Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Das Fest, ein Kraftakt

Mit Weihnachtsbaum auf dem Nachhauseweg
Mit Weihnachtsbaum auf dem Nachhauseweg

Weihnachten mit hohem C

Wir hatten es uns so schön ausgemalt: Das erste halbwegs normale Weihnachten seit Beginn der Pandemie, die Großeltern im Haus, der Baum bei einem gemeinsamen Adventsevent mal wieder selbst geschlagen und nicht verschämt mit FFP2-Maske schnell im Baumarkt gekauft. Die Kinder gesund, das Haus geputzt, doch wir haben die Rechnung ohne das hohe C gemacht. „Der Papa hat Corona, da ist ein zweiter Strich auf seinem Test“, rief meine Mutter am 17. Dezember aufgeregt ins Telefon. „Chiara, ich muss aufhören, das erwischt uns grade eiskalt.“ In meinem Kopf rattere ich die Daten zusammen, 17 plus X ist gleich … Mist, auf jeden Fall zu wenig Zeit, um zusammen Weihnachten zu feiern. Inzwischen liegen beide Eltern flach, und wenn sie so lange positiv sind, wie wir es im Sommer waren, dann mindestens bis Silvester.

Seit der Pandemie ist bei uns weihnachtsmäßig der Wurm drin. 2020 haben wir uns allesamt zerstritten, weil ich schwanger mit unserem zweiten Sohn und sehr vorsichtig in Bezug auf Corona war. Testen war noch nicht üblich. Als meine Schwester, die im Gesundheitssektor arbeitete, spontan bei meinen Eltern vor der Tür stand, weil sie sich mit ihrem Freund verstritten hatte, ergriff ich panisch die Flucht. Lauter Wortwechsel, traurige Gesichter, ein verschnupftes Weihnachten.

Im vergangenen Jahr eröffnete uns mein Schwiegervater beim ersten Biss in den Weihnachtsbraten, dass er am Morgen einen positiven Test gehabt hatte, die zwei Tests danach seien aber negativ gewesen. Auch hier: Tränen, fluchtartiger Aufbruch, böse Worte und Enttäuschung auf beiden Seiten. Unser Baby hatte gerade zehn Tage das RS-Virus hinter sich, das auch in diesem Jahr wieder grassiert und die Kinderstationen in den Ausnahmezustand versetzt.

In diesem Jahr sind wir schon abgestumpft. Wir haben die Geschenke für meine Eltern in ein großes Paket verpackt und ein paar Smileys obendrauf gemalt. Wir haben gelernt, mit dem Virus zu leben, so traurig das ist. Wir haben akzeptiert, dass es unberechenbar ist, dass es schlummert und angreift, noch bevor Tests zwei Striche zeigen. Dass ein keine Garantie gibt, sich nicht zu infizieren, wenn man sich in einer Gruppe trifft. Wir werden es uns Weihnachten trotzdem schön machen, extra laut singen und mit einem Videoanruf die fehlende Nähe zumindest ein wenig ersetzen. Und vielleicht feiern wir nächstes Jahr einfach im Sommer.

(Chiara Schmucker)

Könnte bitte jemand eine Decke über mich und die Weihnachtszeit werfen?

Früher habe ich mich darüber aufgeregt, wenn es den Großeltern zu lästig war, die Weihnachtsgeschenke einzupacken. Dabei hatten sie es super bequem. „Kauft ihr etwas in unserem Namen für die Kinder? Wir geben euch das Geld zurück.“ Taten wir. Sie mussten es nur einpacken, an die glücklichen Enkelkinder übergeben und sich an ihren strahlenden Gesichtern erfreuen. Aber das Einpacken schien sie zu überfordern. In einem Jahr wünschte Lara sich ein FurReal-Pferdchen. Am ersten Weihnachtstag stand es unter dem Christbaum und meine Schwiegermutter hatte einfach lieblos eine Decke darüber geworfen. Ein anderes Jahr war es ein kleinerer Rucksack, der gefaltet problemlos hätte verpackt werden können und über den ebenfalls nur eine Decke geworfen wurde. Damals habe ich mich geärgert. Für Kinder gehört das Auspacken zum Weihnachtszauber dazu. Der spannendste Moment überhaupt! Man will das Päckchen schütteln und drücken. Ist wirklich das darin, was ich mir gewünscht habe? Man will die Sekunden der Enthüllung zelebrieren. Obwohl es schon so viele Jahre her ist, kann sich Lara (18) an ihre Enttäuschung, dass man ihr diese Vorfreude genommen hatte, noch sehr genau erinnern.

Meine eigene Mutter machte es nicht besser. Sie verwendet bis heute mit Vorliebe Geschenktüten und verzichtete ebenfalls größtenteils auf das zusätzliche Einpacken. Also versorgte ich für alle die Geschenke, packte sie ein und beschriftete die Päckchen mit Namen, um Verwechslungen zu vermeiden. 

In diesem Jahr kann ich meine Schwiegermutter und meine Mutter verstehen. Weihnachtsdeko aus dem Keller holen. Geschenke kaufen und einpacken. Plätze zum Verstecken finden und – noch wichtiger – sich an diese Plätze später wieder erinnern können. Einkäufe im vollen Supermarkt erledigen. Den Baum schmücken. Nach all den Jahren – die Kinder inzwischen groß, der Zauber der Weihnacht verflogen – empfinde ich diese jährlich wiederkehrenden Tätigkeiten als ermüdend und anstrengend. Tradition hin oder her.

Wenn es nach mir ginge, würde ich dieses Jahr am liebsten über die gesamte Weihnachtszeit eine Decke werfen. Ich bin so schrecklich müde und erschöpft. Die Weihnachtsgeschenke für meine Töchter habe ich fast alle online bestellt. Ich bat Maya (15) um Hilfe: „Kannst du wenigstens Laras Geschenke einpacken? Ich muss hier noch so viel tun.“  Doch Maya schüttelte den Kopf. „Weißt du wie gestresst ich gerade bin? Ich habe wirklich keine Zeit.“

Seit November grassieren die Viren in allen möglichen Varianten. Irgendjemand im Haus ist immer gerade verschnupft, fühlt sich unwohl, hustet oder ist heiser. In einer Woche saßen in Mayas Klasse von neunundzwanzig gerade mal zehn (halbwegs) gesunde Kinder. Den kompletten versäumten Unterrichtsstoff nachzuarbeiten, ist so gut wie unmöglich.  Maya schrieb in der letzten zwei Schulwochen vier Arbeiten. Der ständige Unterrichtsausfall durch kranke Lehrer nervt, weil dadurch die Arbeiten teilweise verschoben wurden und sich stauten. Neben der Schule liefen andere wichtige und zeitaufwendige Dinge. Maya betreibt Kunstlauf im Verein. Das gesamte letzte Wochenende war sie bei den Aufführungen eingespannt, für die Wochen und Monate vorher intensiv geprobt wurden. Drei Tage voller Adrenalin, ohne Zeit für irgendetwas anders.

Lara macht nächstes Jahr Abi und steckte im Dezember in der Klausurphase. An ihrer Zimmerwand hängen riesigen Plakate über Chromosomenmutationen, DNA-Informationen und Zuckermoleküle. An den Wochenenden geht sie arbeiten, um sich etwas dazuzuverdienen. Wenn sie dann nachmittags nach Hause kommt, ist sie meistens so kaputt, dass sie bis abends schläft. Ich arbeite zurzeit die Nächte durch, weil ich meine Abgabetermine sonst nicht schaffe. Die gesamte Familie pumpt sich mit Vitaminen voll und hofft, nicht komplett schlappzumachen. Von besinnlicher Vorweihnachtszeit ist in unserem Haus nichts zu spüren. Gemütliches Adventsfrühstück? Plätzchen backen? Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt schlürfen? Dazu fehlte uns bisher allen die Zeit und Energie. Es gab kurze Einheiten, wie der Weihnachtsmarktbesuch mit Maya nach dem Kieferorthopäden-Termin. Sie verdrückte ihr Crêpe und drängelte dann: „Mama, ich muss unbedingt heute noch Französischvokabeln üben, und du hast versprochen, mir bei Mathe zu helfen.“

Vor zwei Wochen nahm ich mir die Zeit, die ich eigentlich nicht hatte, und fuhr zu meiner Mutter. Wir waren frühstücken, und anschließend beriet ich sie beim Geschenkeeinkauf. Es war ein verregneter Montagvormittag. Die Stadt war menschenleer und alles entspannt. „Soll ich ihnen die Sachen weihnachtlich verpacken?“, fragte die Verkäuferin an der Kasse. Meine Mutter und ich nickten dankbar. „Ja, sehr gerne und wenn sie die Päckchen noch mit Namen beschriften könnten, wäre das großartig.“

(Sonia Heldt)

Gnadenbringende Weihnachtszeit

Ehrlich gesagt, kann mir Weihnachten dieses Jahr jetzt gerade gestohlen bleiben. Am Montag habe ich erfahren, dass ein Projekt, in das ich seit anderthalb Jahren sehr viel Energie und Enthusiasmus gesteckt habe, am Jahresende eingestellt wird. Angeblich finden sich keine Investoren, Ukraine-Krieg und Corona sind schuld. Die Geschäftsführung hat das den freien Mitarbeiter in einer Mail mitgeteilt, die so kalt formuliert war, dass Wladimir Putin wahrscheinlich anerkennend genickt hätte.

Wenn ich an meine Kollegen denke, von denen einige rechnerisch meine Kinder sein könnten, wird mir übel. Sie haben kurz vor Weihnachten diese Hiobsbotschaft bekommen und wissen nicht, wie sie ab Januar ihre Miete bezahlen sollen. Einer ist erst im November Vater geworden. Der Schlag in ihr Kontor ist so viel härter als bei mir. Darüber könnte ich froh sein und denken, nun sei mal happy mit dem, was du hast. Aber so bin ich nicht. Nein, bei mir kommt keine Weihnachtsstimmung auf.

Dabei sind wir in diesem Jahr so gut vorbereitet wie lange nicht. Die Adventskalender für unsere Kinder hingen tatsächlich schon vor dem 1. Dezember – komplett gefüllt. Die Weihnachtsgeschenke sind schon im Sack, die Essensfrage ist mit Raclette für alle zufriedenstellend beantwortet, und den Weihnachtsbaum haben meine Tochter und ich schon vor Wochen besorgt. Die Weihnachts-Playlist von Rolf Zuckowski bis George Michael läuft bei uns in Dauerschleife. Alles paletti, die Infrastruktur funktioniert. Dumm nur, dass unsere komplette Familie – meine Frau, unsere beiden Kinder (8 und 10 Jahre alt) und ich – in der Vorweihnachtszeit fast zwei Wochen krank zuhause waren. Alle waren nölig, genervt und verschnupft. Die Aussicht, in ein paar Wochen endlich Quality Time mit der Familie zu haben, war für mich ähnlich verlockend wie eine Nebenhöhlenentzündung …

Angesichts von Hiobsbotschaften kommt der Mensch ins Grübeln. Ich zumindest tue das, wenn ich aus heiterem Himmel erfahre, dass ich einen mir sehr wichtigen Job verloren habe. Dann kommen mir merkwürdige Dinge in den Sinn. Ich frage mich, welcher Impuls die Erinnerung an ganz konkrete Situationen auslöst. Ich habe keine Antwort darauf. Diese kam mir auf einer Fahrt zur Autowerkstatt. Im Radio lief keine Weihnachts-, sondern eine 80s-Playlist, vielleicht war es das.

Vor fast dreißig Jahren, kurz vor dem Abitur, hatten wir ein Kurstreffen mit unserer Mathe-Lehrerin. Die Frau war fast 60 und in ihrem Job weder gut noch beliebt. Ihr schlechter Ruf eilte ihr voraus. Weil wir aus irgendeinem Grund auf dieses Kurstreffen drängten, lud sie uns schließlich zu sich nach Hause ein. Sie lebte allein in einer Wohnung in einem Mehrfamilienhaus. Sie hatte sich richtig ins Zeug gelegt. Unter anderem servierte sie uns eine köstliche Gazpacho, die erste meines Lebens. In ihrer Küche hingen viele Urlaubspostkarten aus den unterschiedlichsten Ländern. Mensch, die gute Frau kennt ja doch einige Leute, dachte ich. Dann sah ich mir die Karten genauer an. Sie hatte sich alle selbst geschrieben, von jeder einzelnen ihrer einsamen Reisen. Nicht eine einzige war von jemand anderem. Jede begann mit den Worten „Liebe Erika…“

Das menschliche Gehirn sucht sich einen Weg, um mit einer bestimmten, unangenehmen Situation klarzukommen. Davon bin ich überzeugt. Unser Sohn Theo geht seit dem Sommer aufs Gymnasium. Seit dem Sommer hat er ein Handy. Seit dem Sommer hat er sich verändert. Seit einigen Wochen spielt er wieder mit Dingen, die er seit fast zwei Jahren nicht mehr in die Hand genommen hat, mit Drachen und Schleich-Figuren. Auf seinem Wunschzettel fürs Christkind, an das er selbst nicht mehr glaubt, seiner Schwester zur Liebe aber mitmacht, stehen entsprechende Geschenkewünsche. Sein Leben ist neu, sein Alltag anders. Darum greift der Junge zwischen dem Berechnen von Termen und den Englisch-Vokabeln auf Bekanntes zurück, um wieder etwas fester auf dem Boden zu stehen.

Seine Schwester Frida zählt seit Wochen die Tage bis zum Heiligabend: „Wann stellen wir den Baum auf, Papa?“ Als wir am Sonntag die vierte Kerze angezündet haben, hat sie vor Freude gejuchzt. Gleich werde ich in den Keller gehen und den Weihnachtsbaumständer hochholen. Wir stellen ihn heute Abend auf, geschmückt wird er am Heiligabend, während im Hintergrund die Weihnachts-Playlist laufen wird. Was ist es für ein Glück, Weihnachten nicht allein zu sein.

(Matthias Heinrich)