Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Elternzeit ist nichts für Romantiker

Dirk ist ein alter Freund. Mit Mitte vierzig wird er zum ersten Mal Vater. Wie jeder moderne Mann spielt auch Dirk mit dem Gedanken, Elternzeit zu nehmen. Die Frage ist: wie lange und wann? Dirk hat mich nach meinen Erfahrungen gefragt. Bei unseren Kindern Theo (heute zehn Jahre alt) und Frida (acht) habe ich jeweils ein halbes Jahr Elternzeit genommen. Im Rückblick bin die Sache damals sehr naiv angegangen.

Manchmal ist es ganz schön viel. Meistens mehr, als man gedacht hat.
Manchmal ist es ganz schön viel. Meistens mehr, als man gedacht hat.

Wir zogen aus Niedersachsen nach Berlin. Dort arbeitete meine Frau. Uns war klar, dass unser künftiger Lebensmittelpunkt Berlin sein sollte. Mit etwas Glück fanden wir eine bezahlbare Vier-Zimmer-Wohnung mit Balkon in Baumschulenweg, Bezirk Treptow-Köpenick. Im Sommer zogen wir um. Im September fing meine Frau wieder an zu arbeiten, und ich war allein für den inzwischen sieben Monate alten Theo zuständig. Meine Vorstellung, wie ich die nächsten Monate bis zur Eingewöhnung in die Kita-Zeit verbringen wollte, war sehr konkret: Joggen gehen (wir hatten einen entsprechenden Kinderwagen), andere Eltern – vor allem andere Väter – kennenlernen, die Stadt erkunden und viel in Cafés rumhängen. Sprich: Jede Menge Quality-Time für mich, und das Kind läuft so mit. Ein spitzenmäßiger Plan, der grandios scheiterte.

Theo benötigt viel Aufmerksamkeit. Er hat einen dominanten Charakter. Beides zeichnete sich früh ab. Schon als Neugeborener war er nachts gerne mal für mindestens eine Stunde wach und wollte beschäftigt werden. Bevorzugt dann, wenn ich (meine Frau musste ja morgens wieder zur Arbeit) gerade in die Tiefschlafphase eingetaucht war. Das zog der Junge mit nahezu preußischer Konsequenz durch. Gerädert vom Schlafentzug brauchte ich vormittags meine Zeit, bis ich in den Quark kam.

Die Museumsinsel und der Alexanderplatz sind ohne Zweifel sehenswerte Orte in Berlin, aber nicht für Väter mit Babys. Das war mir nach dem ersten Besuch klar. Außerdem musste ich mehrfach das Verkehrsmittel wechseln, was mit Kinderwagen kein Spaß ist. Vor allem überfüllte Busse lernte ich schnell zu meiden. Kreuzberg und Neukölln, wo ich hoffte, andere Väter in meiner Lebenssituation zu treffen, waren deshalb raus.

Ich beschränkte mich also auf unseren „Kiez“. Im Plänterwald und Treptower Park konnte ich joggen und spazierengehen. Aber soziale Kontakte konnte ich hier kaum knüpfen. Anders als Prenzlauer Berg, Friedrichshain und Mitte war Baumschulenweg im Jahr 2013 noch nicht gentrifiziert. Hier wohnten fast ausschließlich Menschen, die hier schon immer lebten. Die Durchschnittsmiete pro Quadratmeter betrug im Herbst 2013 5,80 Euro. Zwar gab es Familien, Kitas und Spielplätze, aber keine Väter, die Elternzeit machten. Erst Familien wie unsere änderten das.

Trotzdem mussten Theo und ich irgendwie was machen. Darum nutzte ich jedes Angebot. Im Kiez gab es ein Jugend- und Familienzentrum. Dort fand donnerstags ein Familienfrühstück statt. Also packte ich Theo ein und ging hin. Es war ein grauer Oktobertag, einer von der Sorte, an dem es nicht richtig hell wird. Wir waren früh dran, außer uns war niemand da. Also frühstückten wir und warteten. In der nächsten Stunde blieben wir allein. Allein bei einem Familienfrühstück in Baumschulenweg in Berlin. Niemals habe ich mich einsamer gefühlt. Nur der Regen leistete uns Gesellschaft. Uninspiriert, aber stetig prasselte er an die Fensterfront des Cafés. Dann öffnete sich doch noch die Tür. Ein junges, unsicheres  Mädchen kam herein. Ihr Sohn war ein paar Monate älter als Theo. Wir legten die beiden zum Spielen auf eine Matte. Theo sah dem anderen Kind beim Krabbeln zu. Wir unterhielten uns. Sie war Studentin, 20 Jahre alt und einsam. Dass sie ein Baby bekommt, war nicht geplant. Jetzt versuchte sie ihre Tage, so gut es ging, herumzubekommen, während der Vater des Jungen arbeitete. Verheiratet waren sie nicht. Dann erzählte sie, dass sie nicht viel von Ärzten hielt. Einmal hatte sie ihren kranken Sohn zwei Tage lang mit über 40 Grad Temperatur ohne Saft oder anderes Gegenmittel fiebern lassen. Nein, das war nicht die Art von Bekanntschaft, die ich mir vorgestellt hatte. Später traf ich sie noch ein paarmal im Kiez. Wir grüßten uns, mehr nicht.

Ich gab aber nicht auf. Im Veranstaltungskasten las ich, dass es in der Kirchengemeinde eine Krabbelgruppe gab. Hoffnungsvoll gingen wir hin. Als wir den Gruppenraum betraten, wollte ich auf der Stelle wieder umdrehen. Elf Augenpaare sahen mich überrascht an. Elf Frauen, nicht ein Mann darunter. Jede einzelne wirkte noch frustrierter als ich. Ich kam mir vor wie in einem Film von Til Schweiger oder Matthias Schweighöfer. Nur, dass diese Szene für Theo und mich sechzig Minuten dauerte. Auch mein Sohn fühlte sich unwohl unter den halbnackten Kindern in dem Kreis, den elf Mütter und sein Vater um sie gezogen hatten. Keine Chance zu entkommen. Wir gingen nie wieder hin.

Natürlich habe ich meinem Freund Dirk von diesen Erlebnissen erzählt. Wir haben viel gelacht und auch den Kopf geschüttelt. Beides sind Erinnerungen an die Elternzeit, die mir besonders im Gedächtnis geblieben sind. Dabei hatten Theo und ich vor allem gute Zeiten. Wir spielten viel. Ich las und sang ihm vor, und ich redete offenbar überhaupt viel mit ihm. Er konnte vielleicht auch deshalb früh sprechen. Als er in die Kita kam, änderte sich vieles. Die Eingewöhnung lief normal, allmählich lernte ich andere Eltern kennen – wieder fast ausschließlich Mütter. Wir verabredeten uns, zum Kaffee oder zum Spielplatz. Einige sind bis heute unserer Freunde.

Die zweite Elternzeit – sechs Monate mit unserer Tochter Frida – habe ich als wesentlich entspannter in Erinnerung. Unsere Infrastruktur war inzwischen besser. Wir gingen viel spazieren, vor allem weil sich Frida in der Manduka-Trage pudelwohlfühlte. In dieser Zeit lernte ich Hörbücher und Podcasts zu schätzen. Wie ihr Bruder hat auch Frida ein sehr inniges Verhältnis zu mir entwickelt.

Die Elternzeit ist eine hervorragende Sache, für die ich dem Staat dankbar bin. Dass Väter (und Mütter) so ohne größere finanzielle Einbußen ein paar Monate mit ihren Kindern verbringen können, ist eine einmalige Möglichkeit, die ich jedem empfehlen kann. Ob es zwei Monate sind, wofür sich die meisten Väter entscheiden, oder mehr wie bei uns, ist letztlich Wurscht. Um die Beziehung zwischen Kindern und Vätern zu vertiefen, ist diese Zeit eine große Chance. Allerdings sollten sich Väter keine romantischen Illusionen machen: Elternzeit ist harte Arbeit. Die Konversation ist sehr einseitig. Ich war oft den ganzen Tag über allein. Das hatte ich unterschätzt. Speziell in unserem Fall war das so, weil wir keine Großeltern oder andere Unterstützung vor Ort hatten. Wenn das Baby nach einem langen Spaziergang mit ununterbrochenem Geschrei endlich eingeschlafen ist, du tief durchatmest und im Café das Buch aufschlägst, um ducrhzuatmen. Und dein Kind just in dem Moment, in dem dein Cappuccino kommt, wieder wach wird und nicht nur die Windel voll ist, dann bist du gefordert. Das Gute ist, dass es (fast) allen so geht in der Elternzeit – Müttern wie Vätern.