Früher war ich ihre Nummer eins: Die sechzehnjährige Lara erzählt, wie es sich anfühlt, wenn die beste Freundin nur noch Augen für ihren neuen Freund hat.
Ich habe keinen Freund. Keinen Freund zu haben hat sehr viele Vorteile. Zum Beispiel wirst du dann nicht mitten im Mathe-Unterricht angerufen. Wie meine beste Freundin Franzi neulich, als sie vergessen hatte, ihr Handy lautlos zu stellen und Siri lauthals den Anrufer verkündete: „A Mein Herz ruft an“. Franzi wurde knallrot. Für alle, die das „A“ vor dem „mein Herz“ nicht verstehen: Das ist natürlich dafür da, dass in der Kontaktliste der Name ganz oben bei A erscheint, weil Franzis Freund nämlich leider nicht mit A anfängt, sondern mit B! (Warum war vor meinem Namen, als ihrer besten Freundin, eigentlich kein A?). Nennen wir ihn „Bruno“.
Ich weiß jetzt sehr viel über Bruno, schließlich redet Franzi von fast nichts anderem mehr. Auch auf Insta und Snapchat sehe ich nur noch den Namen Bruno, denn sie markiert ihn überall. Wöchentlich werden ihre Couple-Bilder in die Story gepackt. Bruno besitzt natürlich auch ein eigenes Story-Highlight auf ihrem Account: Bilder nur mit ihm. Wieso habe ich eigentlich kein eigenes Story-Highlight, obwohl es doch so viele gemeinsame Bilder von Franzi und mir gibt?
Bruno ist ein großer, schlaksiger blonder Junge, der ausschließlich weiße Hemden oder Poloshirts trägt und sich die Haare nach hinten gelt. Und er guckt wie ein Hund. Brunos Lieblingsgetränk ist Jägermeister. Bruno ist sowieso ganz, ganz toll, findet Franzi. Und Bruno jagt! Aber das Schlimme ist nicht sein Hobby, sondern dass meine Freundin so wild entschlossen ist, es super zu finden. Manchmal schickt Bruno Franzi ganz stolz Fotos von seiner erlegten Beute. „Er hat letzte Woche seinen Jagdschein gemacht“, verkündete Franzi letztens in der Schule. Und dann blinkte in der zweiten Pause eine Nachricht von „A Mein Herz“ auf. Ich schaute neugierig über ihre Schulter auf ihr Display und runzelte beim Anblick des Fotos die Stirn: Auf dem Boden lag ein blutender Hirsch, seine Augen schauten leblos ins Leere. „Was ist das denn?“ Ich war schockiert. „Das ist ein Hirsch, den Bruno mit seinem Vater erlegt hat“, sagte Franzi tapfer, aber Begeisterung sieht anders aus.
Es wurde noch schlimmer, als ich abends durch Instagram scrollte und mir Franzis Story anschaute: Candlelight-Dinner mit Bruno. Kunstvoll hatte sie die Insta-Story mit dem kitschigsten Lied, das sie finden konnte, unterlegt und ihren Liebsten selbstverständlich markiert. Was mich stutzig machte, war das Fleisch auf dem Teller. Da Franzi mir erzählt hatte, dass Bruno seine erlegten Tiere natürlich auch isst, wurde mir bewusst, dass es sich bei dem Fleisch auf dem Teller also um den armen Hirsch handelte, den ich heute Morgen noch auf Franzis Handy gesehen hatte. Jetzt unterstützt sie auch noch das Jagen und Töten von unschuldigen Tieren!, dachte ich.
Generell habe ich das Gefühl, Franzi zieht Bruno mir vor. Egal, ob es um Treffen oder Telefonate geht. Immer ziehe ich den Kürzeren. Franzi hat zum Beispiel Angst vor Horrorfilmen. Mit mir wollte sie bisher nicht mal „Coraline“ gucken. Das ist ein Kindergruselfilm ab sechs Jahren! Und dann erzählte sie mir, dass sie sich mit Bruno den Horrofilm „Die Frau in Schwarz“ angeguckt hätte. Dabei könnte ich sie mindestens genauso gut wie Bruno beschützen, auch wenn ich keine Jagdwaffe besitze. Ich würde schon eine Möglichkeit finden.
Was Franzis und meinen letzten, gemeinsamen Filmabend angeht: Als wir gemütlich mit unseren Pizzen vorm Laptop-Bildschirm saßen, um in den Abend mit Julia Roberts zu starten, waren wir nicht mal zu zweit. Wir waren zu dritt! Bruno saß zwar nicht neben uns, aber irgendwie hatte ich dann doch den Eindruck, dass er dabei war, denn er quatschte dauernd dazwischen. Ständig schickte er Franzi Sprachnachrichten und erzählte minutenlang vom Abendessen mit seiner Familie und was sie jetzt noch machen würden. Wer wollte das wissen? Ich jedenfalls nicht! Das Einzige, was ich wollte, war ein Bruno-freier Abend mit Franzi und Julia Roberts. Aber das funktionierte nicht, weil ständig Franzis Displays aufleuchtete und dort stand: „5 ungelesene Nachrichten von A Mein Herz.“
Ich frage mich langsam, was Bruno eigentlich früher gemacht hat, als er noch nicht mit Franzi zusammen war. Denn er schreibt Franzi gefühlt in jeder freien Minute oder ruft sie an. Vor ein paar Wochen stand meine Mathearbeit an. Ich sprach mit Franzi über Zoom und versuchte verzweifelt ihrer Erklärung zu folgen, wie man denn nun eine Potenzfunktion ausrechnet, als ich bemerkte, wie Franzi immer wieder nach unten schielte und sichtlich nervös wurde. „Äh du, ist es okay für dich, wenn ich jetzt auflege, Bruno ruft mich gerade die ganze Zeit an“, sagte sie zerknirscht. „Was? Habt ich nicht eben schon telefoniert?“, fragte ich perplex, aber Franzi ließ mich nicht weiterreden, sondern legte auf. Mit offenem Mund starrte ich auf das Handydisplay.
Dann schleppte Franzi Bruno zum ersten Mal zu einer Stufen-Party mit. Die anderen aus unserer Clique waren natürlich total neugierig auf ihn, denn Franzi ist kaum noch mit uns unterwegs. Alle fragten mich ständig, wo Franzi denn wäre und ich erklärte dann, dass sie entweder bei Bruno wäre oder mit ihm bei seinen Leuten. Im Grunde ist Bruno ein freundlicher, netter Typ, aber er trottete Franzi natürlich den ganzen Abend in seinem weißen Hemd hinterher. Irgendwann spielte jemand „Atemlos durch die Nacht“. Dieses Lied hat, meiner Meinung nach, nur etwas auf Grillfesten von spießigen Eltern etwas zu suchen. Doch zu meiner Überraschung schrie Franzi entzückt auf und Bruno erklärte: „Als dieses Lied auf der Party meines Freundes lief, haben wir uns zum ersten Mal geküsst.“
Vielleicht hatte ich an diesem Abend zu viel getrunken. Denn am Montagmorgen erzählte mir Franzi in der Schule Unglaubliches: „Kannst du dich eigentlich noch daran erinnern, dass du mit Bruno einen Jägermeistershot getrunken hast, um zu feiern, dass du ihm deinen Segen für uns gegeben hast?“ Ich starrte sie an. „Habe ich das?“ Sie nickte. ,,Du hast mit deinen Armen so ein Kreuz gemacht, wie es sonst Könige machen, wenn sie jemanden zum Ritter schlagen.“ Ich stöhnte, weil ich mich daran absolut nicht mehr erinnern konnte. Jetzt hatte ich ihr auch noch meinen Segen für „A Mein Herz“ gegeben!
Natürlich bin ich froh, dass Franzi so einen tollen Freund gefunden hat. Ich glaube, Bruno wird Franzi nicht das Herz brechen und verdient es, von ihr geliebt zu werden. Er schreibt ihr regelmäßig, behandelt sie gut und führt sie zu süßen Dates aus. Trotzdem könnte Bruno seine Herzchen, die er ununterbrochen an sie schickt, ein bisschen einschränken und mir auch noch ein bisschen Platz in Franzis Leben lassen. Mich macht es schon traurig, dass mal eben so ein Typ ankommen und mich verdrängen konnte. Das fühlt sich an, als wäre man in eine Schublade gesteckt worden. Aber das kann ich Franzi nicht sagen, weil es ihr sicher ein schlechtes Gefühl geben würde und das will ich nicht. Ich hoffe immer, dass sie es vielleicht irgendwann selbst merkt.
Während Franzi nun viel Zeit mit Bruno verbringt, genießen meine Freundin Gina und ich unser Singleleben. Wir sind uns einig, dass wir schon gerne einen Freund haben würden, aber keine Beziehung. Versteht man nicht? Das Wort „Beziehung“ bedeutet für uns die Verpflichtung, sich auf eine einzige Person zu konzentrieren. „Einen Freund haben“ bedeutet dagegen, sich zu zweit in einer Decke eingekuschelt schnulzige Liebesfilme anzuschauen, Hand in Hand durch den Wald zu spazieren und sich Herzchen-Emojis hin- und herzuschicken. Das wäre schon okay. Wenn es nicht zu viele werden.