Ich habe einen neuen Job. Es ist genau das, was ich immer schon machen wollte, sozusagen mein ganz persönlicher Traumjob. Eine Aufgabe, die mich erfüllt, fordert und glücklich macht. Die Sache klingt zu schön, um wahr zu sein und das ist sie auch, denn es gibt natürlich einen Haken: Ein Teil der Arbeit lässt sich zwar im Homeoffice erledigen, aber ich muss regelmäßig für ein paar Tage im Hauptquartier arbeiten. Das liegt hunderte Kilometer entfernt in einer anderen Stadt. Das heißt, ich muss pendeln und bin manchmal tagelang nicht zu Hause.
Als das Angebot kam, hat meine Frau sofort gesagt: „Du musst das machen“. Ich habe mich sehr über ihre klare, selbstverständliche Haltung gefreut. Lange Zeit hatte ich ihr den Rücken freigehalten, damit sie sich beruflich weiterentwickeln kann. Ich war bei den Kindern, habe meine Stunden reduziert und sie ist von Berlin nach Bayern gependelt. Neun endlose Monate waren das, manchmal frage ich mich, wie wir – ehrlich gesagt: vor allem ich – diese Zeit ohne familiäre Unterstützung durchgehalten haben. Ja, ich weiß, das ist vielleicht Klagen auf hohem Niveau, Alleinerziehende haben es noch schwerer. Trotzdem war es eine enorme Belastung für uns und unsere zwei Kinder.
„Irgendwie kriegen wir das hin“, hat meine Frau gesagt. Ja, ich erinnere mich. „Irgendwie kriegen wir das hin“, das habe ich auch immer gesagt. „Irgendwie“ stimmte das auch, aber wie genau das war, das weiß ich nicht mehr. Es war vor allem der Satz, der dem Pendelnden das Pendeln leichter machen sollte: „Fahr du mal, geht schon, muss ja.“ Aber wir haben es ja auch geschafft. Wir leben inzwischen seit zwei Jahren hier in Franken und sind wohlauf.
Nicht zuletzt diese Tatsache hat mir meine Zweifel genommen: Wenn wir das damals geschafft haben, schaffen wir es dieses Mal auch.
Und dann habe ich an mich gedacht und ganz ehrlich „Yippie“ gerufen und zwar nicht besonders leise. Die Aussicht, nach dieser Corona-Endlosschleife mal wieder Zeit zum Durchatmen zu haben, mich voll in die Arbeit stürzen zu können und regelmäßig für niemanden anders Verantwortung zu haben als für mich selbst, ehrlich, das klang verheißungsvoll. Keine Kinder, yeah! Ja, ist egoistisch, war mir aber Wurscht.
„Mach bloß viel Sport, geh ins Museum oder setze Dich einfach ins Kaffee und mach gar nichts“, hat mir meine Frau geraten. Sie meint das ehrlich. Sie weiß, wovon sie spricht. Sie ist, wie gesagt, selbst lange gependelt und hatte Zeit für sich. Im Rückblick hat sie diese Zeit zu wenig für sich selbst genutzt, meint sie. Gedanklich wäre sie viel bei uns gewesen und konnte deshalb nicht richtig abschalten. „Mach viel für Dich, genieße es“, hat sie mir beim ersten Abschied am Bahnhof ins Ohr geflüstert. Ich habe alle umarmt, gedrückt und bin trotz der traurigen Augen meiner Kinder entschlossen in den Zug gestiegen. „Genieße es“, das habe mir fest vorgenommen. Und mir eingebildet, das besser zu können als meine Frau.
Nach zwei kürzeren Einsätzen mit jeweils zwei Übernachtungen übers Wochenende war ich jetzt zum ersten Mal vier Werktage weg. Montagvormittag hin, Donnerstagvormittag zurück. Meine Frau hätte trotz aller wohlwollenden und bestärkenden Worte zuvor dieses Mal bevorzugt, dass ich dageblieben wäre. Sie arbeitet für ein großes Unternehmen, leitet seit Januar ein Team und ausgerechnet in meiner Abwesenheit war ihr Terminkalender noch voller als sonst.
Selbstverständlich ist dann genau das passiert, was nicht passieren soll, aber immer in solchen Konstellationen passiert. Ob es Murphy´s Law, Zufall, selbsterfüllende Prophezeiung oder einfach Pech ist, keine Ahnung. Jedenfalls hatte unser Sohn Theo am Montagabend plötzlich 40,2 Grad Fieber. Eine kurze WhatsApp und ein längeres Telefonat, bei dem meine Frau mir ihr Leid klagte.
Der Junge ist krank. Sie musste alle Termine umschmeißen, ihr akkurat durchgetakteter Wochenplan war dahin. Letztlich hat dann alles irgendwie trotzdem hingehauen, aber eben mit Stress, Belastung und Frust.
Meine Entspanntheit war dahin. Natürlich kann weder meine Frau noch ich etwas dafür, wenn unser Sohn plötzlich Fieber bekommt. Trotzdem fühlt man sich doch so, als ließe man den anderen allein. Es frühstückt sich im Hotel eben nicht so entspannt und es joggt sich auch nicht so locker, wenn man weiß, dass der Ehepartner Zuhause 300 Kilometer entfernt gerade in alle Richtungen rotiert, um irgendwie seinen Alltag zu wuppen.
Dazu kommen die Telefonate mit den Kindern. Von denen hört man kein: „Irgendwie kriegen wir das schon hin“, sondern eher: „Papa, ich vermisse dich, ich möchte, dass du mir Pippi Langstrumpf vorliest.“ „Ja, meine Kleine, das mache ich am Donnerstag, dann zwei Kapitel.“ „Papa, ich finde es so schade, dass ich nicht mit Dir Deutschland gegen Ungarn schauen kann.“ „Ja, ich würde das auch gerne mit dir gucken. Vielleicht kommt Deutschland ja weiter, dann schauen wir das Achtelfinale zusammen, versprochen!“
Dann die Dinge, die im Alltag passieren: Theo schreibt eine Matheprobe, unsere Tochter Frida ist bei einer Kitafreundin zum Geburtstag eingeladen. Normalerweise sind das meine Jobs, Mathe üben, mit Eltern der Freundin sprechen und ein Geschenk besorgen. Wenn man diese Dinge erfährt, während man auf der zu weichen Matratze eines Hotelzimmers liegt, in dem alle paar Minuten die Kühlung der Minibar anspringt und der Blick aus dem regennassen Fenster über den Parkplatz an der Ruine einer alten Gießerei endet, dann fühlt man sich ziemlich unbeteiligt. Irgendwie hat man sich das doch anders vorgestellt.
Aber: Wir machen das Beste daraus, so ist es ja immer. Seit meiner Rückkehr habe ich viel mit den Kindern unternommen. Außerdem hatten wir Besuch aus Berlin, dort sind ja schon Sommerferien. Am Sonntag hatte Theo ein Fußballspiel, danach waren wir im Freibad, damit meine Frau ein paar Stunden Ruhe hatte, das über die Woche verloren gegangene Arbeitspensum wieder aufzuholen.
Die Frage, ob der beste Job der Welt diese Pendelei rechtfertigt, dieses Getrenntsein wert ist, werden wir uns in ein paar Monaten stellen und beantworten.
Heute Abend werde ich meiner Tochter Pippi Langstrumpf vorlesen, zwei Kapitel. Das Versprechen, mit Theo das Achtelfinale der Deutschen zu schauen, kann ich nicht halten. Ich steige morgen wieder in den Zug und komme erst Donnerstag wieder.