Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Ausgesetzter Anstand

Seit ich mit ungefähr sechs Jahren nach Deutschland gekommen bin, bin ich es gewohnt, sobald ich den Raum betrete in irgendeiner Form angestarrt zu werden. Nicht in meinen Safe Spaces wie bei meinen Eltern, bei uns zu Hause oder auch bei manchen Freundinnen, aber ob ich in der Bahn zur Arbeit fahre, beim Metzger Gelbwurst kaufe oder im Wartezimmer beim Orthopäden bin: Leute starren mich an. Bevor jetzt die Kommentarspalte aus allen Nähten platzt: Sicherlich werden Sie, verehrte Leser*innen beispielsweise im Sudan als weiße Person auch angeschaut, Kinder werden vielleicht sogar um sie herumlaufen. Aber in der Regel schauen die Leute nach kurzer Zeit wieder weg. Es gibt eben einen grundlegenden Unterschied zwischen Schauen und Starren.

Ich finde mich nicht besonders ungewöhnlich: Ich bin nicht auffällig dick oder dünn, groß oder klein, laut oder leise. Ich bin einfach ich. Ich bin eine schwarze Frau mit Afro. Aber so einfach ist das leider nicht – und vor allem nicht, wenn ich mit „all meinen Kindern“ einen Ort in unserer Heimatstadt Kassel aufsuche.

Wir haben 15. Hochzeitstag, und den wollten wir beim Italiener um die Ecke feiern. Wir, das umfasst meinen weißen Mann, mich schwarze Frau und unsere drei schwarzen Kinder. „Enzos“ liegt unweit unserer Wohnung nahe des Zentrums von Kassel in einem schönen Viertel mit vielen Gebäuden aus der Gründerzeit. Es ist eher hochpreisig, aber manchmal gönnen wir uns das eben. Mit dem Restaurant verbinden wir besondere Erinnerungen.

Hier habe ich „Ja“ zu meinem Mann gesagt, hier haben wir den Siebzigsten meiner Mutter gefeiert, und hier lieben wir das Tiramisu.  Enzo begrüßt uns wie Familie. Während mein Mann mit Enzo locker Small Talk betreibt, spüre ich die Blicke der zwei älteren Damen auf ein Uhr. Erst starren sie mich an und blicken dann von einem Kind zum anderen. Es ist nicht das neugierige, kurze Schauen, wer da noch ins Restaurant kommt. Es ist ein unverhohlenes, durchdringendes und nicht enden wollendes Starren. Sie legen ihr Besteck ab, nehmen ihre Stoffservietten vom Schoß, putzen sich die Mundwinkel und ihr Blick bleibt dabei auf uns heften. Ich schüttle leicht den Kopf, als würde ich die Blicke abschütteln können. „Popcorn, Ladies?“, schießt es mir durch den Kopf.

Auf zehn Uhr ein ähnliches Starr-Szenario, eine Vierergruppe schaut kurz auf, nimmt einen Happen und blickt wieder zu mir und den Kindern. Ich halte den Blick des Herren im safranfarbenen T-Shirt auf elf Uhr, deute ein Lächeln an und nicke kurz. Er merkt, dass er mich wohl zu lange angeschaut hat und isst hastig weiter. „Puh. One down“, denke ich und halte meinem ältesten Sohn den Arm hin, damit er mir seinen Pulli geben kann. Wir setzen uns, und auf ein Uhr muss das Essen doch schon kalt sein. Immer noch sind die beiden wie eingefroren und starren zu uns herüber. „Ehrlich jetzt?“, denke ich und erinnere mich, dass wir ja zum Feiern hier sind. Bastian wirft mir einen fragenden Blick zu und ich antworte: „Wir haben Fans. Auf elf Uhr und auf ein Uhr.“ Er nickt und dreht sich demonstrativ zu den beiden Tischen. Teile der Gruppe auf elf Uhr wollen wirklich nichts verpassen und sind so eingedreht, dass sie mit dem Rücken zu ihrem Essen sitzen, um uns alle besser sehen zu können. Basti schafft es, dass sie sich zueinander drehen und vor allem: von uns weg. Die Lady mit der langen Perlenkette auf ein Uhr lächelt Basti an. Sie wirkt wie ausgewechselt, nickt und nimmt endlich wieder das Essen auf.

Es ist immer das Gleiche. In der Regel hört das Starren abrupt auf, wenn mein weißer Mann ins Spiel kommt. Diese Blicke, versprühen den Vibe, als seien wir eine interessante Spezies, die uneingeladen in den geschützten Raum der Damen und der Vierergruppe einmarschiert ist und die es jetzt zu begutachten gilt. Reality Check: Wir sind Menschen, die ein Restaurant aufsuchen, arbeiten gehen, Wurst einkaufen. Nicht mehr. Nicht weniger. Ich frage mich, was mit der Kinderstube dieser Menschen ist. Anstand? Einfache Regel: Wir starren Menschen nicht an. Gilt wohl nicht für schwarze Menschen. Während der Vorspeise nehmen elf Uhr und ein Uhr wieder ihre Observation auf. Ich stochere missmutig in meinem Essen herum. Malik zeigt mit der Gabel rüber zu den starrenden Damen: „Mama, wir haben neue Fans. Zwei alte Frauen!“ Seit dem unsere Kinder uns in einem Frankreichurlaub gefragt haben, warum die Leute so gucken, habe ich ihnen erklärt, dass ich es nicht so genau sagen könne. Aber ich vermute einfach, es seien unsere Fans. So lange und genau wie diese Personen uns anschauen, müssten das doch Fans sein.  

Enzo füllt den Wein nach, gratuliert uns und fragt nach unseren Wünschen. „Amore, hast du nicht ein Paravent für uns? Ich würde so gerne mit meinem Mann und meinen Kindern feiern, aber diese Herrschaften gönnen uns keine Privatsphäre“, frage ich laut, nur halb scherzend und zeige auf elf Uhr und auf ein Uhr. Enzo lacht: „Naturalmente!“ Keine Minute später bauen zwei seiner Angestellten einen Paravent um uns auf, der eigentlich um die Garderobe steht. Enzo ist mit einer Frau aus Kamerun verheiratet.