Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

„Papa, wann bist du richtig glücklich?“

Ein Oktoberabend wie gemalt, mit klarer Luft und buntem Laub, das die untergehende Sonne allmählich wie eine dunkle Decke überstülpt. Ich öffne den Kofferraum, lege die Sporttasche hinein, schließe ihn und dreh mich noch einmal um, Richtung Sportplatz, der noch immer durch die vier kleinen Flutlichtmasten erleuchtet ist. Es ist frisch, aber nicht kalt und außerdem ganz still, zum ersten Mal an diesem Tag. Auf dem Rücksitz zieht Theo gemächlich seine Fußballschuhe aus. Auch er scheint in diesem Moment zum ersten Mal völlige Ruhe zu haben an diesem Tag. An seinen Stutzen klebt noch Gras. Das Fußballspiel ist seit knapp zehn Minuten vorbei. 1:7 ist es ausgegangen. Es ist die erste Saisonniederlage für Theos Mannschaft. Die Gegner hatten sich mit Spielern aus dem älteren Jahrgang verstärkt. Theos Mannschaft hatte keine Chance. Trotzdem haben sie in der zweiten Halbzeit ein tolles Spiel gemacht. Zweimal den Pfosten getroffen, und wenn der Torwart nicht so groß gewesen wäre …

Es ist egal. Theo hat seine Fußballschuhe ausgezogen. Er möchte barfuß bleiben, so ist es bequemer. Ich packe die muffigen Treter in den Kofferraum, verabschiede mich von einem anderen Fußball-Vater und steige ein. Eine gute halbe Stunde Fahrt liegt vor uns, von einem Kaff in das andere, dazwischen viel Gegend und andere Käffer. Wunderbar. Ich werfe den Motor an. Theo ist still. Wahrscheinlich denkt er über das Spiel nach. Wir rollen vom Parkplatz. „Hast du einen bestimmten Musikwunsch?“, frage ich. In diesem Moment rollen wir auf die Hauptstraße und haben freie Sicht. Vor uns Felder, ein dunkler Wald und darüber der tiefblaue Himmel. „Ja, ich möchte gerne `Lila Wolken` hören“, antwortet er ganz ruhig, „das passt gerade ganz gut.“ Ich mach das Lied an. Die einzige, große Wolke am dunklen Himmel ist wirklich lila. „Lila Wolken“ ist ein Song des Rappers Marteria, mit Miss Platnum und Yasha. Mit ihm verbinden meine Frau und ich die Jahre in Berlin, die Kinder lieben ihn einfach so.  

Mit und unter „Lila Wolken“ kurven wir durchs Frankenland. Durch den Wald, an Weiden und Weihern vorbei. Jeder für sich, Theo hinten, ich vorne. Der Junge summt leise mit. Die Dämmerung ist kurz, bald ist es dunkel. Wir fahren durch einen Ort. Ein Norma Supermarkt, Ernsting´s Family, ein Sportplatz und ein Wirtshaus, „Zum irgendwas“. Die Welt ist schön und zieht vorbei. „Papa“, sagt Theo plötzlich, „ich möchte dich was fragen.“ „Bitte sehr.“ „Wann bist du eigentlich richtig glücklich?“

‚Wow‘, denke ich, ‚was für eine Frage …‘ Der Junge ist noch keine neun Jahre alt. Bisher hatten Theos Fragen eine andere Qualität. Da wollte er wissen, ob Marcus Rashford (Fußballer von Manchester United) oder Kilian Mbappé (Fußballer von Paris St. Germain) schneller ist oder ob Steinadler immer noch meine Lieblingstiere sind. Jetzt haut er mich mit dieser Frage um. Es geht ans Eingemachte.

„Puh, Theo, das kann ich gar nicht so leicht beantworten. Aber ich finde es super, dass du sie mir stellst.“ Ich überlege. Meine Antwort muss ganz ehrlich sein. Theo meint es ernst. Ich kann ihn nicht mit irgendwas Halbgarem abspeisen. „Also…“, beginne ich, „ich bin richtig glücklich, wenn es Mama, deiner Schwester Frida und dir gut geht.“ Hinter mir bleibt es still, diese Antwort reicht noch nicht. „Außerdem bin ich glücklich über meinen neuen Job, das ist genau das, was ich machen möchte. Es macht mir richtig Spaß.“ Ich halte kurz inne. „Aber wenn du mich fragst, wann ich am glücklichsten bin: Das ist dann, wenn ich ganz ruhig und entspannt bin, wenn ich abschalten kann. Aber so richtig kann ich das in letzter Zeit immer seltener. Ich habe viel Stress und ganz viel im Kopf. Ich habe es etwas verlernt, richtig zu entspannen.“ Von hinten kommt ein „Hmh.“ „Aber ich glaube, ich kann das wieder lernen, ich muss das trainieren“, sage ich und bin der festen Überzeugung, dass das auch so ist.

„Wann bist du denn richtig glücklich?“ frage ich ihn. Theos Antwort kommt prompt: „So richtig glücklich bin ich, wenn mir ein Mädchen sagt, dass es in mich verliebt ist.“ Das ist gerade so ein Ding unter den Viertklässlern. Am Horizont winkt schon die Pubertät. „Das ist ja auch schön, wenn man so etwas gesagt bekommt“, sage ich. „Das ist ja auch mutig von dem Mädchen, so etwas zu gestehen.“ „Jaha,“ antwortet mein Sohn. „Weißt du, was Lisa sagt?“ Lisa ist Theos beste Freundin. „Sie sagt, wenn ein Mädchen so richtig in dich verliebt ist, dann sagt sie dir das nicht, weil ihr das zu peinlich ist.“ „Ja, da könnte Lisa recht haben. Es kann sehr verletzend sein, wenn man jemandem sagt, ich finde dich toll, und der andere macht sich darüber lustig. Das kann sehr wehtun.“ „Ja, da hast du recht, Papa. Das wäre richtig gemein. Papa, außerdem finde ich es richtig gut, Zeit mit meinen Freunden zu verbringen – ohne Familie.“ „Ja, das ist auch wichtig.“ Eine Erinnerung kommt hoch: Mein Bruder mit 14, 15 Jahren, sturmfrei, Sommer, Alkohol. Mein Bruder sitzt mit seinen Freunden auf der Terrasse, sie schauen in die Sterne und philosophieren über das Leben. Angetrunken, aber schlau. Heute sind sie Vertriebsleiter, Autodesigner, Unternehmensberater, und einer sitzt im Bundestag.

„Lila Wolken“ sind zu Ende und verschwunden, es ist still im Auto. „Theo, darf ich dich fragen, warum du wissen wolltest, wann ich richtig glücklich bin?“ Der Junge überlegt keine Sekunde. „Weißt du noch letztes Jahr, als uns Tom und Daniel besucht haben?“ Das sind seine Cousins. „Ja, die waren Silvester bei uns.“ „Da haben wir doch dieses Konzert von dem Mann gesehen. Wo am Ende alle Leute geweint haben, obwohl die Musik gar nicht traurig war. Du hast gesagt, er hat sich umgebracht, weil er so unglücklich war.“ Schon wieder bekomme ich eine Gänsehaut. Dieser Moment ist zehn Monate her und Theo erinnert sich noch. „Du meinst Avici?“ „Ja, genau, Avici!“ Avici ist ein DJ und Musikproduzent, der irre erfolgreich war, durch die ganze Welt reiste – und der seinem Leben mit 28 ein Ende setzte. „Wollen wir den hören?“ „Ja!“

Also spiele ich „Levels“ von Avici. Das ist der Song, der gar nicht traurig ist, bei dem aber alle Leute geweint haben, bei dem Konzert letztes Silvester im Fernsehen. Während die Musik läuft, sprechen Theo und ich über Traurigkeit, Druck, Drogen und Einsamkeit. Wir unterhalten uns über die Bedeutung von Freunden und Familie. Dass man sich kümmert, wenn es einem nahen Menschen nicht gut geht, und selber anderen erzählt, wenn man ein Problem hat.

Danach spiele ich Amy Winehouse und – ich kann es nicht lassen – auch Nirvana. Aber natürlich kann Theo mit „Smells like teen spirit“ noch nichts anfangen. Das ändert aber nichts daran, dass diese Fahrt ein besonderer Vater-Sohn-Moment ist. Wir sind uns ganz nah, es gibt nur uns und unsere Gedanken, die wir austauschen – und die Musik. Als ich später einem Freund von dieser Autofahrt erzähle und von Theos großer Frage, wann ich richtig glücklich bin, sagt der Freund: „Jetzt, in diesem Moment.“