich in die Schlange an der Kasse stellte, wehrte sie sich mit vollem Krafteinsatz. Ich war inzwischen klatschnass geschwitzt, packte sie am Schlafittchen und wurde laut. Eine Frau hinter mir sagte zu ihrer Begleitung: „Manche Leute haben wirklich keine Geduld mit ihren Kindern. Man fragt sich, warum sich solche Leute Kinder anschaffen.“ Ich drehte mich zu ihr um und fragte sie, was ich ihrer Meinung nach machen sollte. „Lassen Sie das arme Kind doch los!“, schlug die Frau vor. Sie hatte absolut keine Ahnung, was passiert wäre, wenn ich ihrem Rat gefolgt wäre: Lara wäre aus dem Laden Richtung Straße gelaufen und ich hätte meine Einkäufe fallenlassen müssen, um ihr hinterher zu hechten.

Nach dieser Episode rief ich meinen Mann im Büro an und gestand ihm unter Tränen, ich würde gerade überlegen, ob ich Lara nicht einfach an Ort und Stelle inklusive Kinderwagen aussetzen würde. Letztendlich packte ich Lara in den Kinderwagen, drückte ihr zur Ablenkung eine Flasche Trinkjoghurt in die Hand und versuchte so schnell wie möglich nach Hause zu gelangen. Ich ging verdammt schnell, was nötig war, da Lara sonst aus dem Wagen geklettert wäre. Sie ließ sich bereits nicht mehr anschnallen. Lara schüttelte den Trinkjoghurt einmal kräftig durch und warf ihn dann im hohen Bogen nach oben, sodass sich der gesamte Inhalt über sie und den Kinderwagen ergoss. Das war der krönende Abschluss dieses miesen Nachmittags.

Im Urlaub habe ich mal eine niederländische Familie gesehen, die ihr Kind an einer Art Hundeleine hielten. In Deutschland würde man wahrscheinlich wegen Kindesmisshandlung angezeigt werden, aber ich hätte damals so ein Teil wirklich gut gebrauchen können. In Laras ersten drei Lebensjahren litt ich furchtbar unter Rückenschmerzen. Sport habe ich zu dieser Zeit nicht gebraucht.

Lara sprach sehr spät und da sie mein erstes Kind war, dachte ich, sie würde einfach noch nicht verstehen, wenn ich ihr erklärte, wo wir langgehen mussten, oder wenn ich sie bat, bei mir zu bleiben. Die gleichaltrige Tochter meiner Freundin sprach mit zwei Jahren schon ganz wunderbar. Und wenn man ihr beim Spaziergang sagte, sie solle in den Weg einbiegen, dann tat sie das anstandslos. Sie erschien mir so wahnsinnig weit im Vergleich zu meiner Tochter. Machte ich etwas falsch? Griff ich nicht richtig durch? War ich nicht in der Lage, ein Kind zu erziehen? Gab ich mir zu wenig Mühe? Ich las ihr doch so viel vor und beschäftigte mich mit ihr?

Je älter Lara wurde, desto mehr lernte ich Laras eigenwillige und neugierige Art zu schätzen und ihre unruhige Art zu akzeptieren. Als Maya drei Jahre später auf die Welt kam, erkannte ich endgültig, dass Kinder zwar von ihrem Elternhaus und ihrer Umwelt geprägt werden, aber die meisten Charaktereigenschaften schlichtweg angeboren sind. Meine Töchter sind sich in manchen Dingen sehr ähnlich, in vielen Dingen wiederum grundverschieden. Maya hat sich nie gerne schmutzig gemacht und schreit das ganze Haus zusammen, sobald sich mal ein Insekt in ihr Zimmer verirrt. Sie ist sehr ordentlich und der pingeligste Mensch, den ich kenne. Lara liebte es als Kind im Garten zu matschen und Käfer zu beobachten. In ihrem Zimmer herrscht das kreative Chaos. Sie wollte immer ihren eigenen Weg gehen. Das ist bis heute so geblieben, nur die Unruhe hat sie im Laufe der Jahre abgelegt. Inzwischen ist sie ein ausgeglichener, freundlicher und an vielen Dingen interessierter Teenager.

Ich frage mich, was gewesen wäre, wenn Maya zuerst auf die Welt gekommen und mein einziges Kind geblieben wäre. Hätte ich gedacht, ihre ruhige, folgsame Art wäre allein die Frucht meiner Erziehung? Würde ich dieser Mutter in der Stadt nun einen vorwurfsvollen Blick zuwerfen und ihr das Gefühl geben, sie hätte die Erziehung ihres Sohnes nicht richtig im Griff? Vielleicht kann man Außenstehende nicht dafür verurteilen, wenn sie sich vorschnell über fremde Kinder und deren Eltern eine Meinung bilden. Sie wissen es ja meist nicht besser. Aber wenn man nichts Nettes zu sagen weiß, dann sollte man mit Kommentaren sparsam umgehen. Denn die Erziehung eines Kindes (selbst des vermeintlich „braven“) ist anstrengend und kräftezehrend genug, auch ohne unschöne Reaktionen von Außenstehenden.