Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Macht uns der Lockdown zu empathielosen Egoisten?

30.01.2021, Mecklenburg-Vorpommern, Pokrent: Spaziergänger sind in einer verschneiten Allee unterwegs. Mit zum Teil kräftigem Schneefall und Sonnenschein zeigt sich der Winter in Norddeutschland von seiner schönen Seite. Foto: Jens Büttner/dpa-Zentralbild/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

In der Krise zeigt sich der Charakter. Der Satz stammt angeblich von Helmut Schmidt. Ich erinnere mich an einen Herbststurm vor ein paar Jahren in Berlin. Mitten im Feierabendverkehr kam das Leben von jetzt auf gleich zum Erliegen. Die S-Bahn fuhr nicht. Darum quetschten sich die Leute in die U-Bahnen, die deshalb nur im Schneckentempo fahren konnten. Busse hielten auf freier Strecke an, und es kam die Durchsage: „Endstation, alle raus!“ und die Passagiere wurden wie Ballast abgeworfen. Jeder versuchte, irgendwie nach Hause zu kommen. Die Leute zankten sich um Taxis. Mütter mit Kinderwagen wurden angerempelt und angeraunzt, gefälligst aus dem Weg zu gehen. Sie blickten sich hilfesuchend um, doch niemand kam. Schutzlose Wesen im Chaos. Ich war mittendrin und auch bemüht, irgendwie von Mitte nach Treptow zu kommen, um meine Kinder aus der Kita abzuholen. Darwin, das Gesetz des Stärkeren, dachte ich. In der Not wird der Mensch zum Einzelkämpfer. Jeder denkt nur noch an sich. Ein Herbststurm reicht aus und wir verlieren jedes Mitgefühl, jede Empathie.

Nun ist der Lockdown kein Herbststurm und das Homeschooling kein Bus, aus dem plötzlich alle aussteigen müssen. Der Effekt ist aber ähnlich, allerdings kommt er nicht wie eine Lawine angerollt, sondern eher schleichend. Wie langsam fallender Schnee, der nach und nach alles bedeckt. Wir sind inzwischen in der fünften Homeschooling-Woche. Der Tag hat immer noch 24 Stunden, aber die Dinge, mit denen wir uns beschäftigen, sind wenige: Es passiert einfach nichts.

In Gesprächen mit Familie und Freunden wird immer wieder deutlich, dass jeder vor allem mit sich selbst beschäftigt ist. Das ist an sich auch keine schlechte Sache. Aber es führt zu Isolation, zum Verpuppen. Wir kapseln uns von anderen ab, übersehen Dinge, die vor uns liegen. Und andere sehen zu, wie sie sich selbst diese Zeit möglichst angenehm gestalten und nehmen dabei wenig Rücksicht auf andere.   

Ein Beispiel dafür ist die Notbetreuung in Kitas. Deren Idee ist ja, Eltern in systemrelevanten Berufen zu entlasten. Aber das Angebot nehmen nicht nur Krankenschwestern, Altenpfleger und Supermarktkassiererinnen wahr. Ende Januar wurden hierzulande mehr als ein Drittel der Kinder zwischen null und sechs Jahren in Kitas betreut – trotz Corona und aller Appelle der Politik. Ganz vorne war das Bundesland Hamburg: Dort brachte jeder zweite sein Kind in die Kita, in Bayern war es jeder fünfte.  

Wobei Bayern auch nicht Bayern ist: Eine Freundin erzählte uns von einer Betriebskita im Freistaat. Deren Leitung habe kürzlich einen Hilferuf an die Eltern verschickt, weil sechzig Prozent von ihnen ihre Kinder in die Notbetreuung schicken. Bei dieser Menge sei der Sinn des Lockdowns ausgehebelt, hieß es. Die Leiterin appellierte eindringlich an die Solidarität der Eltern. Denn fast alle kehrten, nachdem sie ihren Nachwuchs abgeliefert hatten, zurück nach Hause ins Homeoffice. Auch wenn dieses Verhalten natürlich nicht illegal ist und in manchen Fällen nachvollziehbare Gründe gibt, steckt dahinter ein gehöriges Maß an Bequemlichkeit und Egoismus. Als wolle man den Erziehern sagen: „Kümmere dich gefälligst um mein Kind. Das ist dein Job, ich mache meinen.“

Es gibt weitere Beispiele für Egoismus und Empathieverlust: Eine Jugendpflegerin in einer norddeutschen Kleinstadt erzählte meiner Schwester, von einer Flüchtlingsfamilie aus Nigeria. Der fünfjährige Sohn nimmt die Notbetreuung in der Kita in Anspruch, denn genau für solche Fälle ist sie da. Seine alleinerziehende Mutter ist Analphabetin, spricht kein Wort Deutsch und hat keinen Job. Ihr großer Sohn hat weniger Glück als sein Bruder. Die Leiterin der Grundschule weigert sich, den Jungen in die Notbetreuung aufzunehmen. Begründung: Die Mutter sei ja zu Hause. Ich frage mich, wie dieses Kind unter diesen Voraussetzungen jemals den Anschluss schaffen soll? Allein zu Hause mit Büchern in einer fremden Sprache und einer Mutter, die nicht lesen kann. Die Schulleiterin hat sich diese Frage nicht gestellt.

Genauso wenig wie die Frage, ob es in Ordnung ist, an einem Montagvormittag einen Spaziergang durch den Heimatort zu machen, während ihre Schüler allein oder mit gestressten Eltern im Homeschooling sitzen. Denn genau das hat sie getan. Von einer erstaunten Mutter darauf angesprochen, antwortete sie: „Man muss ja auch mal raus.“ Auch wenn die Leiterin natürlich jedes Recht der Welt hat, spazieren zu gehen, wo sie will, fällt es mir persönlich schwer, mich nicht über dieses Verhalten zu ärgern.  

Auch in meinem unmittelbaren Umfeld gibt es reichlich Konfliktstoff. Im Gespräch mit unserer Klassenlehrerin habe ich erfahren, wie die Schule die Rückkehr der Kinder plant. Es soll Wechselunterricht geben, allerdings anders als im ersten Lockdown. Statt wie bisher im wöchentlichen sollen die Kinder nun im täglichen Wechsel unterrichtet werden. Der Elternbeirat habe dem im Gespräch mit der Schulleitung zugestimmt, sagte mir die Lehrerin.

Unser Elternbeirat besteht aus elf Mitgliedern. Das Gremium ist normalerweise äußerst kommunikativ. Ob ein Flohmarkt ansteht, Bücher getauscht werden oder eine Lehrkraft verabschiedet wird – in der Chat-Gruppe werden alle möglichen Dinge fleißig geteilt und besprochen. Nur die Sache mit dem Wechselunterricht wurde irgendwie vergessen. Als die Eltern unserer Klasse von diesen Plänen erfuhren, war das Geschrei groß. „Wenn wir täglich wechseln, lass ich mein Kind nicht in die Schule“, ärgerte sich eine Mutter. „Ich arbeite im Schichtbetrieb, mein Kind muss dann allein zurechtkommen. Wie soll das klappen?“ empörte sich ein Vater. Um die Gemüter zu beruhigen, ließ ich als Elternsprecher darüber abstimmen, welche Form des Wechselunterrichts unsere Klasse bevorzugt. Das Ergebnis war ausgeglichen. Das teilte ich der Schulleitung und dem Elternbeirat mit. Ob das jetzt noch irgendeinen Einfluss auf die finale Entscheidung hat, ist offen.

Dann geschah etwas Unerwartetes: Eine Mutter, die immer hilfsbereit, aber auch sehr still ist, ergriff das Wort: „Ich fände es schön, wenn wir uns statt zu schimpfen, gegenseitig beim Homeschooling unterstützen würden. Ein Kind pro anderer Haushalt ginge ja.“ Schnell gab es Zustimmung und der Vorschlag wurde umgesetzt. Die Eltern solidarisierten sich. Plötzlich war die Möglichkeit des täglichen Wechselunterrichts kein Tabu mehr. „Dann sehen sich die Kinder ja viel öfter. Das ist doch toll“, schrieb der Schichtarbeiter. Inzwischen haben sich kleine Lern-Duos gebildet. Unser Sohn ist heute bei einer Schulfreundin, vergangene Woche war sie bei uns. Ein anderer Junge kommt jetzt immer donnerstags zu uns, um seine alleinerziehende Mutter ein wenig zu entlasten. Es geht also.

Ob sich die Situation in der bayerischen Betriebskita entspannt hat, kann ich nicht sagen. Aber wie ich erfahren habe, ist der nigerianische Junge inzwischen in der Notbetreuung seiner Schule untergebracht. Er sitzt jeden Tag mit anderen Kindern zusammen, lernt und spricht Deutsch. Außerdem besucht die Mutter auf Initiative der Schulleiterin einen Sprachkurs.

Es ist total banal und vielleicht naiv: Aber ob im Herbststurm oder während eines Corona-Lockdowns – ich glaube, Darwin liegt falsch. Denn wir können selbst entscheiden, wie wir mit einer Krise umgehen. Ob wir die Menschen um uns herum ausblenden oder ob wir schauen, wo wir uns möglicherweise gegenseitig unterstützen können. Das ist letztlich auch eine Charakterfrage.