Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Auf gepackten Koffern

„Und was macht ihr mit all euren Sachen?“ Ich höre die Ungläubigkeit in der Stimme meiner Mutter. „Naja, wir werden viel verkaufen, verschenken, vielleicht was einlagern, aber schon auch ein paar Sachen mitnehmen“, sage ich. Ich verstehe, warum sie besorgt klingt. Wir ziehen ins Ausland um, in wenigen Monaten schon – und müssen vorher ein dreistöckiges Haus mit Keller ausräumen. Was wir mitnehmen wollen, muss am Ende in einen Container passen.

Wir sind weder Messies noch Minimalisten, wir haben, was eine Familie mit zwei kleinen Kindern braucht. Dachte ich. Denn seit ich Keller, Spielzimmer und unsere vielen Schränke durchforste, merke ich: Wir haben sehr viel, was man eigentlich gar nicht braucht, sondern was sich still und heimlich Schritt für Schritt bei uns angesammelt hat. Der geschenkte (Zweit-)Schlitten, die unzähligen Matschhosen und Gummistiefel, die Spiele, an denen unser Großer nicht vorbeigehen konnte, als die Nachbarn im Lockdown ihre „zu Verschenken“-Kisten auf die Straße stellten. Ausgedehnte Bücher- und DVD-Regale und massenweise „vielleicht brauchen wir das irgendwann doch einmal“-Dinge.

Als mein Mann und ich frisch zusammen waren, hatten wir großen Spaß daran, einander zu zeigen, was uns geprägt hat. Wir wollten einander die Lieblingsfilme unserer Kindheit und Jugend zeigen und schenkten einander unsere Lieblingsbücher, damit der andere etwas von unserer Welt erfahre. Wir warteten sehnsüchtig auf den Moment, in dem der Partner mit strahlenden Augen verkündete, dass er unsere Begeisterung uneingeschränkt teile. Die Wochenenden verbrachten wir gerne in Plattenläden. Wir schlenderten und blätterten durch die Papierhüllen und präsentierten uns später an der Kasse stolz unsere Funde. Wir wollten gemeinsame Erinnerungen schaffen an gemeinsame Tage an besonderen Orten.

Über die Jahre wurde es ein Sport für uns, liebevoll ausgewählte Geschenke in möglichst irreführenden Verpackungen zu verschenken, einfach um das Gesicht des anderen beim Auspacken zu sehen. So erhielt ich Karten für ein Muse-Konzert in einem Reiseprospekt über eine Flussfahrt an der Loreley, ein andermal mussten Heino oder „Dirty Dancing“ herhalten. All diese Dinge, eigentlich nur als Witz eines Augenblicks gedacht, blieben in unserem Besitz. Während der Corona-Pandemie konnten wir uns von gar nichts trennen. Die Welt um uns herum schien im Chaos zu versinken, wir brauchten unsere Sachen wie einen Anker. Doch jetzt ist Zeit für einen Abschied, und mit einem Ziel vor Augen fällt es uns leicht wie nie.

Wir tun jetzt, was die japanische Aufräumexpertin Marie Kondo immer „das große Aufräumfest“ nennt, was in Wahrheit eher einem Ausräumfest gleichkommt. Ich habe damit vor einigen Jahren meinen Kleiderschrank auf ein Drittel reduziert und elf volle Säcke in die Kleiderkammer gefahren. Und ich dachte schon davor, ich hätte nicht viele Sachen.

Ich habe schon alle Bücher und Filme aus meinem Studium in diverse Bücherschränke sortiert, die Sammlungen zu Psychologie, Nachkriegsfilmen und meine Sprachlernbücher in Arabisch. Kurz war ich sentimental, dachte, ob ich sie nicht vermissen würde. Dann war es nur Befreiung. Platz geschaffen für einen Neuanfang Tausende Kilometer entfernt. Die gesamte Winterausrüstung ist kürzlich in die Türkei zu den Erdbebenopfern gefahren.

Unsere Kinder sind viereinhalb und anderthalb Jahre alt und fühlen sich sehr wohl in ihren angestammten Besitztümern. Ob der Dino mit dem abgebrochenem Bein oder das Buch mit den abgerissenen Klappen: Sie lieben, was sie haben, und denken gar nicht daran, sich von irgendetwas zu trennen.

Dass wir ins Ausland ziehen, weiß selbst der Große bislang nur vage. Als er neulich einmal zufällig fallenließ, dass er gerne einmal mit einem richtig großen Flugzeug fliegen wolle, haben wir das gleich genutzt. „Oh ja, das machen wir“, riefen mein Mann und ich wie im Chor. „Das ist eine ganz wunderbare Idee. Und dann suchen wir uns dort ein Haus und nehmen dein ganzes Lego mit oder verkaufen es hier und kaufen dort Neues, wie würde dir das gefallen?“ Er war begeistert.

Am Tag darauf weinte er nach dem Kindergarten. „Ich will nicht weg von meinen Freunden.“ Unser Plan, alles ganz easy und cool erscheinen zu lassen, hatte die ersten Risse erhalten.

Seither gehen wir behutsamer mit dem Thema um, bedachter und umsichtiger. Wir haben die Kita ins Boot geholt und Bücher gekauft, in denen Kinder aus aller Welt ihr Zuhause zeigen, ein Weltkartenpuzzle und einen großen Tieratlas. Wir haben Max zu einem Englischkurs angemeldet, damit ihm der Start leichter fällt im internationalen Kindergarten. Alle anderen Hobbies haben wir aus seinem Nachmittagsprogramm gestrichen, weil er so viel Zeit wie möglich im Kindergarten mit seinen Freunden verbringen will.

Wir bereiten Fotobücher vor und besprechen mit ihm zusammen, welche Spielsachen er am allerliebsten mag. Sein Bett mit dem Zeltdach ist eines der wenigen Möbelstücke, die uns begleiten werden. Ich habe ihm versprochen, nichts wegzugeben, ohne mit ihm darüber zu sprechen, und werde dieses Versprechen zumindest in Bezug auf die Spielzeuge halten, die aktuell im Spielzimmer stehen. Die halb vergessenen Kisten im Keller entsorge ich klammheimlich. Die Babyspielzeuge, den Plastikkram, die Wühlboxen.  

Mein Mann und ich arbeiten mit langen Listen ab, was noch zu tun ist (Ausmisten, Sperrmüll bestellen, Pässe erneuern, Visa beantragen, Impfungen). Für die Kinder arbeiten wir eine eher ideelle Liste ab: Freunde, die wir unbedingt noch einmal sehen wollen. Spielzeuge, die wir ausgeliehen haben und noch zurückgeben wollen. Dinge, die wir hier noch einmal machen wollen (regelmäßig ins Schwimmbad gehen, ganz viel Oma und Opa sehen, noch einmal in den Zoo). Ob wir die Taufe noch schaffen, die wir im Herbst wegen Corona absagen mussten? Vielleicht.

Das Wichtigste ist unserer Meinung nach im Moment: Ruhe bewahren. Den Kindern so viel Ruhe wie möglich ermöglichen, ihren Lebensraum so lange wie möglich unberührt lassen. Erst ganz am Schluss werden wir gemeinsam für jedes Kind einen Koffer packen, die liebsten Spielzeuge hinein, die kurzen Hosen und die Schwimmflügel. Eine Tasche mit Spielsachen wird am neuen Wohnort schon auf uns warten. Und ich habe meinem Sohn versprochen, dass wir als erstes, wenn wir in der neuen Heimat angekommen sind, in einen Legoladen gehen. Er darf sich dort aussuchen, was immer er mag. Darauf freut er sich am meisten.