Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Was Kinder von der Langeweile lernen können

„Uns ist langweilig!“ Aber Eltern wissen: Kinder haben herausragende Fähigkeiten, sich selbst zu beschäftigen.

„Was machst du gerade? Mir ist langweilig.“ Diesen Satz höre ich in den letzten Tagen aus gegebenem Anlass wie viele andere Eltern, die mit ihren Kindern zu Hause festhängen, nun etwas häufiger. Maya möchte Federball, Findet-Hubi oder Kniffel mit mir spielen. Ich unternehme gerne etwas mit meinen Kindern, fahre mit ihnen Rad, spiele leidenschaftlich gerne Kniffel und Stadt-Land-Fluss und manchmal auch Federball und Tischtennis, aber ich stehe auf keinen Fall auf Abruf parat. Wenn ich zu tun habe, erwarte ich von Maya, dass sie sich alleine beschäftigt und in diesem Fall nicht nonstop zum Smartphone greift. Einer Zwölfjährigen „Nein, ich habe jetzt keine Zeit für dich“ zu sagen ist natürlich einfacher als einem jüngeren Kind, das nicht immer versteht und auch nicht akzeptieren will, wenn man es abweist. 

Geschwister vereinfachen in dieser Hinsicht vieles. Maya hatte großes Glück. Ihre dreieinhalb Jahre ältere Schwester Lara gab die perfekte Spielpartnerin ab. Lara war schon als kleines Kind ungemein kreativ und fantasievoll. Sie brauchte nicht viel, um sich mit sich selbst zu beschäftigen. Im Sommer reichte ihr ein Gefäß, mit dem sie in Garten Käfer sammeln konnte, oder die Schaukel. Wenn gerade keine Spielgefährtin verfügbar war, unterhielt sie sich angeregt mit ihren Stofftieren oder anderen imaginären Freunden. Das konnte auch schon mal ein Baum sein. Brettspiele oder angeleitete Spiele lehnte sie größtenteils ab. Die waren ihr zu fade, sie lebte lieber in ihrer eigenen Fantasiewelt. Als Maya alt genug war, dass Lara etwas mit ihr anfangen konnte, baute Lara die kleine Schwester wie selbstverständlich in ihre Rollenspiele ein. Zusammen richteten meine Töchter pompöse Puppen-Hochzeiten aus, verwandelten den Garten in ein riesiges Ponyhofgestüt oder bauten sich unter dem Hochbett eine Höhle und spielten „Eingeschlossene Kinder im Schneesturm“. Dadurch war auch ich sehr verwöhnt. Meine Kinder waren immer beschäftigt und ich konnte zu Hause ungestört meine Arbeit erledigen. Zwischendurch baten sie mich höchstens um Verpflegung für ihre Weltreise durch den Garten oder um Taschenlampen, damit sie im Keller Sankt Martin spielen konnten.  

Als Lara langsam in die Pubertät kam, wurden die gemeinsamen Spiele mit der Schwester weniger und Maya mutierte – zumindest spieltechnisch – zum Einzelkind. Immer öfter zog die Langweile bei ihr ein. Maya gehörte zu den wenigen Grundschulkindern, die mittags nach Hause kamen. Fast alle ihre Freundinnen nahmen an der Ganztagsbetreuung in der Schule teil, kamen erst nachmittags nach Hause und hatten anschließend noch diverse Freizeitaktivitäten. Einen gemeinsamen Spieltermin mit Freundinnen zu finden, war manchmal schwerer als einen EU-Sondergipfel einzuberufen: „Montag? Nein, montags kann Lilly nicht. Wenn sie aus der Betreuung kommt, muss sie zum Ballett. Dienstag dann Klavier und Donnerstag Schwimmunterricht. Mittwoch würde gehen, aber erst ab halb fünf, wenn ich sie von der Betreuung abgeholt habe. Aber da hat deine Maya ja Tanzen. Vielleicht kannst du Lilly am Freitag früher aus dem Ganztag abholen? Das haben die Betreuer zwar nicht gern, aber ich frage nach, ob es ausnahmsweise geht.“ Der Alltag vieler Kinder ist oft schon im Kindergarten streng durchgetaktet. Da bleibt wenig Zeit fürs Nichtstun oder Langweile. Dabei ist Langweile nicht immer negativ und eigentlich sehr wichtig. Langweile tut nicht weh. Langweile fördert die Kreativität, das ist wissenschaftlich belegt. Durchatmen und einen Moment für sich alleine haben. Ohne Geräuschkulisse. Selbst entscheiden, was man mit der freien Zeit anfängt. Sich selbst organisieren. Eigene Spiele erfinden. Eigenständig entscheiden, was man unternehmen möchte. Vor einem leeren Blatt Papier sitzen und nicht wissen, was darauf in der nächsten Stunde entstehen wird: Ein Bild? Eine Geschichte? Ein Klebemosaik? Mit selbst zusammengesuchten Materialien etwas erschaffen, ohne Anleitung oder Bauplan. Eigene Ideen entwickeln. Nachdenken. Staunen, zu was man fähig ist.

Leider haben wir Erwachsenen oft das Gefühl, es grenzt an Vernachlässigung, sobald wir unsere Kinder nicht sinnvoll beschäftigen. Dabei müssen wir kein schlechtes Gewissen haben, wenn wir sagen: „Beschäftige dich jetzt mal eine Weile alleine.“ Es tut den Kindern gut. Natürlich brauchen sie Struktur in ihrem Alltag, aber auch unverplante Zeit gehört unbedingt in den Tagesablauf. Und nicht alles, was ein Kind tut, muss einen Sinn oder einen sichtbaren Lerneffekt haben.

Maya, die damals auf einmal ihre beste Animateurin verlor und nicht gewohnt war, alleine zu spielen, musste sich erst umstellen. Das fiel ihr nicht leicht. Wenn Maya mal wieder bei Lara abgeblitzt war, kam Maya traurig zu mir und sagte: „Aber was soll ich denn jetzt machen? Spielst du mit mir?“ Ich feuerte mein gesamtes Repertoire an Vorschlägen ab: „Bau doch deine Schleichtierwelt auf.“ „Du hast schon lange nicht mehr Lego-Friends gespielt.“ „Hör dir die neue Hörspiel-CD an und male etwas dabei.“ „Geh in den Garten schaukeln.“ Keiner meiner Vorschläge fand gewöhnlich Anklang und irgendwann trat ich genervt auf die Bremse: „Dir wird schon etwas einfallen. Ich kann jetzt nicht.“ Maya verzog sich beleidigt in ihr Zimmer und knallte die Tür geräuschvoll hinter sich zu. Mir tat es leid, sie abweisen zu müssen, aber was nicht ging, ging nicht und ich konnte nicht immer alles für sie stehen und liegen lassen. Wenn ich dann später in ihr Zimmer trat, saß sie ganz versunken da und spielte mit ihren Puppen. Oder sie sah von ihrem Schreibtisch auf und zeigte mir begeistert ihre neusten Projekte: eine eigene Bildergeschichte oder ein selbst gestaltetes Frage-Freunde-Buch.   

Können Sie sich daran erinnern, wie Sie sich als Kind so manche Nachmittage zu Hause zu Tode gelangweilt haben? Im Fernsehen lief nichts, das Wetter war schlecht und keiner hatte Zeit für einen. Irgendwann wusste man vor lauter Langeweile nicht mehr ein noch aus und wälzte sich auf dem Kinderzimmerboden hin und her, durchwühlte lustlos die Schränke, nahm Spielsachen in die Hand und stellte sie verächtlich wieder hin. Tot umfallen wollte man am liebsten vor lauter Eintönigkeit. Wie gemein, dass keiner sich um einen kümmerte! Und dann, aus heiterem Himmel, fiel einem das aufregendste Spiel oder die tollste Beschäftigung ein. Einfach so! Man verfiel in einen regelrechten Spiel- oder Schöpfungsrausch, der nur unterbrochen wurde, weil es Zeit war, ins Bett zu gehen.

Langweile hat so viel Positives, wir haben nur inzwischen vergessen uns zu langweilen, weil wir dem kleinsten öden Gefühl nachgeben und direkt zum Smartphone greifen. Selbst kleinere Kinder sollten schon lernen, sich regelmäßig alleine zu beschäftigen. Dafür kann man Absprachen treffen und hart bleiben: „Du beschäftigst dich jetzt mal ganz alleine und später habe ich wieder Zeit für dich.“ Wir müssen nicht die Spielregie für unsere Kinder übernehmen. Und wir sollten nicht unterschätzen, wie viel Kreativität in einem Kinderkopf steckt. Kinder besitzen eine grenzenlose Fantasie, die uns Erwachsenen leider ein wenig verloren gegangen ist. Das Überangebot an Spielzeug, Freizeit- und Fördermöglichkeiten ist nicht immer positiv. Manchmal ist weniger mehr.   

In den nächsten Wochen müssen fast alle Kinder ihre Zeit ohne Sportverein, ohne Spiel-Verabredungen und ohne Dauer-Bespaßung verbringen. Aber sie haben ja noch ihren größten Schatz: ihre grenzenlose Fantasie. Die muss nur herausgekitzelt und eingesetzt werden – indem man sich einfach mal langweilt. Vielleicht entsteht dadurch ganz viel Gutes und Kreatives.