Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Sei Annika, nicht Pippi

Kürzlich bin ich irgendwo in den Sozialen Medien, bei Instagram oder Facebook, mal wieder über diesen Spruch gestolpert: Sei Pippi, nicht Annika. Eine „Freundin“ hatte ihn gepostet. Einige ihrer „Freundinnen“ haben ihn geliked und ein paar sogar geteilt. Ganz neu ist der Spruch nicht, er taucht seit ein paar Jahren immer mal wieder auf.

Die Message hinter diesen vier Worten ist einfach. Im Positiven bedeuten sie: Sei stark, offen, frech, frei, mutig, unbelastet, lass mal Fünfe gerade sein (oder halt zweimal drei gleich vier). Tu, was dir Spaß macht – und vor allem: Mach dir die Welt eben widdewidde wie sie dir gefällt. Und sei auf der anderen Seite bloß nicht langweilig, schüchtern, nachdenklich, zögerlich, vorsichtig, zurückhaltend und vor allem kein Angsthase. Sei eben Pippi und nicht Annika.

Um es gleich zu vorweg zu nehmen: Ich kann diesem Spruch nichts abgewinnen. Absolut gar nichts. Mehr als das: Ich halte ihn für selten dämlich. „Sei Pippi, nicht Annika“ – das stellt die beiden Mädchen-Charaktere aus Astrid Lindgrens großartigem Buch so harsch gegeneinander. Entweder bist du Team Pippi oder Team Annika, schwarz oder weiß, stark oder langweilig. Dabei spielen Pippi und Annika doch im selben Team. Es sind Freundinnen, die gemeinsam ihre Abenteuer bestehen. Die Geschichten entwickeln vor allem aus dem Kontrast dieser beiden Charaktere ihren Zauber. Weil Annika ängstlich ist, kann Pippi mutig sein. Weil Pippi stark ist, kann Annika Schwäche zeigen.

Maria Persson als Annika (r.) und Inger Nilsson als Pippi Langstrumpf in den Filmen aus den späten Sechzigerjahren
Maria Persson als Annika (r.) und Inger Nilsson als Pippi Langstrumpf in den Filmen aus den späten Sechzigerjahren

Mir haben die Geschichten schon als kleines Kind gefallen. Ich mochte Pippi, na klar, aber auch Annika. Wenn Annika warnte: „Pippi, tu das nicht“, hat Pippi es erst recht getan. Das war cool. Pippi ist natürlich eine tolle Figur. Sie ist anarchisch und frech. Sie macht einfach ihr Ding. Allerdings ist Pippi kein normales Mädchen, sondern eine Superheldin. Sie fürchtet sich vor nichts, ist so stark wie fünf Männer, sie hat einen Koffer voller Geld, wohnt allein mit einem Pferd und einem Affen in einer Villa. Pippi ist eine tolle Figur, aber eben nicht von dieser Welt. Sie ist unerreichbar, wie Superman. Leider. Darum taugt Pippi Langstrumpf nicht als Vorbild.

Mit unserer Tochter Frida habe ich Pippi Langstrumpf gelesen. Das Kind war begeistert. Vor knapp einem Jahr wurde Frida eingeschult. Damals war sie, wenn man so will, eine Annika, schüchtern und still. Selbst wenn sie gerne eine Pippi gewesen wäre, sie konnte nicht anders. Sie kannte kein einziges Kind in ihrer Klasse. In den ersten Wochen musste ich Frida bis zu ihrem Platz bringen, und selbst da ließ sie mich nur widerwillig gehen, weil sie Angst hatte in ihrer neuen Umgebung.

Wie hat sie sich in diesem Jahr verändert! Sie hat Freundinnen gefunden, verabredet sich regelmäßig, geht inzwischen allein nach Hause. Sie flitzt in ihrer Gruppe über den Schulhof, spielt verstecken oder baut Häuser für Feuerwanzen. Trotzdem ist sie nach wie vor viel eher Annika als Pippi. Aber sie geht ihren Weg.

„Sei Pippi, nicht Annika.“ Wer postet so etwas eigentlich? Nach meiner ganz subjektiven Beobachtung sind es vor allem Frauen, die von einer Töpferwerkstatt auf Zakynthos oder einer Yogaschule auf Formentera träumen, während sie im wahren Leben auf einen Bildschirm in einem Büro in Wuppertal oder Wilmersdorf starren. Vom Alter her sind sie weder Pippi noch Annika, sondern eher die Prusseliese. Die Prusseliese, das ist die stocksteife, strenge Erzieherin, die immer wieder vergeblich versucht, aus Pippi Langstrumpf ein tugendhaftes, braves Mädchen zu machen.

Sei Pippi, nicht Annika. Ich weiß gar nicht, wer der Adressat dieses Spruches ist. Wahrscheinlich in erster Linie diese Frauen selbst. Mach mal was Verrücktes, brich mal aus, zumindest in Gedanken. Ich möchte mich nicht über diese Frauen erheben. In gewisser Weise habe ich Verständnis für ihre Sehnsucht. Als Mann, der selbst so mancher Erinnerung nachhängt, in dem Wissen, das sämtliche Züge in diese Richtung lange abgefahren sind.

Die zu meinen Kindern stehen aber noch alle am Gleis. Unser Sohn Theo ist vom Typ her ein Tommy (das ist Annikas Bruder), der gerne in die Pippi-Rolle schlüpft. Wie Tommy Pippi findet Theo Kinder toll, die irgendwas besonders gut können und in seinen Augen mutig sind. Meist sind diese Kinder älter und etwas großmäulig. Theo will dann auch so sein, obwohl er das aufgrund seines Selbstbewusstseins, seines Charakters und seiner Offenheit gar nicht nötig hätte. Er möchte sich selbst die Welt so machen, wie sie ihm gefällt. Dabei stößt er auf Widerstände, manche sind so groß, dass er sich fügen muss. Das ist nicht einfach für ihn, aber er lernt es immer besser. Auch mal zurückzustecken und nicht jedem unter die Nase zu reiben, was man selbst für ein toller Kerl ist. Auch mal den leiseren und leichteren Weg zu nehmen, den Annika-Weg, wenn man so will.

Seine Schwester, obwohl zwei Jahre jünger, hat ihren Weg schon eher gefunden. Auf ihre Annika-Weise geht sie durchs Leben, wird selbstbewusster, lernt täglich, was sie will und was sie nicht will. und sie lernt, das auch zu sagen. So als hätte ihr jemand gesagt: „Sei Annika, nicht Pippi. Das ist dein Weg.“