Schlaflos

Schlaflos

Das Familienblog der F.A.Z.

Bitte nicht anfassen!

"Komm mir nicht zu nah" - für Tiere sind Kinder meist weniger vergnüglich als umgekehrt.
„Komm mir nicht zu nah“ – für Tiere sind Kinder meist weniger vergnüglich als umgekehrt.

Wenn mein Sohn Max auf ein Insekt trifft, ist das wie Russisches Roulette – natürlich für das Insekt. Max ist eineinhalb und ist nicht grade zimperlich, wenn er eine spannende Entdeckung wittert. Und Käfer, Bienen, Raupen und Regenwürmer zählen zu den alleraufregendsten Entdeckungen seines momentanen Alltags. 

Kürzlich entfuhr mir ein spitzer Freudenschrei, als ich in unserer Mahonie einen Marienkäfer entdeckte, der gerade dabei war, seine starren Glieder in der Frühlingssonne unserer Terrasse aufzuwärmen. Schon stand Max neben mir, drängelte und wollte direkt zupacken. Ich konnte den ersten Angriff verhindern und versuchte, das Tierchen dazu zu bewegen, freiwillig auf Max‘ jetzt ausgestreckte Hand zu krabbeln. Doch der Marienkäfer stellte sich tot – und so half Max etwas nach. Er drückte auf die gepunkteten Deckflügel, und da war es auch schon zu spät. Noch bevor ich den Tropfen bräunliche Flüssigkeit auf Max‘ Hand sah, wusste ich, dass der Marienkäfer die Neugier meines Sohns nicht überlebt hatte. 

Das gleiche Schicksal haben seither zwei Raupen, zwei Spinnen, drei Feuerwanzen, zwei weitere Marienkäfer und ein Regenwurm erleiden müssen. Wo auch immer Max ein Insekt oder ähnlich großes Tier entdeckt, drückt, zieht, quetscht er daran herum. Erst habe ich erklärt, irgendwann geschimpft. Inzwischen halte ich Max auf Abstand und rette die Tiere auf Mauern oder Blätter, die er nicht erreichen kann. Finde ich bei der Gartenarbeit ein Tier, behalte ich es in meiner Hand und schließe sie schnell, wenn Max‘ Grapschhand sich wieder nähert.

Wie erklärt man einem Kleinkind, dass auch Insekten Tiere sind, die man nicht einfach töten darf? Einem Kind, das mit dem Wort „tot“ noch gar nichts anfangen kann – und auch nichts anfangen können muss? Ich versuche es mit: „Max, schau, der Käfer geht kaputt. Nur gucken, nicht anfassen.“ Es klappt mäßig. „Max, das ist Papa Feuerwanze, er geht zur Arbeit. Das ist Mama Feuerwanze, sie geht auch zur Arbeit, schau wie schnell sie läuft, und das ist das Baby, so wie du.“ Schon besser. Max guckt aufmerksam und behält seine Finger bei sich. Am meisten Erfolg hat mein Mann: „Max, ein Käfer ist ein Tier, wie unser Hund, nur in ganz ganz klein.“ „Wawa“, sagt Max.

Einen Marienkäfer mit einem Hund zu vergleichen – ein kluger Schachzug. Denn Hunde kennt und liebt Max. Er weiß, dass sie zwicken, wenn man ihnen wehtut. Ganz vorsichtig ist er mit ihnen und gluckst vergnügt, wenn er mit seinem Finger behutsam Fell oder Schnauze berühren darf. 

Ich habe mir für meinen Sohn Natur gewünscht, die er anfassen kann, ohne dass ich befürchten muss, dass er Zigarettenkippen, Glasscherben oder Schlimmeres in die Hand bekommt. Dafür sind wir aus der Stadt hinaus ins Grüne gezogen. Ich wusste, dass es das Richtige ist, als ich beobachtet habe, wie ruhig Max im Wald wurde. Wie sicher er sich bewegte und den Geräuschen lauschte. Wie er Vögel in den Zweigen entdeckte und Käfer unter der Rinde alter Bäume. Ich will, dass Max die Natur entdecken und lieben lernt – aber auch respektvoll damit umgeht. Dazu gehört, keine Tiere zu zertreten, Äste abzubrechen oder Blumen abzureißen. 

Als Kind verbrachte ich jeden Sommer in einer Kinderfreizeit im Wald. Vorsichtig mit Tieren umzugehen, brachte es dort sogar zu einer Strophe im Ferienlager-Lied: „Frösche, Krebse, Salamander fangen niemals wir mit’nander“, hieß es da. Wir haben sie natürlich trotzdem gefangen, wollten doch wissen, wie sich so ein großer Frosch in der Hand anfühlt. Seine starken Beine und sein klopfendes Herz spüren. Wir wollten entdecken, untersuchen, alles ganz genau wissen. Die Liedzeile dichteten wir um in „Fangen fröhlich wir mit’nander.“ Nach kurzer Zeit ließen wir die Tiere wieder frei. 

Auch ich habe Schnecken gesammelt und mit Salat gefüttert, wir haben Schneckenrennen veranstaltet und einmal, als einer Schnecke das Haus gebrochen war, habe ich aus Neugier immer weiter daran herumgepult. Die Schnecke ist noch in der Nacht vertrocknet, bis heute habe ich deshalb ein schlechtes Gewissen. 

Ich kann Max‘ Entdeckerdrang also durchaus nachvollziehen, doch ich will ihn in positive Bahnen lenken. Deshalb fahren wir so oft wie möglich in den Wald, locken zu Hause die Katzen unserer Nachbarn mit Leckerli und beobachten Insekten aus sicherer Entfernung. Außerdem habe ich mir in einigen Internetforen Tipps geholt und für Max eine Becherlupe bestellt. So kann er sich die Tiere in Groß anschauen – ohne dass sie in Gefahr sind. Ich habe auch unseren Bücherbestand um das Thema Insekten aufgestockt; seit Corona haben wir ja viel Zeit zum Draußensein und Bücher lesen. „Die kleine Raupe Nimmersatt“ haben wir schon, jetzt kommt „Die kleine Spinne Widerlich“. Ein Buch, das selbst die größten Spinnenhasser gnädig stimmen soll. Mal sehen, was es nützt.