Schlaflos

Schlaflos

Das Familienblog der F.A.Z.

Liebling, ich habe den Teddy geschrumpft

Um den vorwurfsvollen Blicken ihrer Kinder zu entgehen, greifen Eltern hin und wieder zur Notlüge.

Meine Tochter Maya hat Balthasar, einen flauschigen Bären mit einem gutmütigen Gesichtsausdruck, vor sechs Jahren zu Weihnachten geschenkt bekommen. Um Balthasar zum Leben zu erwecken, schlüpft man mit der Hand in sein Maul oder mit beiden Händen in seine Bärenpfoten und spricht mit dunkler, brummiger Stimme. Maya spielt nicht mehr mit ihm, aber er darf seinen Altersruhestand neben den anderen Lieblings-Stofftieren in ihrem Bett verbringen. Sie liebt es, über sein langes Fell zu streichen und sich im Bett an ihn zu kuscheln. Gestern Abend haben wir Mayas Bett neu bezogen. „Die riechen aber alle ganz schön muffig“, sagte ich und nahm Tiger Titus, Kater Kolmann, Hippo-Nilpferd Maxi und Bär Balthasar zum Waschen mit in den Keller. „Morgen bekommst du sie wieder, duftend und wie neu“, versprach ich. 30 Grad, Schnellwaschgang, das müssen Stofftiere bei mir schon aushalten. Hygiene und so! Durch den Waschgang war Hippo Maxi, der in den letzten Jahren sowieso schon stark abgenommen hatte, ziemlich platt. Eine Naht hatte sich gelöst. Tiger Titus hatte dafür sein Auge verloren, das sich zum Glück in der Waschmaschine in Maxis Füllmaterial wiederfand. Beide konnte ich flicken. Nur Balthasar, dem hatten die 30 Grad und der Trockenvorgang anscheinend mehr zugesetzt als seinen Freunden. Sein vormals schönes, flauschiges Fell ist nun gnadenlos verfilzt. Au Backe! Ich hätte ihn auf keinen Fall in den Trockner schmeißen dürfen. Wie sollte ich das Maya beibringen? Ich stellte mir ihr Gesicht vor, sah bereits ihr Entsetzen, die Tränen und den unausgesprochenen Vorwurf in ihren Augen aufblitzen: „Mama, was hast du gemacht? Wie konntest du nur!“

Einen kurzen Moment spielte ich mit dem Gedanken, Balthasar zu verstecken und im Internet einfach einen neuen zu bestellen. Expresslieferung, spätestens übermorgen könnte er da sein. Ich könnte meiner Tochter erzählen, dass die Tiere alle noch nicht trocken wären. Aber dann dachte ich an die Sache mit Lena: Als Maya vier Jahre alt war, durfte sie sich im Kaufhaus etwas aussuchen und wählte Lena, eine kleine (hässliche) 10-Euro-Puppe im rosa Tutu, deren Haare schneller verfilzten, als man gucken konnte. Doch Maya liebte sie über alles, und so kam es einem Weltuntergang gleich, als Lena eines Tages in der Vorweihnachtszeit ein Auge herausfiel. Sie sah gruselig und entstellt aus. Wir suchten das ganze Haus nach dem fehlenden Auge ab, konnten es aber nirgendwo finden. Unter Tränen wünschte sich Maya vom Christkind ein neues Auge für sie. Leider existiert kein Shop für Billigpuppen-Ersatzteile. Ich wählte daher den einfachsten Weg und kaufte eine neue Lena. Ich hätte sie natürlich einfach … Aber nein! So was macht man nicht! Ich konnte Maya die neue Puppe nicht als alte Lena verkaufen. Ich pulte also das Auge aus der neuen Puppe und setzte es der alten ein. Das hört sich einfacher an, als es in Wirklichkeit war! Die OP zog sich über mehrere Tage hin und stellte feinmotorisch eine echte Herausforderung dar. Immer wieder flutschte das blöde Auge aus der Höhle; ich wollte schon fast aufgegeben, als ich es endlich hinbekam.

Danach versteckte ich die Ersatzteillager-Puppe in den Tiefen eines Kellerregals, badete Lena im Waschbecken, bearbeitete das verfilzte Haar mit ein wenig Haarkur und einem Kamm, wusch ihr Tutu und setze sie Heiligabend unter den Tannenbaum. Ich hatte es mit meiner Pflege gut gemeint, schließlich sollte Lena an Heiligabend nicht nur mit einem neuen Auge glänzen. Doch nach der Bescherung beäugte Maya ihre Puppe kritisch und äußerte schließlich den Verdacht, es würde sich nicht um die „echte“ Lena handeln. Die echte Lena hätte viel „wuscheligere“ Haare. Immer wieder versicherte ich meiner Tochter, Lena hätte sich lediglich nach der OP einer Beauty-Behandlung unterzogen. Doch Maya wurde ihr Misstrauen nie ganz los. Ein paar Tage nach Weihnachten tauchte zu allem Überfluss auch noch das fehlende Auge im Kinderzimmer auf und ich wünschte, ich hätte die Puppe einfach einäugig oder zumindest die Finger von dem verfilzten Kunsthaar gelassen. Jahre später, Maya glaubte schon längst nicht mehr an das Christkind, holte ich die Ersatzteil-Puppe aus dem Versteck und erzählte meiner Tochter, wie Lena damals zu ihrem neuen Auge gekommen war und dass wir die echte Lena natürlich nie ausgetauscht hatten.

Ich konnte nun also schlecht meiner von Natur aus skeptischen Dreizehnjährigen einen neuen Balthasar unterjubeln. Also habe ich Maya meinen Fauxpas gebeichtet und musste ihren traurigen und vorwurfsvollen Gesichtsausdruck aushalten. Eltern können es schwer ertragen, ihr Kind unglücklich zu sehen. Besonders schlimm ist es aber, wenn sie auch noch die Schuld an dem Unglück tragen und wissen, dass ihr Kind sie den Rest ihres Lebens daran erinnern wird. Eine verletzte Kinderseele vergisst nie. Um das zu umgehen, hätte ich natürlich die Dummstell-Methode versuchen und sagen können: „Wieso? Balthasar sah doch immer so aus.“ Diese Strategie hat meine Mutter früher gerne angewandt, wenn wieder einmal meine Lieblings-Unterwäsche verfärbt aus der Wäsche kam. Sie behauptete dann, die Wäsche wäre doch schon immer rosa oder grau und nie weiß gewesen. Einmal schoss meine Mutter im wahrsten Sinne des Wortes den Vogel ab: Ich kam von der Schule, sie stand in der Küche, rührte in ihren Kochtöpfen, schaute kurz auf und sagte: „Sonia, irgendetwas stimmt mit dem Peppi nicht.“ Ich ging ins Esszimmer und schaute in den Vogelkäfig. Mein Wellensittich lag regungslos auf dem Käfigboden. „Er ist tot, Mama. Das stimmt mit ihm nicht“, sagte ich und hatte sofort das Gefühl, dass etwas faul an der Sache war. Meine Schwester verplapperte sich kurze Zeit später: Meine Mutter hatte versehentlich ein Alpenveilchen neben den Vogelkäfig gestellt. Das Tier hatte an der Pflanze geknabbert und sich selbst vergiftet. Meine Mutter wollte meinen Schuldzuweisungen entgehen und ließ das Alpenveilchen verschwinden. Noch heute werfe ich ihr das vor.

Ich gebe zu, manchmal wäre es einfacher, seine Taten zu vertuschen, um die Harmonie zu erhalten. Letztens habe ich ein paar Barbie-Klamotten weggeschmissen. Sie flogen im Haus rum und waren schon sehr zerfetzt. Maya hatte ewig nicht mehr mit den Barbiepuppen gespielt. Aus dem Alter ist sie doch auch raus, dachte ich. Murphys Law schlug sofort zu! Liebe Eltern, bitte entsorgt niemals Spielzeug, nur weil ihr glaubt, eure Kinder würden sowieso nicht mehr damit spielen. Ein ungeschriebenes Gesetz besagt, dass Kinder ausgerechnet dann nach dem uralten Bilderbuch oder dem einbeinigen Playmobil-Pferd verlangen, wenn die Müllabfuhr gerade abgefahren ist. Kinder sind in dieser Hinsicht mit einem besonderen Instinkt ausgerüstet. „Mama, weißt du, wo die einzigen zwei Hosen von Ken sind?“, waren daher auch Mayas Worte, keine Woche nach meiner Ausmistaktion. „Nö“, log ich im Affekt. Sie konnte mir schließlich nichts nachweisen! „Waren die nicht alle schon total kaputt? Wir kaufen demnächst in der Stadt neue Hosen für Ken“, schlug ich mit schlechtem Gewissen großzügig vor. Als Maya verzweifelt weitersuchte, entschied ich mich für ein Teilgeständnis: „Es könnte sein, dass ich da letztens etwas weggeschmissen habe. Und wenn ich so richtig darüber nachdenke, könnten da durchaus Sachen von Ken bei gewesen sein.“ Maya war sauer. „Toll, Mama, jetzt muss Ken wegen dir ohne Hosen rumlaufen.“ Also setzte ich mich hin, nahm alte Stoffreste und Ken bekam maßgeschneiderte, handgenähte neue Klamotten. Wer Mist baut, muss dafür geradestehen und sich um Wiedergutmachung bemühen. Das gilt auch oder insbesondere für uns Eltern, wenn wir unsere Glaubwürdigkeit nicht verlieren wollen. Schließlich haben wir unseren Kindern gegenüber eine Vorbildfunktion.     

Deswegen sitze ich nun hier und googele „Nach dem Waschen verfilzt, was tun?“, durchforste die einschlägigen Hilfeforen nach Tipps, habe Balthasar erneut mit Wollwaschmittel gewaschen und ihm eben eine Stunde lang das verfilzte, nasse Fell mit einem feinen Kamm gekämmt. Ich habe Maya angeboten, ihr einen neuen Bären zu kaufen, aber das wollte sie nicht. „Das wäre Verrat an Balthasar“, antwortete sie. Und da war er wieder: der traurige und vorwurfsvolle Blick.