Bayern ist kein typisches Bundesland. Bayern ist anders, speziell. Das weiß man ja – zumindest wissen es diejenigen, die nicht aus Bayern kommen. In Brandenburg und Berlin, wo wir bis vor drei Jahren gewohnt haben, dauert die Grundschulzeit sechs Jahre. Das kann man gut oder schlecht finden, es ist halt so. In anderen Ländern, etwa in Niedersachsen, entscheiden letztlich die Eltern, welche Schule ihr Nachwuchs nach der 4. Klasse besucht. Die Noten bilden nur die Grundlage für eine Empfehlung. Wer meint, trotz Viererschnitts einen Hochbegabten großzuziehen, kann sein Kind auch damit aufs Gymnasium schicken.
In Bayern ist das anders. Da entscheidet ausschließlich der Notenschnitt, wohin die Reise geht. Die entscheidenden Fächer sind Deutsch, Mathematik und HSU (Heimat- und Sachunterricht). Stichtag ist der 1. Mai, dann stehen die Noten fest, dann bekommen die Schüler das Übergangszeugnis. Wer darin einen Schnitt von 2,33 oder besser hat (das sind etwa zwei Zweier und ein Dreier), hat freie Schulwahl, darf also aufs Gymnasium. Wer darüber liegt, aber noch unter 2,66, der geht zur Realschule. Wer auch darüber liegt, geht in die Mittelschule. Zwar haben Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit, durch den sogenannten Probeunterricht die Qualifikation für die gewünschte Schule nachträglich zu erlangen. Aber natürlich möchte sich jeder diesen Umweg gerne ersparen.
Leserinnen und Leser können sich vorstellen, dass das ein recht ordentliches Druckszenario für Schüler bedeutet. Zudem wird die Zahl der „Proben“, so nennen die Bayern ihre Klassenarbeiten, in der vierten Klasse deutlich erhöht. „Da wird ordentlich gesiebt“, wie uns ein befreundeter Lehrer wissen ließ. Wobei das Wort „Probe“ an sich schon ein Witz ist. Theaterfreunde wissen, dass ein neues Stück monatelang geprobt wird, dass es am Ende eine Hauptprobe und vor der Premiere eine Generalprobe gibt, bei der das Stück zum ersten Mal richtig sitzen muss. Es ist trotzdem aber noch eine Probe. Das sind die Proben in der Grundschule in Bayern nicht. Wer da versagt, wird ausgebuht und zwar von den Lehrern, in Form einer schlechten Note. Nicht nur so zur Probe, sondern ganz real.
Uns war dieses Szenario für das letzte Grundschuljahr unseres Sohnes überhaupt nicht bewusst. Nach sechs Jahren in Berlin, unserer eigenen Schulzeit in Niedersachsen und einer endlosen Corona-Schleife, die wir nach wochenlangem Homeschooling gott- und lehrerverlassen irgendwie überstanden hatten, dachten wir eigentlich, vor allem gefeit zu sein. Spätestens im Herbst sah es anders aus. Nach der dritten Deutsch-Probe innerhalb von drei Wochen fragte ich eine Mutter mit älteren Kindern, ob diese Taktung normal sei in Bayern. „Ja, ja“, antwortete sie. „Jetzt geht es um die Wurscht. Die Proben folgen im Stakkato. Man spricht auch vom ‚Bayerischen Grundschul-Abitur’“.
Das kann ja heiter werden, dachte ich. Dass die Kinder zwei Corona-Jahre hinter sich hatten, wochenlanges Homeschooling, weder Ausflüge noch Klassenfahrten, spielte keine Rolle. Lehrplan ist Lehrplan, und der Stoff muss rein – und wenn nicht: Pech gehabt. Wir machten uns Sorgen. Unser Theo (9) war bisher immer ein guter Schüler gewesen. Fast nur Zweien, hier und da mal eine Eins. Für uns war klar: Ab dem Fünften ist der Junge Gymnasiast.
Nach den Weihnachtsferien fing er plötzlich an, auch mal eine Drei und dann noch eine einzustreuen. Unsere Sorgen und Zweifel wuchsen. War es vielleicht doch keine gute Idee, ihn schon mit fünf Jahren einzuschulen? Das war damals nicht unser Einfall gewesen, Schulärztin und Erzieher hatten uns dazu geraten, ja sogar gedrängt. „Sie machen viel mehr falsch, wenn sie ihn jetzt noch ein Jahr in der Kita lassen“, hatte die Schulärztin gesagt. War das ein schlechter Rat gewesen? War er doch nicht reif für den Druck? Eine befreundetet Lehrerin sagte damals: „Ach, lasst ihn doch noch ein Jahr spielen.“ Sollte sie am Ende recht behalten?
Wir waren nicht die einzigen, die Druck hatten. Wenn Proben anstanden, ging es in der elterlichen WhatsApp-Gruppe heiß her: Was kommt dran? Übt ihr auch das und das? Kann mir jemand nochmal Seite xy schicken, mein Kind hat sein Buch verlegt? Wir verstehen die und die Aufgabe nicht, wie macht ihr das? Auch im Fußballverein sorgten sich die Eltern und machten sich gegenseitig Mut: „Du, wenn er es nicht packt: Die Realschule hat einen guten Ruf.“
Ich kann mich an einen Sonntagnachmittag erinnern, an dem zwei Viertklässler mit ihren kompletten Familien stundenlang durch unsere Stadt liefen und erklärten, wie sie im Mittelalter ausgesehen hat. Wo die Stadtmauer einmal stand und wie die zwölf Wachttürme hießen, von denen nur noch ein paar Ruinen stehen, wenn überhaupt. Das klingt besser, als es war.
Es mag nicht überraschen: Innerhalb der elterlichen Leidensgemeinschaft stieß die Solidarität an ihre Grenzen. Es gab Eltern, denen Panik und Verzweiflung anderer Wurscht waren und die Informationen gar nicht oder erst nach einer Probe mit anderen teilten. Eine realistische Vorbereitung darauf, was in den kommenden Schuljahren und dann im weiteren Leben auf die Kinder zukommt. Survival of the fittest. Früh krümmt sich, was ein Haken werden will. Christian Lindner gefällt das.
Um die Sache abzukürzen: Am Ende hat es Theo geschafft. Nicht mit Ach und Krach, sondern ganz locker. Und auf seine Art: Er war es irgendwann leid, dass ich ihm ständig ausgedruckte Probearbeiten aus dem Internet vorsetzte: „Papa, ich will das nicht mehr! Ich mach das so, wie wir das gelernt haben!“ Ich habe ihn gelassen, und es hat funktioniert. Am Ende war er erleichtert, fast so sehr wie wir. Er hat es nicht zugegeben, aber es hat ihn beschäftigt, auch er hatte Druck. Er wollte zum Gymnasium.
Was lernen wir daraus? Panik ist – wie auch in allen anderen Lebensbereichen – der schlechteste Weg, mit einer Herausforderung umzugehen. Es ist gut, seinem Kind zu vertrauen. Außerdem kann auch reine Logik weiterhelfen: Wenn ihr Kind dreieinhalb Jahre lang mit Kurs aufs Gymnasium unterwegs war, warum sollte sich das plötzlich ändern? Eben.
Natürlich haben wir auch mit der Klassenlehrerin gesprochen, einer strengen, anspruchsvollen und erfahrenen Pädagogin. Die hat Theo zwar kritisiert, aber an seinen Leistungen nie einen Zweifel gelassen. Und zum Schluss noch ein Wort zum „Bayerischen Grundschul-Abitur“: Jetzt in der Rückschau, wo wir die Sache hinter uns haben, sehe ich dieses anspruchsvolle Schuljahr mit anderen Augen. Theo hat eine Menge gelernt in diesem Jahr. Eine Freundin aus Brandenburg beklagte sich neulich, dass ihr Sohn zwar fast nur Einsen schreibt, aber so gut wie nie Hausaufgaben aufbekommt und sich in der Schule chronisch unterfordert fühlt. Dass ihr Junge noch zwei weitere Jahre Grundschule vor sich hat, bereitet ihr Bauchschmerzen.
Wir blicken jetzt nach vorne auf Theos Gymnasialzeit. Die wird auch kein Zuckerschlecken, wie uns eine Mutter auf der Abschlussfeier wissen ließ: „Da müsst ihr euch dran gewöhnen: Die Zeiten, in denen die Kinder Einser und Zweier mit nach Hause brachten, sind erstmal vorbei.“