Mist, Schlüssel vergessen, wieder einmal. Leise fluchend stehe ich im Nieselregen vor der verschlossenen Damentoilette auf dem Campingplatz, viereinhalb Minuten von unserem Camper entfernt, an den nackten Zehen klebt Gras. Es pressiert – doch mir bleibt nichts anderes übrig, als den Rückweg anzutreten. Wie oft wird mir das eigentlich noch passieren? Fast drei Wochen tingeln wir schon von Campingplatz zu Campingplatz, einmal schön die australische Ostküste hoch, und immer noch fremdle ich mit dem ständigen An-alles-Denken, selbst wenn es nur für einen Boxenstopp ist. Ich stand schon ohne Handtuch in der Dusche (das habe ich natürlich erst gemerkt, als ich schon eingeseift war), ohne Spülmittel vor den Waschbecken in der Campküche (das habe ich gleich gemerkt), ohne Sonnencreme am Pool (das habe ich am Abend gemerkt, als die Haut brannte). Mir wird bewusst, dass man fürs Campen vor allem eins sein muss: organisiert. Oder improvisationsfreudig – aber das ist mit Baby doch deutlich schwieriger als ohne. Ich muss mir eingestehen, dass ich im Urlaub eher zur Sorte der Gelegenheitsdenker gehöre. Kopf aus, Erholung an.
Drei Menschen, einer davon sehr klein, aber sehr raumgreifend, haben etwas gewagt, das gefühlt eine von zehn Elternzeitfamilien vor ihnen auch unternommen hat: In Australien einen Campervan gemietet und ab an die Küste. 1700 Kilometer lagen vor uns, als wir vor drei Wochen mit unserem Schiff, wie wir den Camper bald liebevoll nennen, weil er beim Fahren so schaukelt, gestartet sind. Es ist „Familie tight“, 21 Tage auf 17 Quadratmetern, 7,20 Meter Länge, 2,38 Meter Breite. Bis zum Ende der Reise wird unser Krabbelbaby jeden Zentimeter erkundet haben, einschließlich der Ritzen und Kanten, der drei Treppenstufen, der kaputten Fingerklemmschublade und der Klippklapp-Kühlschranktür. Wir Eltern sammeln derweil nicht nur kräftig Meilen, sondern auch Schritte.
„Wer’s net im Kopf hat, hat’s halt in de Füß“, sagte meine sehr schwäbische Großmutter gerne. Positiv formuliert: Vergesslichkeit zahlt ein auf das Schrittekonto. Ich glaube nicht, dass meine Großmutter jemals campen gefahren wäre, sie liebte gebügelte Seidenblusen und helle Schuhe – beides ist auf Campingplätzen sehr gefährdet. Aber nie schien mir ihr Satz passender als auf unserer großen Elternzeitreise quer durch Down Under, zehn Wochen von Süden nach Norden.
Hätte jemand ein Bewegungsprofil von uns beim Campen erstellt, er hätte am Abend ein buntes Wirrwarr vor sich. Einer schlurft morgens mit Baby in der Trage durch die schlafende Anlage, damit wenigstens der andere im Camper noch ein Stündchen schlafen kann, zurück zum Camper, Kaffeepulver holen, in die Campküche, zum Camper zum Frühstücken, zum Spülen in die Campküche, zum Camper, um Duschzeug zu holen, zum Duschen, zum Pool, wieder zum Camper, weil wir Babys Gießkännchen vergessen haben, zum Eisstand, wieder zum Camper, weil da das Geld liegt, wieder zum Pool, weil es doch im Rucksack ist, also zum zweiten Mal zum Eisstand, zur Toilette, zum Pool, zum Camper, um den Sonnenschirm zu holen, weil die Sonne jetzt doch rausgekommen ist, und so geht es bei uns den lieben langen Tag. Abends haben wir die 10.000 Schritte locker voll.
Als wir unsere Campingreise buchten, hatten wir uns an verlassenen Stränden übernachten sehen, im Wald und auf kängurubevölkerten Wiesen. Doch wild zu campen ist in Australien verboten und außerdem braucht unser Schiff spätestens alle zwei Tage die Annehmlichkeiten der Zivilisation: Strom, Wasser, Abwasserrinnen. Also koppeln wir an, schließen Wasser und Strom an, bauen die Campingstühle auf, um sie wenige Stunden später wieder zusammenzuklappen, rollen die Markise aus und hängen unsere Badesachen zum Trocknen darunter auf. Am Morgen das ganze Spiel wieder rückwärts.
Entschädigt werden wir mit dem schönsten Sternenhimmel, den ich je gesehen habe – sogar die Milchstraße ist mit bloßem Auge zu erkennen, fernab aller Lichter der Städte. Wir schlafen zwar nicht direkt am Meer, aber mit dem Rauschen des Meers im Ohr. Mit dem Blick in den Regenwald. Und ganz am Ende finden wir ihn dann doch noch, den wilden Campingplatz im Nationalpark, umgeben nur von Nachtgeräuschen der Waldbewohner und dem Prasseln des Regens auf unserem Dach. Statt zu duschen, springen wir morgens in den Fluss.
Unser Sohn findet es super. Er ist gerade in der Phase, wo „Auf“ und „Zu“ das absolute Lieblingsspiel sind. Und davon gibt es im Camper viele Level: Schubladen, Schranktüren, Toilettendeckel, Mückenschutztür, Vorhänge. Vom Bett aus kann er sich an die Küchenzeile stellen wie ein Kapitän auf seiner Brücke und testen, wie schnell seine Eltern Geschirr, Handys und wichtige Reiseunterlagen vor seinen Tentakeln in Sicherheit bringen.
Max profitiert auch davon, wie sehr die Campingplätze auf Familien ausgerichtet sind, und dass es jeden Tag Neues zu entdecken gibt. Er lernt Klettern auf den gigantischen Spielplätzen, die die Campingplätze für ihre jüngsten Gäste bereithalten. Er rutscht seine erste Wasserrutsche hinunter, beziehungsweise die letzten eineinhalb Meter einer großen Rutsche, und patscht ganz in sich versunken stundenlang im wenige Zentimeter hohen Wasser der Wasserspielparks. Er lernt das Treppensteigen in den Camper – Schnappatmung bei Mama – , das Klettern auf den Campingtisch, den Geschmack von Erde, Sand und zurückgelassenen Muscheln auf den Grünstreifen rund um unseren Stellplatz. Er lauscht den Vögeln und den rauschenden Bäumen, folgt mit den Fingern den Regenbächen an den Camperfenstern und schmust furchtlos mit den Nachbarshunden.
Er nutzt die Weite der Campingplätze und die Unmittelbarkeit dieser Art zu Reisen und ist daher für uns der ideale Reisebuddy. Er krabbelt kurz mal zu den Nachbarn hinüber und schon kommen wir ins Gespräch. Weint er beim Einschlafen, werde ich am nächsten Morgen angesprochen, ob es ihm wieder besser geht. Morgens um halb sieben tausche ich mich mit anderen Eltern auf dem Spielplatz über die besten Reiseziele der Umgebung aus und bin schon vor dem Frühstück top informiert.
Schon nach wenigen Stunden sind wir als „die mit dem Baby“ auf dem ganzen Platz bekannt. Wir lernen so viele Menschen wie noch nie in so kurzer Zeit kennen und treffen Familien, die mit Kleinkindern im Camper Tausende Kilometer hinter sich haben und dabei sind, Australien von West nach Ost zu durchqueren. Nicht wenige Gefährte sehen aus als seien sie direkt den Mad-Max-Filmen entsprungen, mit riesigen Cross-Country-Reifen, unzähligen An-, Auf- und Vorbauten, ausziehbaren Grillflächen und natürlich Angelhaltern an den Känguru-Fängern – MacGyver auf Reisen. Wir bekommen tiefe Einblicke in die australische Seele.
Manchmal kann so viel Nähe aber auch beklemmend sein. Ich muss nicht unbedingt gesehen haben, wie meine Nachbarn nachtverzauselt mit Kosmetikbeutel unterm Arm morgens in Richtung Waschräume schlurfen. Oder vor dem Schlafengehen noch mal zum Pipimachen. Ich schäme mich, wenn die Nachbarn mitbekommen, dass Max müde ist, aber nicht schlafen will, sich dann irgendwo anstößt und laut zu weinen anfängt. „Meine Frau liebt es, Ihnen dabei zuzusehen, wie Sie mit ihrem Kleinen draußen spielen“, sagt ein Nachbar, als ich ihn um Rat frage, wie unser Wasserschlauch auf den zu großen Hahn zu montieren ist. Heißt das zwischen den Zeilen, dass wir zu laut sind? Ich hoffe, dass wir den Nachbarn nicht als Chaoten in Erinnerung bleiben, bei denen abends noch das ganze Spielzeug auf dem Vorplatz liegt – denn anders als bei unseren Nachbarn, die Grills, Fernseher, Wäscheständer oder sogar ihre eigene Waschmaschine an Bord haben und alles in einem perfekt aufgeräumten Vorzelt auf Klapptischen beherbergen, herrscht bei uns zugegebenermaßen oft großes Durcheinander. Ich hoffe auch, dass wir in der Erinnerung nicht die sind, die über Nacht die Wäsche haben draußen hängen lassen, wo sie natürlich vollgeregnet wurde, oder die schon um fünf Uhr früh die Anlage durchstreunen, auf der Suche nach einem geschützten Ort zum Spielen mit einem Frühaufsteher-Baby. Oder die mit Babyfon neben dem Barbecue sitzen, um loszusprinten, sobald das erste Geräusch zu hören ist, damit das Kletterbaby nicht aus seinem improvisierten Kinderbettchen fällt.
Eigentlich spielt es keine Rolle, was die Nachbarn über uns denken, denn am nächsten Tag geht für uns alle ja die Reise schon wieder weiter. Wir reisen jetzt mit Baby, da gelten andere Maßstäbe, da muss nicht immer alles picobello sein. Und wirklich hämisch betrachten die Australier schließlich nicht unperfekte Familien wie uns, sondern unsere Nachbarn, die sogenannten „Grey Nomads“, die perfekt ausgerüstet vor den kalten Sommermonaten im Süden in den tropischen Norden fliehen, sich auf den Campingplätzen häuslich einrichten und mit der aufgehenden Sonne zum nächsten Ort aufbrechen. Die ihre Wäsche nicht vergessen und deren Vorplatz immer besenrein ist. Über sie wird gelacht und in den Souvenirshops der Touristenorte gibt es Schilder zu kaufen. „Grey Nomads – Adventure before Dementia“. Vielleicht sollte ich mir eins übers Bett hängen.