Bei uns in der Familie gilt beim Thema Weihnachtsbaum Teamwork. Meistens suchen wir (zwei Erwachsene, zwei Kinder) gemeinsam einen Baum aus. In unserer Berliner Zeit haben wir aus Verlegenheit schon einmal bei einem Baumarkt zugegriffen. Aber seit wir in Franken leben, steuern wir immer den gleichen Christbaumhof an. Hier gibt es nicht nur Nordmanntannen und Blaufichten in Hülle, Fülle und allen Größen, sondern auch heiße Waffeln und Glühwein. Wir lassen uns Zeit. Das sollte man bei der Wahl des Baumes immer tun. Vier, sechs oder acht Augen sehen mehr als zwei. Gerade in Sachen Weihnachtsbaum ein Rat, den ich gerne teile.
Stressig, aber vor allem schön. Das waren die Weihnachten meiner Kindheit. Kurz vor den Feiertagen ging es in der Bäckerei meines Vaters im wahrsten Sinne des Wortes heiß her. Es duftete nach Stollen und Spekulatius, die Konditoren hatten – damals wirklich noch mit den eigenen Händen – kleine Kunstwerke wie Würfel und Schneemänner aus Marzipan geformt und mit dunkelbrauner Kuvertüre verziert.
Das war für Kinder paradiesisch, wie sich die Leserinnen und Leser denken können, bedeutete für meinen Vater und seine Leute aber harte Arbeit. Am Tag vor Heiligabend ging es um acht Uhr abends los in der Backstube. Die ganze Nacht hindurch wurde geschuftet, damit die Kunden, wie mein Vater immer zu sagen pflegte, über die Feiertage genug Kuchen, Brot und Brötchen hatten. Bis zwölf Uhr hielt der Trubel an, dann schlossen unsere Backläden. Mein Vater machte die Abrechnungen, dann legte er sich erstmal schlafen, bis kurz vor der Bescherung.
Ich weiß nicht genau, wie er es angestellt hat, auf alle Fälle besorgte mein Vater jedes Jahr auch unseren Weihnachtsbaum. Zwischendurch, von irgendeinem Hof irgendeines Kunden. Warum er das nicht schon Tage eher tat, wie meisten anderen Väter, oder warum nicht unsere Mutter einfach losging, um den Baum zu organisieren, sind gute Fragen, die ich im Nachhinein nicht klar beantworten kann.
Feststeht: An jedem Heiligabend stand mittags ein Tannenbaum in unserem Wohnzimmer. Bevor meine zwei jüngeren Geschwister (Schwester und Bruder) und ich mit dem Schmücken begonnen, inspizierte unsere Mutter den Baum kritisch. Sie fand immer etwas, das ihr nicht passte: „Der Baum ist krumm, guck mal, wie schief der ist.“ Oder: „Einen kleineren konntest du wohl nicht finden?“ Oder: „Schaut mal, wie kahl der ist. Der hat oben überhaupt keine Zweige. Da gibt es nichts zu schmücken.“ Mein Vater nahm das meistens kommentarlos hin. Manchmal antwortete er aber: „Es gab keinen anderen Baum mehr. Das war der schönste, den sie hatten.“ „Das kann ich mir nicht vorstellen“, antwortete unsere Mutter. „Du kannst ihn ja nächstes Jahr gerne besorgen.“ „Das mach ich auch.“ Machte sie aber nie – zumindest nicht, bevor ich erwachsen wurde. Der Weihnachtsbaumstreit setzte sich all die Jahre fort, bis wir irgendwann nach dem Tod meines Großvaters in dessen riesiges Bauernhaus umzogen.
In meiner Erinnerung war der Streit um den Baum harmlos. Ein wiederkehrendes Spiel, das zu unserem Heiligabend gehörte wie das „Oh du Fröhliche“ beim Gottesdienst, das helle Glöckchen, das zur Bescherung läutete und die Bockwurst mit Kartoffelsalat. Ich vermute, dass meine jüngeren Geschwister diese Streitereien bedrohlicher fanden. Meine Schwester beteuerte jedem gnadenlosen mütterlichen Urteil entgegen, wie schön sie den Baum fände, und stellte sich damit demonstrativ an die Seite unseres Vaters. Es besteht kein Zweifel daran, dass unsere Mutter es genoss, meinen Vater wegen der für ihren Geschmack krummen, kahlen und kleinen Bäume alljährlich aufzuziehen. Ob ihr die Bäume tatsächlich missfielen, bleibt ihr Geheimnis.
Dann kam das Weihnachten, bei dem ich die Sache in die Hand nahm. Es sollte der – neudeutsch – Gamechanger sein. „Mama, dieses Jahr besorgen wir den Weihnachtsbaum“, sagte ich eines Tages noch vor dem Heiligabend entschlossen. Bevor sie sich versah, saßen wir schon in ihrem alten Volvo. Das war ein Schiff von einem Auto, mit Platz genug für den Weihnachtsbaum der Weihnachtsbäume, der stattlich, üppig begrünt und kerzengerade sein sollte. Sogar die Rücksitzbank hätte ich schon eingeklappt. Es sollte nichts schiefgehen.
Wir fuhren zu einer großen Plantage am Teutoburger Wald. Es hatte frisch geschneit. Die Temperaturen waren tatsächlich so frostig, dass der Schnee liegen blieb. Im Radio lief wahrscheinlich „Last Christmas“, und die Stimmung war dem Anlass angemessen feierlich: Meine Mutter sollte zum ersten Mal unseren Weihnachtsbaum aussuchen.
Wir parkten und liefen dann die endlosen Reihen von Tannenbäumen ab. Es war eine große Plantage, die zu einem Gut gehörte. Ich ließ meiner Mutter den Vortritt und hielt mich im Hintergrund. Sie sollte ganz frei den richtigen Baum, den Weihnachtsbaum der Weihnachtsbäume, finden. Nach wenigen Minuten blieb sie plötzlich stehen. „Der hier ist es“, sagte sie. Ich blieb stehen. „Welchen meinst Du?“, fragte ich. „Na der hier.“ Sie zeigte auf einen Baum direkt neben ihr. Der war zwar zweifellos gleichmäßig gewachsen, aber kaum größer als einen Meter dreißig. Ich stellt mir unser riesiges Wohnzimmer vor. Wie verloren das Bäumchen dort wirken musste. „Der Baum soll es sein? Bist du sicher? Wollen wir nicht nochmal dahinten schauen, da sind noch viel …“. „Nein“, sagte sie bestimmt und sah mich an. Ich schluckte und starrte zurück: „Mama, wir haben ein riesiges Auto dabei, alle Zeit der Welt, und du entscheidest dich nach fünf Minuten für diesen Zwerg?“ „Jawohl“, antwortete sie entschieden und sah mich herausfordernd an. Ich versuchte es noch einmal: „Du weißt, was Papa sagen wird …?“ „Ja“, antwortete sie mit einem Blick, der keinen Zweifel ließ, dass sie das ganz genau wusste. Also nahm ich die Säge und besiegelte das Schicksal des Bäumchens.
Wir brachten ihn zur Kasse. Dort wurde er in eines dieser Netze gestülpt, die ihn wie ein Regenschirm zusammenfalten, damit man ihn besser transportieren kann. Jetzt konnte ich ihn mit einer Hand tragen. Er passte quer ins Auto. Von dieser Größe hätten mindestens zwanzig Bäume hineingepasst. Das Umklappen der Bank hätte ich mir sparen können. „Uiii, der ist aber wirklich klein“, kicherte meine Mutter, als sie den Baum im Kofferraum sah.
Es wurde Heiligabend. Wir stellten den Baum im Wohnzimmer auf. Meine Schwester flüsterte mir vorwurfsvoll ins Ohr: „Wieso habt ihr so einen Zwerg gekauft?“ Ich zuckte die Schulter und deutete auf unserer Mutter. Dann kam der Moment der Wahrheit. Mein Vater betrat den Raum. Er sah den Baum und stutzte. Es war ganz still. Meine Geschwister hielten den Atem an. Dann sah er meine Mutter an, die herausfordernd grinste. Mein Vater warf noch einen Blick auf den Baum, sah meine Mutter noch einmal aus den Augenwinkeln an, schüttelte den Kopf, grinste ebenfalls und verließ ohne ein Wort den Raum. Seit diesem Tag kann ich mich an keinen Weihnachtsbaumstreit mehr erinnern.
Am vergangenen Wochenende haben wir unseren Weihnachtsbaum geholt. Wir, das waren in dem Fall meine Tochter Frida (8) und ich. Meine Frau blieb mit unserem kranken Sohn Theo (10) zuhause. Es hatte gefroren, ich fuhr sehr langsam zu dem fränkischen Christbaumhof. Wir parkten, ich griff eine Säge und wir stapften los. Im vorderen Teil der Plantage herrschte schon Kahlschlag. Wir liefen eine Weile, da machte ich Frida auf einen Baum aufmerksam. „Schau mal, der da, der hat eine ganz krumme Spitze.“ „Wollen wir den nehmen?“ „Nee, so schön ist der nicht und außerdem viel zu hoch.“ Also stapften wir weiter über den gefrorenen Boden. „Papa, der da, der ist toll!“ rief das Kind und zeigte auf einen üppig gewachsenen Baum – mit einer krummen Spitze. Einige Leute sagen Frida große Ähnlichkeit mit ihrer Großmutter nach. „Den findest du gut?“ fragte ich nach. „Ja, der sieht super aus.“ „Obwohl er eine krumme Spitze hat?“ „Ja, genau wegen der Spitze finde ich ihn toll!“ Also setzte ich die Säge an. Der Baum steht jetzt in sein Netz verpackt im Carport. Ich freue mich auf Heiligabend.