Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Ein letztes Mal mit Christkind

O Tannenbaum, wer hat die Geschenke hier abgelegt?

Verplappert hatte ich mich, aber volles Programm. Mein Sohn und ich waren unterwegs in der Fränkischen Schweiz. Wandern, picknicken und reden. Über Fußball, Schule und über meine Kindheit. Ich erzählte Theo zum x-ten Mal, dass mein Vater früher einen Handwerksbetrieb hatte.

„Haben viele Leute für Opa gearbeitet?“ fragte er.

„Na ja, so gut zwanzig waren es schon“, antwortete ich.

„So viele? Hat Opa ganz viel Geld verdient?“

„Es ging uns ganz gut. Aber denk dran, er musste auch seine Leute bezahlen. Denn auch die brauchten Geld, um ihre Wohnungen zu bezahlen, um etwas zu essen zu kaufen oder auch Weihnachtsgeschenke…“

So ein Mist.

Theo runzelte die Stirn und sah mich an. Ich wollte möglichst unaufgeregt das Thema wechseln, aber er war schneller.

„Alles klar, Papa, Weihnachtsgeschenke kaufen. Ihr besorgt uns die Geschenke und nicht das Christkind.“

Ich saß in der Klemme, blieb aber für meine Verhältnisse ruhig: „Ja? Habe ich Weihnachtsgeschenke gesagt? Ich meinte Geburtstagsgeschenke. Das tut mir leid. Ich habe gerade vorher an Weihnachten gedacht.“

Kurzes Nachdenken: „Nee, Papa, ihr macht das alles und nicht das Christkind. Wenn wir in die Kirche gehen und dann wieder nach Hause, läuft immer einer von euch vor.“

„Na, einer muss ja die Kerzen anzünden.“

Dann kam die alles entscheidende Frage: „Papa, hast du das Christkind, als du ein Kind warst, wirklich gesehen?“

„Ja, das habe ich.“

Wir sahen uns in die Augen.

Nach dieser Wanderung kam ich ins Grübeln. Wäre es nicht bequemer, dem Jungen, der vor ein paar Tagen acht Jahre alt geworden ist, einfach die Wahrheit zu sagen, als ihm etwas vorzuflunkern?

Diese Frage hat sich vor knapp zwei Jahren ein Kollege in diesem Blog schon einmal gestellt. Seine Töchter hatten sehr unterschiedlich auf die prosaische Wahrheit reagiert. Die Ältere hatte damit keine Probleme, die Jüngere dagegen war tief enttäuscht. Für mich ist die Sache klar: Mein Junge bekommt in diesem Jahr noch einmal das volle Weihnachtsprogramm, samt Nikolaus und Christkind.

Ich habe keine Erinnerung an den Moment, in dem ich erfuhr, dass nicht das Christkind, sondern meine Eltern die Geschenke besorgen. Allerdings weiß ich genau, dass ich nicht enttäuscht war. Im Gegenteil: Auf einmal gehörte ich zu den Eingeweihten, wie bei einem Zaubertrick. Ich wusste mehr als andere Kinder. Das war toll. Für meine drei Jahre jüngere Schwester machte ich den Zauber mit und hielt dicht.

Es war ein großer Moment für mich, zum ersten Mal selbst Geschenke zu besorgen. Mit 20 Mark zog ich los. An einem Nachmittag ergatterte ich in den vier Geschäften in unserem Ort stolze sieben Geschenke. Es lag dann sehr viel Seife unter dem Weihnachtsbaum.

Zurück zu meinem Sohn, dem Zweifler: Wenn ich sehe, wie er es genießt, wenn wir ihm und seiner Schwester Bücher wie „Weihnachten bei den Zwergen“, „Tomte Tummetott“ oder „Knecht Ruprecht“ (immer die Originalversion mit Rute) vorlesen, dann soll er das jetzt bitte noch einmal genießen. Ich habe irgendwo gelesen, dass es für kleine Jungen – und zu denen zähle ich Theo noch – nur eine kurze Phase gibt, in der sie traurig und weich sein dürfen. Ab der weiterführenden Schule soll der Wind demnach wieder rauer blasen und Jungen werden auf Härte getrimmt. Das wäre für Theo in anderthalb Jahren.

Wir sind mitten in der Corona-Zeit. Hier in Bayern gilt in einigen Städten wieder Ausgangssperre. Der Junge hat in diesem Jahr drei Monate Lockdown und unzählige Stunden Homeschooling hinter sich. Von März bis September hat er die Hälfte seiner Klasse nicht gesehen. Den Teufel werde ich tun und Theo die Vorstellung vom Christkind nehmen. Nicht in diesem Jahr, das hat Zeit bis Ende 2021. Und bis dahin habe wahrscheinlich nicht ich das Geheimnis gelüftet, sondern irgendein Freund in der Schule oder beim Fußball. Am Heiligen Abend wird es keine Kirche geben. Wir werden einen Spaziergang machen und in dieser Zeit wird ein Nachbar die Kerzen anzünden und die Geschenke unter den Baum legen. Das ist nur eine Frage der Planung.

Meine erste Weihnachtserinnerung ist eine Wanderung. An Heiligabend stapfe ich als Fünfjähriger mit meinen Großeltern durch den verschneiten Teutoburger Wald. In der Dämmerung kommen wir durchgefroren zu Hause an. In der Küche gibt es Tee und Plätzchen. Dann steht meine Mutter auf, zeigt Richtung Wohnzimmer und flüstert mir zu: „Ich glaube, das Christkind kommt.“ Sie steht auf und macht sich auf leisen Sohlen auf den Weg. Als sie die Tür schließen möchte, dreht sie sich noch einmal zu mir um: „Du darfst nicht hineinkommen, sonst verschwindet es sofort. Das Christkind ist sehr scheu.“ Ich nicke stumm. Sie verschwindet. Ich bleibe vor der Tür stehen. Sie ist aus geschliffenem Glas, man kann nicht richtig hindurchschauen. Das Einzige, was ich sehe und mir stockt der Atem, ist ein goldenes, warmes Licht, was sich langsam bewegt. Was soll das anderes gewesen sein als das Christkind?