Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Unsere Kinder und der Krieg

Ausdruck des Entsetzens: von Kindern gemaltes Plakat bei einer Demonstration am 27. Februar in Berlin
Ausdruck des Entsetzens: von Kindern gemaltes Plakat bei einer Demonstration am 27. Februar in Berlin

„Wir sollten sie einladen“ – mit den Augen eines Kleinkinds

„Mama, warum ist das Haus kaputt“, fragte mein dreijähriger Sohn mich neulich, die neue Ausgabe des Spiegel-Magazins in der Hand. „Mmh, manche Häuser sind nicht gut gebaut“, sagte ich ausweichend und linste verstohlen auf das Titelbild eines zerstörten Häuserblocks in Kiew, in dessen Mitte ein schreckliche Lücke klafft. „Vielleicht ein Erdbeben“, sage ich. Von Erdbeben hat Max schon gehört, er verbindet sie mit einem Vulkanausbruch und Dinosauriern. Doch diesmal kann ich mit meiner Notlüge nicht landen: „Opa hat mir gesagt, dass eine Rakete das Haus kaputt gemacht hat – wieso können Raketen so etwas?“

Ich habe mir vorgenommen, meine Kinder nicht anzulügen. Aber Max ist erst ein Kindergartenkind. Er beginnt gerade erst, seine eigene Welt zu begreifen. Er interessiert sich für Wasser, Vulkane und wilde Tiere. Raketen sind in seiner Welt dazu da, zum Mond zu fliegen, vom Kindergeburtstag hat er neulich eine mitbekommen, die war bunt und mit Süßigkeiten gefüllt. Von Krieg hat er noch nie gehört, von Zerstörung durch Menschenhand, von Tod, Leid und Flucht.

Mein Mann und ich haben uns entschieden, dass das noch eine Weile so bleiben darf. Wir schauen momentan keine Nachrichten, wenn die Kinder dabei sind, und wir sprechen nicht vor ihnen über Putin und unsere Ängste. Doch Max hat feine Antennen, und das Thema Krieg ist überall. In der Mediathek der Öffentlichen Fernsehprogramme sieht man Panzer und Granatwerfer, wo sonst die kleinen Vorschaubilder für unsere Naturdokus stehen. Max schnappt Wörter im Radio auf, „Panzer“, „festgenommen“, „Helme“, er sieht den Kleintransporter, der vor dem Kindergarten Säcke voll Kinderkleidung abholt. Neulich ist er in die Küche geplatzt, als mein Mann und ich fassungslos die Nachrichten über eine mögliche atomare Eskalation anhörten. „Was ist denn“, fragte er besorgt und schaute in unsere erschrockenen Gesichter. „Es ist alles in Ordnung, mein Schatz“, habe ich gesagt und ihn fest in den Arm genommen. „Wir haben nur gerade im Radio gehört, dass es einen Unfall auf der Straße gegeben hat. Aber alles ist schon wieder gut.“

Unsere Freunde waren in den vergangenen Tagen mit ihren Kindern demonstrieren. „Kein Kind will in der Metro schlafen“, hatten sie auf eines ihrer Schilder gepinselt. Und: „Krieg ist“, dazu das braune Kack-Emoji. Meine Mutter schrieb mir, dass sie bei den vielen kleinen Kindern, die man jeden Tag in den Nachrichten sieht, an ihre Enkelkinder denken muss. Und auch ich nehme meine zwei Jungs in diesen Tagen öfter in den Arm, streichle ihre feinen Gesichter und bleibe beim Einschlafen länger als sonst neben ihnen liegen. Ich lausche ihrem Atem und schwöre mir, sie vor allem Bösen zu beschützen. Auch wenn das bedeutet, für sie im Moment noch eine alternative Wahrheit zu entwickeln, bis sie das Thema ein wenig begreifen und verstehen können.

Ich suche Erklärungen für Max aus seiner Lebenswirklichkeit. „Nicht alle Kinder haben so viele Kleider wie Lenny und du, diese Frau bringt ihnen deshalb welche“, erkläre ich die Kleiderspende. Und auch die Rakete konnte ich letztlich umlenken. „Ich glaube, Raketen fliegen zum Mond“, sagte ich. „Du hast doch deine Rakete sogar noch am Schreibtisch stehen. Das Loch hier sieht mir eher aus wie von einer Abrissbirne.“ „Ja, das stimmt“, sagt Max, „und die Leute, die da wohnen, haben sich sicher sehr geärgert.“ „Ja, das haben sie“, sage ich. „Wenn du magst, können wir ihnen bald einmal einen Brief schreiben oder ein Päckchen schicken.“ „Oder sie zu uns einladen“, sagt Max. „Ja, vielleicht auch das“, sage ich. Wieder einmal staune ich, wie untrüglich das Herz meines Sohns uns oft den richtigen Weg weist.

(Chiara Schmucker)

Fahnen und Furcht – mit den Augen von Grundschulkindern

Große Symbole, große Solidarität: Eine 300 Meter lange Ukraine-Fahne. (Foto: privat)

Bis auf eine Sendung „logo!“ im Kika hatten unsere Kinder Theo (9) und Frida (7) zunächst nicht viel mitbekommen vom Krieg in der Ukraine. Denn dann kamen die Faschingsferien in Bayern, und wir machten Urlaub in Norddeutschland. Eine Hochzeit stand auf dem Programm, Besuche bei den Großeltern und bei der Tante sowie ein paar Tage an der Nordsee. An sich schöne Dinge, das genaue Gegenteil von Krieg. Natürlich haben wir mehrmals täglich die Nachrichtenlage gecheckt, die Kinder aber wenig teilhaben lassen. Ob bewusst oder unbewusst, weiß ich nicht mehr. Ist Krieg denn ein Thema für Grundschüler? Die Frage wirkt zynisch, wenn man an die Kinder in der Ukraine denkt, für die jemand anderes als ihre Eltern sie auf grausamste Weise beantwortet hat.

Der Krieg war an den ersten Ferientagen kein Thema, bis wir plötzlich vor einer 300 Meter langen Ukraine-Fahne standen. Jemand hatte das Gradierwerk von Bad Rothenfelde, einem Kurort in Niedersachsen, damit illuminiert. „Das ist, damit wir an die Menschen in der Ukraine denken“, sagte Theo beeindruckt. „Genau“, antwortete ich: „Damit sagen wir: Ukrainer, wir denken an euch. Wir akzeptieren es nicht, dass Russland euch angreift. Damit sagen wir, wir wollen Frieden.“ Klar sind solche Fahnen und solche Bekundungen in erster Linie nur für das eigene Gefühl gut. Wie das Klatschen für das Klinikpersonal zu Beginn der Corona-Pandemie: Es hilft den Absendern mehr als den Adressaten. Für Kinder, besonders im Grundschulalter, sind diese Fahne aber wichtige Symbole. Sie machen den Krieg auf die unblutigste Weise sichtbar, sie lehren, wie man friedlich Solidarität mit den Opfern zeigt.

„Guck mal, Papa, schon wieder eine Ukraine-Fahne“, rief Theo wenige Tage späte an der Nordsee. Überall, in den Windfängen von Restaurants oder vor Modegeschäften, hingen blau-gelbe Fahnen. In einem kleinen Geschäft in einem Nordseebad bekam ich zufällig mit, wie ein Kunde die Verkäuferin fragte, ob sie noch Ukraine-Fahnen habe. „Leider sind alle weg, aber ich habe neue bestellt. Sollen nächste Woche kommen.“

Für unsere Tochter Frida war der Krieg kein Thema – dachte ich zumindest bis gestern. Als ich in ihr Zimmer kam, war ihr Reiterhof verwüstet. Die Pferde, die sonst ordentlich auf ihrer Weide stehen, lagen überall herum. „Nanu, was ist denn hier los?“ fragte ich sie. „Hier ist Krieg, Papa“, antwortete nüchtern. Ich war entsetzt: „Krieg? Wer führt denn hier Krieg?“ „Die Tierärztin.“ „Gegen wen führt sie Krieg?“ „Gegen drei Mädchen und alle Pferde.“ „Oh Mann, dann hoffe ich, dass sie sich bald wieder vertragen“, sagte ich beim Rausgehen ziemlich hilflos. Als ich eine Viertelstunde wieder nach ihr sah, atmete ich auf: Alles stand wieder an seinem Platz, die Pferde auf der Weide, die Tierärztin unterhielt sich mit den Kindern. Als Frida meinen erleichterten Blick sah, sagte sie: „Du weißt doch, ich bin für glücklich sein.“

Die eignen finsteren Gedanken teile ich nicht mit mit meinen Kindern. Niemals hätte ich wie so viele gedacht, dass noch einmal jemand so einen Krieg in Europa anzettelt, dass ein Land ein anderes grundlos angreift und die Bedrohung – für uns Deutschland – so nah sein wird. Als wir Erwachsene abends in den Ferien zusammensaßen und über den Krieg sprachen, sagte meine Schwester zu mir: „Sei froh, dass Du Zivildienst gemacht hast.“   

(Matthias Heinrich)

Bloß keine Was-wäre-wenn-Szenarien – Mit den Augen von Jugendlichen

Lara (17) kam bereits durch die Pandemie psychisch stabil. Sie geht mit der aktuellen Situation in der Ukraine pragmatisch und recht erwachsen um. Sie hilft in der Schule bei der Spendenaktion mit, ist betroffen, aber malt sich keine Horrorszenarien aus. Maya (14) aber haben bereits die letzten zwei Jahre zugesetzt. Sie ist ein Mensch, der unglaublich anfällig für Ängste ist. In ihrem Kopf hämmert gerne der Satz: „Was wäre, wenn…“ Was wäre, wenn ich auch so eine Krankheit bekommen würde? Was wäre, wenn im Aufzug gleich ein Seil reißen würde?

Als ein Germanwings-Pilot 2015 zahlreiche Menschen mit sich in den Tod riss, war Maya sieben Jahre alt. Selbst wenn man es will, man kann diese Dinge nicht von den Kindern fernhalten. Spätestens auf dem Schulhof tauschen sie sich aus, hören von irgendjemanden: „Hast du schon gehört?!“ Was uns bleibt, ist, mit den Kindern offen über schlimme Ereignisse zu sprechen und sie mit ihren Gedanken nicht allein zu lassen. Auch jetzt. Kinder und Jugendliche wollen ehrliche Erklärungen von uns Erwachsenen. Aber manchmal haben auch wir Erwachsenen keine befriedigende Antwort auf ihre Fragen. Manchmal sind auch wir rat- und sprachlos.

Seit dem Germanwings-Absturz leidet Maya unter extremer Flugangst, weil sie den fremden Personen im Cockpit nicht traut. Diese Angst hat sie inzwischen auf Bus- und Taxifahrer übertragen. Natürlich nehme ich ihre Ängste ernst, sage, dass wir jeden Tag mit gewissen Risiken leben müssen. Dass wir nicht anfangen dürfen, jedem fremden Menschen zu misstrauen, nur weil ein einzelner durchgedreht ist.

Nun ist wieder jemand durchgedreht. Die ganze Welt schaut ihm entsetzt zu und hat keine befriedigende Erklärung für sein Verhalten. Das ist für Kinder unsagbar bedrohlich. „Ich habe mit Lilly und Mona in der Schule überlegt, was wäre, wenn wir im Krieg wochenlang in den Keller müssten und irgendwann nichts mehr zu essen hätten? Wir haben uns gefragt, ob man sich dann gegenseitig aufessen würde“, erzählte Maya vor ein paar Tagen. Dann fragte sie meinen Mann, ob er im Falle eines Krieges für Deutschland kämpfen müsste. Maya sieht die Soldaten praktisch schon bei uns einmarschieren.

Es erschreckt mich, dass meine Tochter ihre kindliche Unbeschwertheit verloren zu haben scheint. Sie hat in den letzten zwei Jahren so oft gehört und gehofft, dass unser Leben bald wieder in normalen Bahnen verlaufen würde. Stattdessen zieht und zieht sich die Pandemie unendlich in die Länge. Und nun gerät unser Leben hier noch weiter aus den Angeln. Ich kann ihr diese Sorgen nicht nehmen. Ich kann einer Vierzehnjährigen weder die Nachrichten vorenthalten noch sie verharmlosen. Ich kann nicht alles kontrollieren, was sie googelt oder auf TikTok sieht. Aber ich versuche, ihre schrecklichen Gedankenspiele zu stoppen, wann immer es geht. Wenn Maya abends bei meinem Mann vor dem Fernseher sitzt und der sich zum x-ten Mal über die aktuelle Lage in der Ukraine informiert, nehme ich die Fernbedienung und schalte um. Stoppe den Informationsfluss, der auch mich durch die sozialen Medien viel zu sehr triggert. Starte einen Wohlfühlfilm, unterhalte mich mit Maya über schöne Dinge. Plane schöne Dinge.

Ich denke, man muss in seinem eigenen kleinen Umfeld versuchen, positiv zu bleiben und eine gewisse Normalität walten zu lassen. Den Kindern zuliebe. Niemandem ist geholfen, wenn Kinder die Sorgen der Welt mit ins Bett nehmen, um dann mit Bauchschmerzen im Dunkeln an die Decke zu starren und sich zu fragen: Was wäre, wenn…? Denn sie haben nur diese eine Kindheit. Wir können heute nicht abschätzen, was die aktuellen Ereignisse mit ihrer Psyche langfristig anstellen werden. Die Vorstellung, dass aus Maya einmal eine ängstliche Erwachsene werden könnte, die hinter jedem Baum Böses vermutet, ist schrecklich.

(Sonia Heldt)