Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

„Das ist voll Alman-Weihnachten“

„Das ist voll alman“

Zum Familientreffen am ersten Weihnachtstag soll jeder etwas zum Abendessen beitragen. „Ich glaube, ich mache Nudelsalat“, sage ich. Lara rümpft die Nase. Kartoffel- oder Nudelsalat, sagt sie, wäre „voll das Alman-Essen.“ Sowas würde doch keiner mehr essen, sie auf jeden Fall nicht, und ob wir nicht etwas anderes vorbereiten können.

Der Ausdruck „Alman“ hat seinen Ursprung in der türkischen Sprache und wird auch von nicht-türkischen Jugendlichen (und somit auch von meiner siebzehn Jahre alten Tochter) spöttisch für Urdeutsches, Spießiges und Altmodisches verwendet.

Wenn ich an einen Heiligabend in meiner Kindheit zurückdenke, sehe ich mich mit meiner Mutter und meinen Geschwistern vor einer großen Schüssel Kartoffelsalat und einer Platte warmer Würstchen am Esstisch sitzen – ein traditionelles Heiligabendmahl in vielen Familien. Nun aber frage ich mich, ob der Begriff traditionell nicht schlicht und ergreifend ein Synonym für altmodisch und spießig ist, zumindest in den Augen von Laras und Mayas Generation.

Holzpyramidenproduktion in einer Drechslerei im Erzgebirge
Holzpyramidenproduktion in einer Drechslerei im Erzgebirge

Vorletztes Jahr in der Vorweihnachtszeit kam mein Mann mit einem großen, geheimnisvollen Karton nach Hause. Seine Augen leuchteten voller Vorfreude. Meine Töchter und ich waren furchtbar neugierig, welches Geheimnis dieser Karton wohl barg. „Es ist etwas ganz, ganz Besonderes und wirklich bezaubernd“, schwärmte mein Mann. „Ich habe es gerade bei meinen Eltern abgeholt. Es wird ab nun in der Familie herumwandern. Dieses Jahr sind wir dran“, sagte er stolz. „Lasst euch überraschen.“

Als ich einige Zeit später das Wohnzimmer betrat, stand auf unserem kleinen Beistelltisch eine in die Jahre gekommene Holz-Weihnachtspyramide aus dem Erzgebirge in Form eines Adventhauses mit vier Fenstern. Die winzigen Fensterläden ließen sich öffnen, und dahinter versteckten sich kleine Engelsfigürchen, die backten, werkelten, musizierten und eine Glocke läuteten. Weder meine Töchter noch ich konnten die Begeisterung meines Mannes für dieses Holzkunstwerk teilen, an dem schon überall die Farbe abgeblättert war. Selbst im einwandfreien Zustand hätten wir es nicht „bezaubernd“ gefunden, nicht einmal ansatzweise. 

Sobald man an dem Ding etwas stärker atmend vorbeiging oder gar hustete, fielen die Flügel ab. Anfangs setze mein Mann alles wieder geduldig zusammen, bis er dann selbst irgendwann genervt zugab: „Ich bin total enttäuscht. Ich hatte das Haus magisch und wunderschön in Erinnerung. Ich weiß noch, wie aufgeregt ich als Kind war, wenn ich an einem Adventssonntag an der Reihe war und mit kleinen, zittrigen Fingern ein Fenster öffnen durfte. Und jetzt ist das so ein Schrott und Kitsch.“ Das Adventhaus verschwand noch vor Heiligabend wieder in der großen Kiste.

Wir Erwachsenen trauern oft nostalgisch unserer Vergangenheit nach. Wir würden so gerne den Zauber unserer Kindheit zurückzurufen und ihn gemeinsam mit unseren Kindern neu erleben. Daher versuchen wir, unsere Kinder für Dinge aus unserer Zeit zu begeistern: Mal preisen wir sprachlich total veraltete Bücher oder Filme an, mal kitschige, unmoderne Weihnachtsdekoration oder viel zu deftiges und nicht mehr zeitgemäßes Essen, das schon Oma mit viel zu viel Mayonnaise und Sahne zubereitet hat. Manchmal gelingt uns das, meistens jedoch nicht.

Alte Zöpfe darf man ruhig auch mal abschneiden und altbackene Relikte aus der Vergangenheit überdenken. Die Zeit bleibt nicht stehen, auch wenn wir uns alle hin und wieder wünschen, sie zurückdrehen zu können. Also werde ich den Nudelsalat streichen und mit Lara etwas vorbereiten, das auch der jungen Generation schmeckt. Ich will schließlich kein Alman sein – nicht mal an Weihnachten.

(Sonia Heldt)

Alman-Weihnachten? Wir sind dabei

Wir sind bei Weihnachten und in der Adventszeit Vollblut-Alman. Das ganze Haus ist Alman. Schon an der Eingangstür begrüßt den Besucher ein Tannenkranz mit roter Schleife. Das Erdgeschoss ist weihnachtlich durchgestylt. Meine Schwiegermutter hat uns ein buntbemaltes Miniatur-Weihnachtsdorf aus Terracotta geschickt. Es steht vor einem bodentiefen Fenster. Wenn unsere Tochter nach Hause kommt, macht sie zuallererst die Lämpchen an. Außerdem hat sie in der Schule gelernt, wie man aus Papierbögen Schneeflocken bastelt: An jedem Fenster hängen mindestens drei dieser Flocken. In der Mitte des Esstisches prangt ein stattlicher Adventskranz. Überall hängen Weihnachtssterne und als Krönung trägt die Figur einer üppigen Balletttänzerin auf der Anrichte wie jedes Jahr eine Weihnachtsmannmütze auf dem Haupt. 

Ja, die ganze Familie liebt diese Zeit mit dem weihnachtlichen Schnickschnack – und mit ihren kommerziellen Begleiterscheinungen. Jedes Familienmitglied hat mindestens einen Adventskalender. Bei uns läuft jeden Tag die gleiche Weihnachts-Playlist (von „Last Christmas“ bis „Maria durch ein´ Dornwald ging“, von „Fairytale of New York“ bis „In der Weihnachtsbäckerei“). Da herrscht familiäre Einigkeit.

Ich gebe es zu: Ich brauche das alles. Vor allem in diesem Jahr, wenn Omikron und Impfgegner andere Weihnachtsfreuden nicht möglich machen: Vollblut-Weihnachten, Bilderbuch-Weihnachten, Weihnachten wie immer, Weihnachten Alman. Mit seiner Musik, den immer gleichen Filmen, Gebäck und den wunderbaren Kinderbüchern. Es ist ein bisschen wie früher, so soll es sein.

Unsere Kinder (7 und 9) lieben es, wenn ich ihnen von meinen Kindheits-Weihnachtserinnerungen erzähle. Dass mein Vater, ihr Opa, rund um Weihnachten immer ganz viel arbeiten musste, weil er eine Bäckerei hatte. Dass er den Weihnachtsbaum immer erst am Heiligen Abend besorgt hat und meine Mutter sich jedes Mal beschwerte, dass der Baum krumm war. Dass ich mit meinen Geschwistern an Heiligabend immer in die Kirche gegangenen bin, dass wir andächtig und amüsiert dem Krippenspiel der Vorkonfirmanden folgten und „Oh Du Fröhliche“ gesungen haben. Hinterher gab es Christstollen, Kaffee und dann ist mein übermüdeter Vater zur Bescherung aufgestanden.

Mein Vater backt auch heute noch Plätzchen und Stollen. Die Plätzchen sind ruckzuck aufgefuttert, aber den Stollen mag außer mir wegen der Rosinen und des Orangeats niemand.  Natürlich hat sich die Vorweihnachtszeit auch sonst geändert. Die Kinder hatten in ihren Adventskalendern Gutschein-Zettelchen gefunden: „Einen Weihnachtsfilm schauen“. Während Theo maulte, er habe keine Lust auf einen langweiligen Weihnachtsfilm, hat sich Frida gefreut. Sie liebt „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“, „Die Muppets-Weihnachtgeschichte“ und „Der kleine Lord“, obwohl sie beim letzten Mal irritiert war, dass ihr Vater den halben Film lang geheult hat, weil er Alec Guinness so toll findet, der den alten Lord spielt.

Beim Vorlesen ist es nicht anders. Während Frida bei „Weihnachten bei den Zwergen“ an meinen Lippen hängt und sich wohlig bei „Tomte Tummetott“ und „Knecht Ruprecht“ gruselt („Hat der wirklich eine Rute, Papa?“), findet Theo das alles inzwischen nicht mehr spannend. Immerhin hat er in diesem Jahr noch einmal einen Wunschzettel an das Christkind geschrieben und eine Theorie aufgestellt, wie das logistisch mit den Geschenken funktioniert: „Ich glaube, das Christkind geht nicht einkaufen. Das lagert die ganzen Geschenke einfach in einem riesigen Raum.“

Weil auch in diesem Jahr corona-bedingt die Kirche ausfällt, werden wir wieder stattdessen einen Weihnachtsspaziergang machen. Wir werden gemeinsam singen, und ich werde Lukas 2, Vers 1 bis 20 vorlesen. Dann folgt die Bescherung, und dann gibt es Essen.

Eigentlich hatte ich vor, zum ersten Mal eine Gans zu braten. Letztlich habe ich mich dagegen entschieden. Unsere Kinder essen den Vogel eh nicht. Die Alternative ist aber auch sehr Alman: Es gibt Raclette.

(Matthias Heinrich)

„Scheiße, Weihnachtsmann“: Warum ich mit amerikanischem Weihnachten liebäugle

Auch ich habe es an Weihnachten am liebsten traditionell. Meine Familie und Schwiegerfamilie auch. Und es versprach so ein schöner Abend zu werden, mein Mann und ich, seine Eltern, seine Schwester mit ihrem Mann und den beiden Kindern. Zur Begrüßung ein Glas Sekt, der Baum wunderschön geschmückt. Bis zu diesem Weihnachtsfest hatte ich den Weihnachtsabend noch nie anderswo verbracht als im Wohnzimmer meiner Eltern, wo wir nach den immer gleichen Ritualen (Krippenspiel in der Kirche, Fondue, ausgiebiges Musizieren) mit roten Wangen endlich die Geschenkestapel erobern durften. Meine Familie ist groß, die beiden Omas waren auch immer dabei, und so war das ein fröhliches Hin und Her aus „Schau mal, was ich bekommen habe“, „Danke Mama“, „Guck mal hier“ und „Oh, ich hab auch noch was für dich“. Alle waren gleichzeitig beschäftigt, „arbeiteten“ sich durch die gewünschten oder überraschenden Geschenke. Nach dreißig Minuten sanken wir ermattet in die Sofas, öffneten unsere neuen Bücher oder spielten vor der Krippe mit Playmobil. Die Omas tranken einen Likör, meine Eltern tauschten nun auch endlich ihre Geschenke aus, leiser als wir Kinder und doch genau von uns beobachtet.

Bloß keine Tränen: Tropfen an einer Weihnachtskugel in Schleswig
Bloß keine Tränen: Tropfen an einer Weihnachtskugel in Schleswig

Auch wir haben viele Geschenke bekommen, vielleicht war es auch bei uns damals schon eine Überforderung. Doch Tränen gab es dabei nicht – außer vielleicht vor der Bescherung, wenn meine Schwester es mal wieder nicht geschafft hatte, alle Päckchen rechtzeitig einzupacken und das unbedingt noch schaffen wollte, bevor sie ihr Engelskostüm überstreifen und von der Empore in der Kirche die frohe Botschaft verkünden sollte.

Besagter Abend mit der neuen Familie blieb mir in Erinnerung, weil meine Nichte und mein Neffe sich erst beim Vorsingen eines Lieds in die Haare kriegten und sich dann – beobachtet von uns Erwachsenen, die wir erst im Anschluss auspacken sollten – über die Geschenke hermachten. Es war ausgerechnet das erste Päckchen, das meine Nichte in Rage versetzte. „Scheiße, Weihnachtsmann“, fluchte sie, die Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie hatte die CD bereits. Der Tag war für die damals Neunjährige einfach zu aufregend gewesen.

Auch meine Schwester berichtet davon, dass man ihren Kindern besser gar nichts mehr schenken solle, denn es sei eh alles zu viel, die Kinder bekämen „den Hals nicht voll“ und am Ende gebe es immer nur Streit. Auch bei unserem Dreijährigen kann ich schon voraussehen, dass dieses Weihnachten ihn überfordern wird. Er wünscht sich ungefähr alles, was es über Monster Trucks und Dinosaurier gibt – Puzzle, Stickerbücher, Malbücher, Ausmalbücher – und wird auch eine Menge davon bekommen. Sein eigentliches Geschenk ist aber ein Kaufladen. Das kann super werden, oder ein Scheiße-Weihnachtsmann-Moment, wenn er das Laken wegzieht und darunter kein Monster Truck zum Vorschein kommt.

Auch wenn ich mich damit nie durchsetzen werde: Ich liebäugle damit, mit den Traditionen zu brechen und all meine romantischen Vorstellungen vom Heiligen Abend über Bord zu werfen, und die Bescherung wie in Amerika üblich auf den Morgen des 25. zu verlegen. Ich weiß, dass das für viele einer Abschaffung des Abendlandes gleichkommt, in einem Atemzug zu nennen mit Sonne-Mond-Sterne-Laternenumzügen. Doch ich schwöre: Frisch ausgeruht kann man über doppelte CDs und uneingepackte Geschenke nur lächeln.

(Chiara Schmucker)