Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Zusammen ist man weniger allein

Für ein paar Tage ein anderes familiäres Gleichgewicht: Ein Neffe zu Besuch kann allen guttun.
Für ein paar Tage ein anderes familiäres Gleichgewicht: Ein Neffe zu Besuch kann allen guttun.

Am Wochenende hatten wir einen Notfall in unserer Familie. Meine Schwiegermutter rief an. Mattis, mein Neffe, sei ständig niedergeschlagen, spreche kaum noch und schlafe jetzt immer wieder im Bett seiner Eltern. Er ist neun Jahre alt. Sie habe das Gefühl, er rutsche in eine Kinderdepression.

Niedergeschlagen saßen mein Mann und ich beim Abendessen. Auch wir hatten beim letzten Treffen das Gefühl, den sonst so lebensfrohen Jungen kaum wiederzuerkennen. Unser eigener Sohn Max veranstaltete derweil sein übliches Abendessenschaos, stand ständig auf, rannte hin und her und schmiss unsere Bücher im Wohnzimmer herum. Ich weiß nicht, wer von uns zuerst laut wurde. Der Stress und die Anspannung der Hochleistungsbetreuung der vergangenen Monate haben auch an uns ihre Spuren hinterlassen. Unser letzter Urlaub liegt fast ein Jahr zurück. Seit Herbst 2020 ist unser Haus zu unserem einzigen Lebensraum geworden – es ist Büro, Kantine, Fitnessstudio, Shoppingmall und Ort des Abendprogramms zugleich. Und wenn die Nerven blank liegen, nehmen uns die Wände die Luft zum Atmen.

Nach dem abrupt beendeten Abendessen griffen wir zum Telefon. Mattis könne doch das Wochenende mal wieder zu uns kommen und bei uns übernachten, schlugen wir der Schwester meines Mannes vor. Einfach mal wieder was anderes machen. Die war erst mal baff. „Übernachten gehört zur Zeit überhaupt nicht zum Repertoire“, sagte sie, als hätten wir ihr vorgeschlagen, Mattis mit zum Nordpol zu nehmen. Seit fast einem Jahr treffe er sich nur mit einem Freund, Sicherheit geht vor, gerade auch wegen der Großeltern. Auch uns haben sie in dieser Zeit nur zwei oder dreimal getroffen, jedes Mal draußen bei gutem Wetter, mit Abstand und ohne Anfassen. Aber sie würden es besprechen.

„Wir könnten uns doch alle testen lassen, auch Max, dann sind wir doch relativ sicher, oder?“, schrieb mein Mann danach per WhatsApp – und sowohl meine Schwägerin als auch mein Schwager schrieben liebevoll zurück, dass ein Treffen ja eigentlich eine super Idee sei und wir das schon irgendwie hinbekämen. Und so begannen in zwei Familien etliche Tests mit erfreulichen Ergebnissen – und am Samstagmorgen erreichte uns eine Sprachnachricht, dass sie im Anflug seien. Mattis wünsche sich vor allem, dass Mutter und Schwester schnellstmöglich wieder losführen nach dem Bringen, damit er möglichst viel Zeit mit uns verbringen könnte.

Er reiste mit seinem Bettzeug und drei Taschen voller Dingen an, die er uns zeigen wollte – und unser Sohn Max hörte nicht mehr auf zu lächeln. Beim Abendessen stand Max kein einziges Mal auf, sondern himmelte ohne Pause den großen Jungen am Tisch an, der mit strahlenden Augen von seinen Lieblingscharakteren bei Harry Potter berichtete. Keine Spur von Niedergeschlagenheit bei Mattis – er plauderte und erzählte, als wäre es sehr lange her, dass er jemandem mit seinen Geschichten etwas Neues erzählen konnte. Danach wünschte er sich einen Film, und während ich unseren Sohn zu Bett brachte, machte er es sich mit meinem Mann auf dem Sofa bequem. Um halb zehn saßen mein Mann und ich ganz ohne Kinder auf dem Sofa (unser kleiner Gast war ohne ein Wort der Widerrede direkt nach Ende des Films in sein Gästebett abgezogen, Max war kurz zuvor völlig ermattet ebenfalls eingeschlafen) und wünschten uns, doch öfter die Kernfamilie etwas zu erweitern. „Ist alles gleich viel entspannter“, sagte mein Mann und holte sich ein Glas Rotwein.

Vor Corona waren wir sehr gesellig, hatten oft Übernachtungsgäste und waren beliebte Anlaufstelle für diverse Nichten und Neffen. Seit Corona ist echter Kontakt selten geworden. „Die Kinder haben sich entwöhnt“, sagt meine Schwester am Telefon. Ihre beiden Töchter hätten nach monatelangen Zwangspausen zu Hause keine Lust mehr, in Kindergarten und Grundschule zu gehen. Es sei ihnen zu laut, zu viele Kinder, morgens gibt es jetzt oft Tränen. Dabei sind beide gerne hingegangen, bis zum großen Lockdown im vergangenen Jahr.

Auch die Kinder meiner anderen Schwester wollen nicht mehr zur Schule. Der älteste findet es bequemer zu Hause, der zweite hat regelrecht Panik davor, einen ganzen Schultag wieder außer Haus ableisten zu müssen.

Kürzlich habe ich gelesen, dass die Schauspielerin Nora Tschirner pünktlich zum Lockdown vor einem Jahr mit ihrem Kind in eine Wohngemeinschaft gezogen ist und diese Lebensform gleich als Entlastung empfunden habe. Auch andere schreiben jetzt häufiger darüber, dass sie in Mehrgenerationenhäusern leben oder sich mit anderen Familien als (Unterstützungs-)Gemeinschaft zusammengetan hätten. Ich beneide sie. Uns fehlt – wie den allermeisten auch – diese selbstverständliche Unterstützung durch das alltägliche Zusammensein mit anderen. Irgendjemand habe immer Bock, was mit den Kindern zu spielen, beschreibt Nora Tschirner die Vorzüge der Wohngemeinschaft.

Genauso verlief auch unser Wochenende. Mein Mann startete mit seinem Neffen ein Tischtennismatch, das beide zum Schwitzen brachte, während Max und ich auf dem Spielplatz nebenan rutschten und Fangen spielten. Wir alle waren so viel entspannter, weil jeder ein bisschen mehr Freiraum bekam. Das erzwungene Zurückgeworfensein auf die Kernfamilie ist nicht nur schlecht für die Kinder, sondern auch für uns – und damit gleich doppelt schlecht für die Kinder.

„Es braucht ein Dorf, um ein Kind großzuziehen“, heißt ein afrikanisches Sprichwort. Doch auch das Kind braucht das Dorf, um gesund und glücklich aufwachsen zu können. Wir haben uns jetzt jedenfalls vorgenommen, meinen Neffen häufiger zu uns zu holen – und ihn auch ab und zu beim Homeschooling zu begleiten. Denn nicht nur er hat die gemeinsame Zeit genossen. Es tat uns allen einfach mal wieder so richtig gut.