Das deutsche Bier wird längst nicht mehr so bewundert wie früher, sagt der Craft-Brauer Sebastian Sauer. Das Reinheitsgebot schade dem deutschen Brauwesen. Er selbst macht Bier mit Heidekraut, Mango und Fichtenzweigen. Ein Besuch am Sudkessel.
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Auf dem etwas heruntergekommenen Bahnhof von Hagen steigt in Richtung Dahl nur ein einziger Fahrgast zu, ein Angler. Später sehen wir ihn in dem kleinen Flüsschen Volme seine Köder auswerfen. Wir aber sind auf dem Weg zu anderen Wassern und schlagen den Weg zu einer kleinen westfälischen Privatbrauerei aus dem Jahr 1877 ein. Bekannt ist die Vormann-Brauerei unter anderem dafür, Craft-Brauern ohne eigene Anlage, aber mit dem Kopf voller Ideen ein vorübergehendes Versuchslabor zu bieten.
Von zwei Seelen in seiner Brust spricht der immer zum Lachen aufgelegte Inhaber Christian Vormann bei der Begrüßung in seinem Büro. Und seine Zwiespältigkeit fällt auch gleich ins Auge: Während über dem Eingang seiner Brauerei „Hopfen und Malz, Gott erhalts“ steht und am Gebäude eine Plakette mit Bekenntnis zum Reinheitsgebot haftet, wird in seinen Sudkesseln, die in der Regel Pils und Alt enthalten, von Craft-Brauern wie Sebastian Sauer Fruchtbier oder gewürzte Gose zubereitet – alkoholische Getreidetränke, bei denen der Bayerische Brauerbund die Verbotskelle heben würde. Andere Bundesländer sind liberaler und genehmigen die Erzeugung sogenannter „besonderer Biere“, die aber nach Möglichkeit traditionellen deutschen Rezepten aus den Jahren vor 1516 gehorchen sollen.
An diesem kalten Märztag bereiten Sebastian Sauer und drei befreundete polnische Brauer, die sich “Kingpin” nennen, gerade ein Bier zu, von dem beim Einmaischen noch unklar ist, ob es dem deutschen Reinheitsgebot gehorchen wird. Ein Einmachkessel zum Erhitzen von Früchten steht zumindest bereit. Heißen soll das Bier Grätzhainer, weil es einer gleichberechtigten Mischung der deutschen Biersorte Lichtenhainer mit dem polnischen Weizenbier Grätzer entspricht. Wobei das Ganze schon insofern ein bemerkenswertes Experiment ist, als beide Biere auch für sich genommen ungewöhnlich sind. Während das Grätzer aus eichengeräuchertem Weizenmalz besteht und bei nur 3,3 Prozent Alkohol auf ganze 60 Bittereinheiten kommt (das ist fast doppelt so bitter wie ein normales deutsches Pils), ist das ursprünglich aus der Nähe von Jena stammende Lichtenhainer säuerlich und verwendet buchengeräuchertes Gerstenmalz.
Warum gerade das Verhältnis 50/50, ist das nicht einfallslos? Sebastian Sauer, ein großer, selbstbewusster junger Mann mit offenem Blick und rheinischer Zunge, der mit seinen 28 Jahren bereits seit einem guten Jahrzehnt als Craft-Brauer im Geschäft ist, sagt abwinkend: “Das wird schon”. In seiner Konzentriertheit strahlt er zuweilen eine gewisse Pep-Guardiola-Haftigkeit aus: Haltet mich bitte nicht auf, wenn ihr nicht so viel über Bier nachdenkt wie ich. Sauer hat mit Anfang zwanzig ein Importunternehmen für Craftbeer und die Marke “Freigeist Bierkultur” gegründet, mit Peter Esser hat er an der Braustelle in Köln zusammengearbeitet. Seit 2015 ist er selbstständig und international inzwischen vor allem für seine ausbalancierten salzig-frischen Gosen bekannt, bei denen er, wie auch bei seinen anderen Bieren, zum Teil historische Rezepte variiert. Bei einer Jahresproduktion von 2000 Hektolitern verkauft er achtzig Prozent seiner Biere ins Ausland. Mit den meisten seiner oft säuerlichen Erzeugnisse macht er nicht nur seinem Nachnamen Ehre, sondern besetzt auch geschickt das Feld, das ihm die vielen Hopfen-Anbeter unter den Craft-Brauern überlassen.
Sauer mit Christian Vormann in der Brauerei wirken zu sehen, hat einen ganz eigenen Unterhaltungswert. Ständig wechseln zwischen ihnen die Rollen von Meister und Lehrling, wobei die kritische Distanz, die der eine zu den Bieren des anderen vorgibt, nur gespielt ist. In Wirklichkeit haben sie einen Riesenspaß auf dem gemeinsamen Abenteuerspielplatz in Dahl.
Allein die vielen unterschiedlichen Treppen in der Vormann-Brauerei! Alte Holzstiegen, ausgetretene Steintreppen und moderne Stahlkonstruktionen, die zu immer neuen Brau- und Lagerräumen führen. Meint man nach mehreren Stunden Aufenthalt, alle Schlupflöcher gesehen zu haben, ziehen Sauer oder Vormann eine neue Tür auf und führen in einen Lagerkeller, in dem getrocknete Orangenschalen in Apothekerqualität neben den üblichen Klärungsmitteln einer konventionellen Brauerei einträchtig nebeneinander liegen oder historische Rezepte in offenen Bottichen blubbern.
Mindestens hundert Jahre zurück versetzt uns ein mit Malzsäcken gefüllter Dachboden. Alles hier sieht aus wie bei Wilhelm Busch: die Säcke, die Sackkarre, der Mühlentrichter. Nur die Lagerware ist zum Teil hoch exklusiv. Sebastian Sauer braucht sie für seine Spezialbiere. Neben dem üblichen Pilsner-Malz gibt es hier Röstmalze in allen Farben und aus den unterschiedlichsten Herkunftsländern. Man gerät hier regelrecht ins Naschen. Die getrockneten Getreidekörner haben zum Teil einen erstaunlich prägnanten Charakter, schmecken nach Kaffebohnen, süßlich, gar fruchtig. Durch eine Klappe wird das Malz in eine Schrotmühle befördert, in der das gemälzte Korn fürs Maischen zerkleinert wird.
Schon eine Etage tiefer, auf Höhe der Mahlwerkzeuge, stecken wir in einer Diskussion über das Reinheitsgebot. Sebastian Sauer hat nicht das geringste Verständnis für diese im deutschen Biergesetz verankerte Einschränkung. Mindestens drei Monate im Jahr reist er als Bierforscher und -händler durch die ganze Welt. Er sagt “Ich liebe es, zu lernen” und hat aus seinen vielen Eindrücken zwei Schlüsse gezogen. Erstens: Das deutsche Bier ist unter Bierkennern in der ganzen Welt längst nicht mehr so bewundert, wie es immer heißt. Zweitens: Als Definition für “Bier” kommt für ihn nur die eine in Frage – Bier als Getränk, das durch alkoholische Gärung auf Getreidebasis erzeugt wird und ansonsten den geltenden Lebensmittelvorschriften gehorcht. Punkt. So stehe es auch in den meisten Enzyklopädien der Welt.
Wie steht er zu der Beigabe tierischer Zutaten? Die Frage lässt ihn kurz stutzen, dann fällt ihm ein, dass er gestern erst ein Bier namens “Atlantis” getrunken hat, dem Austernschalen beigegeben worden waren. Grundsätzliche Probleme hat er also nicht. Neugier ende für einen Craft-Brauer auch nicht beim Bier: “Wenn mich jemand fragt: Willst Du Schaumwein aus Birkenrinde probieren, sage ich natürlich sofort Ja!”
Im vollautomatisierten Sudhaus von Christian Vormann herrscht unterdessen gespannte Langeweile. Anders als in der übrigen Brauerei ist es mollig warm hier. Die Würze wird im Läuterbottich gerade von den Spelzen getrennt. Bis zum Kochen des Suds und zur Beigabe des Hopfens dauert es noch eine Weile. Für einen kräftigen Imbiss wechseln wir in den sogenannten Schalander, den Aufenthaltsraum der Brauer, der sich in gepflegtester Unordnung präsentiert. Auf dem Tisch steht frisches Vormann-Pils und ein sehr interessantes Malzbier mit 1,5 Prozent Alkohol. Früher nannte man so etwas Nährbier und gab es Kranken, in den letzten Jahren ist es aber fast ausgestorben. Dabei ist es in bestimmten Situationen eine sehr gute Alternative zu alkoholfreien Bieren.
“Polen wird zum Bierland”, behaupten Bartek, Michal und Marek, die drei von Kingpin, die auffälligerweise das bereitgestellte Schweinemett meiden. Und auch der Cider sei bei ihnen im Kommen, allein wegen des erheblichen Apfelvorkommens im Land. Auch Kingpin arbeitet mit einer konventionellen Brauerei zusammen. Die drei lieben das Handwerk und erzählen von ihren größten Herkulesarbeiten: Dem Schnitzen der Kürbisse für das Pumpkin-Bier und vor allem den Vorarbeiten für ihr Espressobier: für 120 Liter Kaffeekonzentrat brauchen sie zwei Tage an der Profimaschine.
Wir fragen: Ist es wirklich nötig, für manche Craft-Biere fünf verschiedene Sorten Hopfen zu verwenden? Ist das nicht eigentlich stillos? Alle anwesenden Craft-Brauer verneinen vehement. Kingpin verwendet sogar ein Rezept, bei dem sieben Hopfensorten vorgesehen sind.
Inzwischen hat der Sud in den Edelstahlkesseln die richtige Temperatur erreicht und die erste Hopfengabe kann erfolgen. Aus dem Kessel strömt wegen des hohen Rauchmalzanteils ein Geruch nach Gerstensuppe. Zwei weitere Gaben mit dem wohlriechenden, matchatee-grünen Lubliner Aromahopfen, einer Abwandlung des böhmischen Saazer, folgen noch. Anlass genug, die Brauerei mit einem Probierglas zu durchstreifen. Der Abenteuerspielplatz wird zum Bierbad.
Oder wie soll man es nennen, wenn man nach einem knackig-würzigen ungefilterten Kölsch eine Berliner Weiße zu trinken bekommt, in der mal Weinbergpfirsische schwammen? Anschließend gibt es Rhababer-Gose mit Salz und Koriander und es werden verschiedene Gruit-Biere aufgetischt, in denen Sanddorn, Bitterorangenschalen und Hagebutten ungeahnte Balancen eingehen. “Gruit Vibrations”, nennt Sauer das. Das Stout namens “Poltergeist” ist umwerfend, gefolgt von einem Dark IPA (India Pale Ale) mit Heidekraut und Orangen. Jetzt kommt das Mangobier, das Sauer trefffend “dick, prickelnd, dekadent” nennt. Die Männer von Kingpin sind begeistert, nur der anwesende Bierblogger, der nicht richtig zugehört hat, kaut eine Weile lang auf der Frage herum, woher wohl der zweite hervorstechende Geschmack in dem Bier stammt. Es sind die Fichtenzweige. Passen sie wirklich hinein? Kann etwas ohne Schaum Bier sein?
Zwischendurch will eine ältere Dame aus Ungarn, die seit einiger Zeit in der Gegend lebt, zwei bestimmte Biere von Sebastian Sauer kaufen, die sie schon kennt. Keines von ihnen ist noch vorrätig, so muss sie etwas Neues probieren.
Versöhnt sind bei der Bierverkostung alle wieder bei den tiefdunklen Altbieren, die Sebastian Sauer mit verschiedenen Früchten kombiniert hat: Heidelbeeren, schwarze Johannisbeeren. Sie sind zum Teil über ein Jahr alt und bringen es zu beeindruckender Reife. Allmählich sind wir froh, eine Fahrkarte mit Zugbindung gelöst zu haben. Dass die Uhr in der Flaschenabfüllung der Brauerei, wie sich herausstellt, gewohnheitsmäßig um eine Viertelstunde falsch geht, beschleunigt uns beim Aufbruch.
Als Merksatz nehmen wir ein Zitat von Sebastian Sauer mit: “Craftbeer brauen ist wie Hippiemusik: Man muss schon ein echter Hippie sein, sonst wird es nichts.” Das gilt wohlgemerkt für die Entschiedenheit des Produzenten. Als Konsument muss man kein Hippie sein, um vor der geschmacklichen Bereicherung inspirierter Craft-Biere den Hut zu ziehen.
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Sebastian Sauer über das Reinheitsgebot:
“Der Mythos Reinheitsgebot ist ein von vielen Seiten idealisierter Anachronismus, dem enorm viel Heuchelei und Unwahrheit innewohnt. Er ist einer der Hauptgründe dafür, dass die ehemals komplexe Bierlandschaft Deutschlands heutzutage so schmal ist, das Wissen um Bierstile bei der Bevölkerung so gering ist und deren chauvinistische Haltung gegenüber ausländischen Bieren so groß ist. Das größte Problem für mich ist aber die kreative Beschränkung, die uns mehr und mehr im internationalen Vergleich zurückfallen lässt. Es ist eben nicht so, dass die ganze Welt uns wegen des Reinheitsgebots beneidet. Wer das glaubt, sollte mal andere Länder besuchen und mit kundigen Menschen reden. Es ist für mich daher unumgänglich, die deutschen Brauer zu befreien und ihnen die gleichen Rechte zu geben wie allen anderen Brauern und Lebensmittelhandwerkern auf der Welt. Wir benötigen keine künstliche Restriktion!”