Es herrscht dicke Luft. Alle sind sauer. Mein Mann auf mich. Meine Große auf meinen Mann. Meine Jüngste auf meine Große. Und ich auf mich selbst! Ich habe mich mal wieder in die Rolle der Familienrichterin drängen lassen, die nach sorgfältiger Abwägung der Sachlage eine gerechte Entscheidung treffen muss. Der Fall „Heldt gegen Heldt“ steckt in der letzten, heißen Verhandlungsphase. In unserem Rechtsstreit geht es um sechs freie Tage. Karneval steht vor der Tür und in unserer Region kommt man an den jecken Tagen kaum vorbei. Wie gut, dass die Schule das auch so sieht und dieses Jahr direkt vier statt der üblichen drei freien Tage locker gemacht hat. Eine tolle Sache, die den Familien entweder reichlich Zeit zum Feiern oder die Gelegenheit zu einem Kurzurlaub gewährt.
Letzteres hat meinem Mann und mir in den letzten Jahren immer besser gefallen. Wir setzten die Pappnasen gar nicht erst auf, sondern luden am Altweiberfasching die Koffer und unsere Töchter ins Auto und flüchteten dahin, wo man uns auf der Straße garantiert nicht mit Helau oder Alaaf begrüßte. Das war all die Jahre richtig schön: Städtereise nach Ostdeutschland, friedliches Entschleunigen an der See, erlebnisreiche Tage in Frankreich. Natürlich lief die Urlaubsplanung im Vorfeld nicht gänzlich ohne Einspruch seitens der Kinder ab: „Aber alle meine Freunde feiern Karneval!“; „Dann kann ich mein Kostüm ja nur die paar Stunden in der Schule anziehen.“ Sobald jedoch genügend Kilometer zwischen uns und den Karnevalshochburgen lagen, waren die ollen Kamellen kaum noch Thema.
Letztes Jahr reichte Lara dann einen Antrag ein. „Ich bin die letzten Jahre immer nach eurer Pfeife getanzt und mit euch in den Urlaub gefahren. An Karneval bin ich fast sechzehn und ich will endlich mal wieder ein Jahr zu Hause feiern.“ Maya stimmte ihrer großen Schwester zu. Welches Kind ist nicht gerne jeck?! Mein Mann und ich nickten schließlich zustimmend. Als Kind und Teenager war auch für uns die fünfte Jahreszeit etwas Besonderes gewesen.
Karneval rückte näher und die Sehnsucht meines Manns und mir nach einer Alltagsunterbrechung ebenfalls. Wenn et Trömmelche jeht, wollten wir den Dom en Kölle lasse und en Superjeilezick am Meer verbringen. Jetzt, wo die Schule noch einen zusätzlichen freien Tag lockergemacht hatte, schrie alles nach einem Kurzurlaub. Ich zog erst Maya auf unsere Seite. „In meiner Klasse fahren viele weg“, sagte sie achselzuckend und damit war der Fall für sie erledigt. Bei Lara, das wusste ich, würden wir härtere Überzeugungsarbeit leisten müssen. Ich wollte den richtigen Moment abpassen (der nie kam) und dann saßen wir eben alle beim Mittagessen, als Lara ihre Karnevalsplanung vor uns ausbreitete und mit einem vorwurfsvollen Unterton sagte: „Ihr wisst, was ihr versprochen habt! Kommt mir also bloß nicht damit, dass wir doch wegfahren.“ Sie hatte längst Lunte gerochen.
Für meinen Mann war die Sache klar: Angesichts des zusätzlichen Brückentages hätte Lara sich zu fügen. Es entstand eine emotionsgeladene Diskussion unter Tränen. Versprochen hätten wir es! Hoch und heilig! Und jetzt das! Wo sie sich doch schon alle Tage verabredet hätte. Es wurde unsachlich und mein Mann holte die autoritäre Keule raus: „Wir fahren. Punkt.“ Lara flippte komplett aus: „Du kannst mich nicht zwingen! Ich habe keinen Bock mit euch und meiner kleinen Schwester irgendwo rumzuhängen, wenn alle anderen feiern gehen.“ Maya heulte nun ebenfalls. Sie war verletzt, denn sie liebt es mit ihrer Schwester intensiv Zeit verbringen und kommt immer noch nicht damit klar, dass Lara immer mehr ihr eigenes Ding macht. Ich versuchte, alle zu beruhigen, bat um Ruhe im heimischen Gerichtssaal und merkte an, dass noch nicht endgültig entschieden wäre. Damit wurde die Verhandlung unterbrochen.
Jetzt sind alle sauer. Mein Mann auf mich, weil er der Meinung ist, ich wäre viel zu schnell eingeknickt. Lara auf meinen Mann, weil er sein Versprechen brechen und sie zwingen will. Maya auf Lara, weil sie sich von ihr beleidigt fühlt. Und ich auf mich selber, weil ich wieder einmal automatisch in die Rolle der Justitia geschlüpft bin. Selbst schuld?
Wenn Kinder sich streiten, sollte man sich grundsätzlich nicht einmischen. Höchstens wenn der Streit eskaliert, um mit den Streithähnen einen gemeinsamen Lösungsansatz zu suchen. In der Theorie klingt das alles logisch und sehr einfach: Eine ruhige Diskussionsrunde, in der jeder seinen Standpunkt klarmacht und schnell eine Einigung erzielt wird, mit der alle zufrieden sind. Was aber, wenn die Lösungsansätze und die unendlichen Diskussionen ins Nirwana führen? Wenn die Nerven längst blank liegen, weil man das Kreischen und Türenschlagen nicht mehr ignorieren kann und will? Wenn Lara und Maya sich morgens im Bad streiten, weil Lara mal wieder zu spät aufgestanden ist und das Bad besetzt, greife ich ein und setze Lara ein Zeitlimit, damit die Mädchen pünktlich in die Schule kommen und ich nicht schon am frühen Morgen mit Magenschmerzen kämpfen muss. Manchmal ist ein schneller Richterspruch die bessere, nervenschonendere Wahl. Natürlich ist eine Partei anschließend sauer auf mich. Nämlich die, die meint, als Verlierer aus dem Urteil hervorzugehen.
Als Mutter sitzt man ständig zwischen den Stühlen. Dabei stelle ich, wie die meisten meiner Artgenossinnen, meine eigenen Wünsche hintenan. Um des lieben Friedens willen. Mein Mann will im Urlaub mit dem Mietwagen die Gegend erkunden, die Mädchen wollen aber an den Pool. Ich vermittele und suche einen Kompromiss, obwohl ich eigentlich lieber mit meinem Buch am Strand liegen und durch den Ort bummeln möchte. Maya möchte Reis, Lara und mein Mann lieber Nudeln zum Lieblingsgericht. Ich koche beides, obwohl ich eigentlich Appetit auf Salat oder eine Suppe habe. Beansprucht Maya den Laptop für ihr Referat ausgerechnet dann, wenn Lara gerade dran sitzt, biete ich Maya meinen PC an und verschiebe meine eigene Arbeit auf den Abend. Die Wünsche einer Familie unter einen Hut zu bekommen, niemanden zu kurz kommen zu lassen und Kompromisse zu finden, empfinde ich jeden Tag aufs Neue als Herausforderung. Und manchmal muss ich schon sehr aufpassen, dass ich mich dabei selbst nicht ganz vergesse.
Und was Karneval betrifft: Ja, ich würde viel lieber wegfahren, aber ich will auch nicht sechs Tage lang Laras schlechte Laune und die Streitereien auf engem Raum ertragen müssen. Außerdem: Eine Abmachung ist eine Abmachung und wir sollten Lara gegenüber zu unserem Wort stehen. Daher versuche ich die Wogen zu glätten und Recht walten zu lassen. Ich heitere Maya auf und schlage ihr vor, in die Stadt zu fahren und ein Kostüm auszusuchen. Meinen Mann tröste ich damit, dass wir nächsten Monat doch sowieso ein paar Tage alleine wegfahren, während beide Mädchen gleichzeitig auf Klassenfahrt sein werden. Danach nehme ich von Freunden die Einladung zu einer Karnevalsparty an. Wenn das gefällte Urteil nämlich einmal rechtskräftig ist und die Ordnung wiederhergestellt, kehrt auch wieder Ruhe und Harmonie ins Familienleben ein.