Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Auch ich habe Bedürfnisse

Wenn das Kind seinen Willen nicht bekommt, muss es mit seinen Gefühlen trotzdem nicht alleingelassen werden.
Wenn das Kind seinen Willen nicht bekommt, muss es mit seinen Gefühlen trotzdem nicht alleingelassen werden.

„Vielleicht braucht Max einfach mehr Mama“, sagt meine Freundin mitleidig, nachdem ich ihr erzählt habe, dass unser Zweijähriger seit Monaten schlimme Einschlafprobleme hat. Ich spüre, wie Tränen bei mir aufsteigen. Bin ich also an den Problemen schuld, weil wir Max an fünf Tagen in der Woche in die Kita bringen, seit er ein Jahr alt ist? Weil ich arbeite und wir erst ab nachmittags zusammen unsere Zeit verbringen? Weil er zwar von mir in den Schlaf begleitet wird, danach aber in seinem eigenen Bett weiterschlafen soll?

„Nein“, sage ich, vielleicht etwas heftiger als beabsichtigt und wische die Tränen zornig weg. „Diesen Schuh ziehe ich mir nicht an.“ Max war ein absolutes Wunschkind. Ich habe gerne und sehr intensiv über ein Jahr lang gestillt, noch länger getragen, stundenlang abends mit ihm einen Weg gesucht, wie er friedlich einschlafen kann. Ich habe von Anfang an sehr aufmerksam auf Max’ Bedürfnisse geachtet, ihn nicht absichtlich weinen lassen und ich würde ihn auch nicht abends allein in seinem Bett schreien lassen, damit er das Einschlafen vielleicht doch noch lernt. Eine gute Bindung und Beziehung zu meinem Kind steht für mich an oberster Stelle. Und doch möchte ich auch weiterhin meinem Job nachgehen und meine Nächte ohne Kinderfüße im Gesicht verbringen.

Und ich möchte meine Tage ohne schlechtes Gewissen verbringen, meinem Kind nicht genug Mama zu sein. Und dazu gehört auch, mich nicht weiter vom vor allem in sozialen Medien propagierten Schlagwort der bindungs- oder bedürfnisorientierten Erziehung (Attachement Parenting) unter Druck setzen zu lassen. Dieser Erziehungsstil, der in sieben Kategorien sehr genaue und vor allem sehr enge Empfehlungen in Bezug auf Stillen, Schlafen oder Tragen gibt, die Frauen mitunter bis zur Selbstaufgabe Verschiedenes abverlangen, geht ursprünglich auf einen evangelikalen Kinderarzt aus den USA zurück.

Anhänger der Ideologie lassen die Kinder entscheiden, wann sie sich selbst abstillen, den Weg aus dem Elternbett oder dem Tragetuch suchen. Daran ist nichts auszusetzen, solange das für beide Seiten in Ordnung ist. Doch häufig ist es das eben nicht (mehr), und ich lese täglich auf Instagram, wie sich Mütter allein für ihre Wünsche geißeln, irgendwann einmal wieder eine Nacht durchschlafen oder die Dreijährige langsam abstillen zu wollen.

Es überrascht nicht, dass einige der Anhänger der Ideologie eine bedenkliche Nähe zu Impfskeptikern, Schulpflichtkritikern und rechten Kreisen aufweisen, wie im vergangenen Jahr bekannt wurde. Auch ich habe das in den Debatten bemerkt. Genauso wie mir inzwischen auffällt, dass die Aufforderungen „Lasst die Leute reden, die euch sagen, euer Kind sei zu groß für die Brust oder muss alleine schlafen lernen“ auch gleichzeitig enormen Druck für die Frauen aufbaut, die– aus welchen Gründen auch immer – nicht oder nur kurz stillen wollen oder der nächtlichen Ruhe wegen die Kinder ungern dauerhaft im eigenen Bett schlafen lassen möchten.

Ich brauchte den Rat einer befreundeten Psychologin, der mir die Augen öffnete. „Auch die Mutter hat Bedürfnisse“, sagte sie. Und: „Allen Konflikten mit dem Kind immer nur aus dem Weg zu gehen und immer nachzugeben, führt dazu, dass das Kind sich bald gar nicht mehr orientieren kann.“ Sie nannte Beispiele von Familien, die nur noch am Boden essen, weil die Mutter es nicht über sich brachte, Nein zu sagen. Von Müttern, die es über Monate nicht schafften abzustillen, weil sie Angst hatten, die Mutter-Kind-Beziehung zu beschädigen.  

Seit sie bei uns war, gibt es bei uns häufiger mal einen (auch lauten) Konflikt mit unserem Zweijährigen. Wenn wir nicht wollen, dass er die Spielzeugkiste umkippt, halten wir sie fest – und ertragen mit ihm zusammen einen Zornausbruch de luxe. Doch das wirkt (zumindest bei uns) oft wirklich wie ein reinigendes Gewitter. Danach kann sich Max häufig plötzlich wieder auf das konzentrieren, was eigentlich wirklich sein Bedürfnis ist (mit Mama spielen, essen, schlafen oder ein Buch ansehen). Ich bin von der passiven in die aktive Rolle gerutscht und habe mein Kind durch diese Situation begleitet – und dennoch mein Bedürfnis befriedigt, die Kiste später nicht noch ein weiteres Mal aufräumen zu müssen.

Eine Leserin hat mir vor einiger Zeit auf einen meiner Texte hier geschrieben: „Jedes Kind hat das recht auf eine ausgeschlafene Mutter“. Dieser Satz hat mich lange beschäftigt, denn ich fand, sie hat recht, wusste aber nicht, wie ich dort hinkommen sollte. Mit den Konflikten, die wir inzwischen anders angehen, hat sich auch das Einschlafthema schlagartig verändert. Wir begleiten Max auch weiterhin, haben aber einige Regeln aufgestellt, die wir strikt befolgen: Kein Herumrennen, kein Bettenwechsel, kein Spielzeug im Bett. Die Ausbrüche waren laut und emotional, doch inzwischen geben die Regeln uns allen dreien Struktur. Und unsere Beziehung ist dadurch nicht nur intensiver geworden, sondern hat auch eine Leichtigkeit (zurück)gewonnen, die ich bei all der Bedürfnisorientierung vermisst habe.