Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Nachtaktiv und übellaunig

Nachtaktiv und bei Ansprache übellaunig: Nai Bonet hat als Vampir in „Nocturna“ von 1979 mit Teenagern einiges gemeinsam.

Ich lese gerne die Anzeigen in der Wochenendausgabe unseres Käseblättchens. Letzte Woche las ich eine Anzeige, in der Eltern ihrem Sohn auf sehr sarkastische Art und Weise alles Gute zum achtzehnten Geburtstag wünschten. Sie schrieben, er solle ruhig so bleiben wie er wäre, weiterhin sein dreckiges Geschirr im Zimmer sammeln, chillen und die Nächte durchzocken und bloß niemals auf die Idee kommen, den Rasen zu mähen. Da wusste ich: Es trifft nicht nur mich. Sie sind überall, mitten unter uns – Teenager-Vampire, die unsere Gutmütigkeit und Geduld bis zum letzten Tropfen aussaugen und unseren Kühlschrank leerräumen. Bei Lara fing die Verwandlung letztes Jahr pünktlich zum fünfzehnten Geburtstag an. Mein Kind mutiert immer mehr zu einem Geschöpf der Nacht, das Joghurtbecher und leere Flaschen in seinem Zimmer sammelt, ständig telefonierend am Handy hängt, die Vormittagssonne meidet und die Zähne angriffslustig fletscht, sobald man es wagt, ihre Gruft unaufgefordert zu betreten.

Am Wochenende versammeln sich gerne ihre gleichgesinnten Freundinnen in unserem Keller, um ungestört und unbeobachtet gemeinsam zu kichern, Chips und Pizza zu essen, DVDs zu schauen, im Morgengrauen auf der großen Sofalandschaft einzuschlafen und erst am nächsten Mittag aufzustehen. Die Abgeschiedenheit des Kellers hat für meinen Mann, Maya und mich den Vorteil, dass wir ungestört durchschlafen können. Wenn Lara nämlich in ihrem Zimmer, das an unserem Schlafzimmer grenzt, die Nacht zum Tag macht, ist es aus mit der Nachtruhe. Sie sucht ständig die Toilette auf oder holt sich in der Küche etwas zu trinken und reißt uns damit regelmäßig aus dem Tiefschlaf. Also bin ich dankbar für unseren Keller und dankbar, dass Lara ihre Nächte am Wochenende bisher noch weitestgehend zu Hause verbringt und wir uns (noch) nicht ständig die Nächte um die Ohren schlagen, weil wir sie mitten in der Nacht von einer Party abholen oder uns Sorgen machen müssen.

Während der Schulzeit bleibt meiner Teenager-Tochter nichts anderes übrig, als zu einer menschlichen Tageszeit die Beine aus dem Bett zu schwingen. 7.20 Uhr, das ist montags bis freitags in etwa Laras Zeit, um unter Anstrengungen aus dem Bett zu kriechen. Wenn es gut läuft, 7.10 Uhr. Früher bewegt sie nicht einmal den kleinen Zeh. Da kann ich noch so oft durchs Haus brüllen und sie auffordern, ihren Handywecker endlich auszustellen, der jeden Morgen erfolglos ab 6.45 Uhr in Dauerschleife jault und jeden nervt – außer sie selbst, denn sie wird davon als Einzige nicht wach. Sie nimmt sich jeden Tag aufs Neue vor, zeitiger aufzustehen (weil sie sich z.B. ein besonderes, zeitaufwendiges Styling vorgenommen hat). Es bleibt gewöhnlich bei dem guten Vorsatz. Schon als Baby hatte meine Große einen äußerst komatösen und ausdauernden Schlaf. Einmal eingeschlafen, konnte man sie schlafend aus dem Auto tragen und problemlos in ihr Bettchen oder in den Kinderwagen umbetten. Sie schlief rasend schnell durch und wachte nicht einmal auf, wenn man direkt vor ihrem Zimmer staubsaugte oder die Musik aufdrehte. Selbst während Fahrradtouren nickte sie im Fahrradsitz ein, weil sie das urgemütlich fand. Jede Seite hat zwei Medaillen! Was früher angenehm war, raubt mir heute den letzten Nerv.

Die Schule startet pünktlich um 8 Uhr. Lara verlässt das Haus nie vor 7.50 Uhr, holt ihr Rad und strampelt zur Schule. 2,5 km, mehrere Ampeln inklusive. Ich benötige für die Strecke mindestens 10-12 Minuten, meine Tochter packt sie locker in 8. Zumindest hatte sie bisher noch keine einzige Verspätung auf ihrem Zeugnis. Es war mir immer wichtig, dass meine Töchter nicht mit leerem Magen das Haus verlassen. Ein Kakao oder ein Glas Saft und ein paar Bisse ins Brot, darauf habe ich von jeher bestanden. Aber irgendwann hat Lara einfach aufgehört morgens zu frühstücken: „Wann verstehst du das endlich! ICH-HABE-KEINEN-HUNGER!“ 30 Minuten reichen in der Regel morgens auch kaum aus, um ein einigermaßen passendes Outfit zusammenzustellen, an seiner Frisur zu verzweifeln, mit der kleinen Schwester im Badezimmer einen Revierstreit vom Zaun zu brechen, einen Wutanfall über einen neuen Pickel zu bekommen, Schuhe zu suchen und dann auch noch zu frühstücken. Unter der Woche herrscht bei uns morgens selten harmonische Stimmung.

Da schien Homeschooling, bei allem Drama, auf dem ersten Blick eine echte Chance zu bergen! Die Chance auf einen entspannteren Start in den Tag. Ich gebe zu, ich war von Anfang an skeptisch und stellte mir die fundamentale Frage: „Wie, in aller Welt, soll ich Lara aus dem Bett bekommen, wenn sie nicht unter Zeitdruck steht?“ Ich beschloss, unseren Tagesablauf ein bis zwei Stunden nach hinten zu verschieben. Lara Tagesablauf spielte sich jedoch entsetzlich schnell noch weiter nach hinten ein. Weit nach hinten! Da half es auch nichts, dass ich gegen 10 Uhr ihre Fenster aufriss und sie lautstark zum Aufstehen aufforderte. Ich handelte mir lediglich wutentbrannte Beschimpfungen ein: „Hast du eigentlich eine Ahnung, wie lange ich heute Nacht über meinem Spanischreferat gesessen habe?“

Wenigstens funktionierte Maya, meine Zwölfjährige, wie ein Schweizer Uhrwerk. Schon nach zwei Tagen bat sie, man solle sie morgens um sieben Uhr wecken. Sie wolle gemütlich frühstücken und pünktlich um acht Uhr ihre Aufgaben online abrufen. Meine Zwölfjährige organisierte sich selbst und zog ihr Programm durch: Aufstehen, Frühstücken, Waschen, Anziehen, ins System einloggen, Schulaufgaben, Mittagspause, Schulaufgaben, Sport treiben und vor dem Schlafengehen noch schnell das Zimmer aufräumen, weil sie bei Unordnung nicht am Schreibtisch sitzen kann. Maya muss morgens nur einmal kurz angestupst werden, dann ist sie hellwach. Wenn sie als Baby im Auto einmal eingeschlafen war, schlug sie die Augen sofort auf, sobald man den Motor abwürgte. Staub saugte man vor ihrer Zimmertür lieber nicht, wenn sie schlief, und sie hasste nichts mehr, als im Kindersitz mit mir Rad zu fahren. Die Sache mit den Medaillen!

Mit Beginn der offiziellen Schulferien gab ich meine Bemühungen, Lara zu einem vernünftigen Tagesablauf zu bewegen, auf. Ferien sind Ferien. Seitdem bekommen wir Lara, obwohl sie offiziell diesem Haushalt angehört, nur noch selten zu Gesicht. Die ersten gesprochenen Worte des Tages schenkt sie in der Regel mir: „Was gibt es zum Mittagessen?“ Frühstück fällt für Lara auch in den Ferien aus. Niemand verspürt morgens Hunger, wenn er die halbe Nacht gegessen hat und erst mittags aufsteht. Abends, wenn mein Mann und ich vorm Fernseher schon leicht einnicken, schleicht sie gewöhnlich die Treppe zur Küche hinunter. Spricht man sie an, erntet man genervt: „Was? Darf man sich in diesem Haus jetzt nicht einmal mehr etwas zu essen machen?“ Sie schließt die Küchentür und überbackt Toast mit Käse oder verfeinert Reste des Mittagessens mit blutrotem Ketchup. Käse und Ketchup sind Grundnahrungsmittel, die Eltern von Vampir-Teenagern unbedingt im Haus haben sollten. Alternativ munden ihnen chinesische Instant-Nudelsuppen mit ganz viel Glutamat oder Joghurts. Während Lara in der Küche hantiert und isst, feiert sie nebenbei mit ihren Freunden virtuelle Housepartys. Das hört sich durch die geschlossene Tür dann an, als würden etliche junge Leute in unserer Küche mit einem Bier in der Hand beieinanderstehen und plauschen. Ich war erst irritiert, warum ich ständig das Gefühl hatte, gleich mehrere unbekannte Stimmen durch die geschlossene Tür zu vernehmen. Dann sah ich irgendwann auf Laras Handydisplay eine Push-Nachricht aufpoppen: Fred is in the house. Mit der App „Houseparty“ versuchen die Jugendlichen ihre sozialen Beziehungen nicht einschlafen zu lassen. Bis zu acht Personen können gleichzeitig miteinander chatten und die Räume wechseln, so hat Lara es mir erklärt. Man lernt Freunde der Freunde kennen, wie auf einer echten Party. Und da echte Partys in der Regel erst abends lustig werden, sind Fred, Mike, Julia und wie sie alle heißen eben auch erst abends in the house.   

Nun verbringt Lara diese für uns alle merkwürdigen Ferien auf diese Art. Sie steht mittags auf, blockiert dann stundenlang das Bad, macht Gesichtspeelings und Haarkuren, um dann anschließend frisch und gestylt ein bisschen mit dem Rad durch die Gegend fahren oder mit einer Freundin spazieren zu gehen, bevor sie zu Hause wieder ins Nightlife eintaucht. Ich lasse sie. Denn wenn man doch einmal darauf besteht, dass ein nachtaktiver Teenager aufsteht (so wie ich am Ostersonntag, weil ich auf ein gemeinsames Familienfrühstück bestanden habe), wünscht man sich schnell, man hätte es nicht getan. Heranwachsende Vampire können unausstehlich werden, wenn man ihren Sargdeckel zur Seite schiebt und ihnen das grelle Morgenlicht ins fahle Gesicht scheint.