Am Anfang war es noch lustig. Mit Tränen in den Augen und seligem Lächeln sahen wir unserem Sohn am 1. Dezember dabei zu, wie er sprachlos und ehrlich überrascht die bunten Säckchen befühlte, die nun über unserem Bett hingen (das nächtliche Aufhängen in den Stunden zuvor hatte glücklicherweise nur unsere Nachbarn und nicht unser Kind geweckt). Wie er den kleinen Schokoladenschneemann herauspulte, geduldig das Alupapier abzupfte und dann mit meinem Mann und mir teilte. „Morgen ist eine Mandarine drin, übermorgen eine Walnuss und ein Pixiebuch“, beruhigte ich mein schlechtes Gewissen darüber, das Kind gleich mit Schokoladenmund in die Kita zu schicken, die sich einen „zuckerfreien Vormittag“ in die Philosophie geschrieben hat.
Der Dezember ist ein besonderer Monat und die Vorweihnachtszeit mit ihren Plätzchentellern und wunderschön geschmückten Schaufenstern eine Herausforderung für die Selbstdisziplin. 28 Tage dauert es, bis unser Körper sich an etwas gewöhnt hat, danach kommt es ihm normal vor. Das betrifft Sport, Morgenroutine – aber eben auch Ernährung und Konsum. Und so war meine größte Angst, dass wir aus dem Dezember überzuckert und konsumverwöhnt und dementsprechend launisch herausgehen würden.
Mit Kleinkind im Lockdown light ist man eine Insel für Nachbarn, Freunde und Eltern, die froh darüber sind, endlich mal jemandem eine Freude machen zu können. Und das ist auch gut und verständlich und geht uns ja genauso. Auch wir nehmen bei jedem Einkauf etwas für Max mit – und so stapeln sich bei uns seit dem 1. Dezember Plätzchentüten, Nikoläuse und kleine Spielzeuge. Doch die Fülle kann einen auch erdrücken.
Fünf Adventskalender habe ihr Sohn, erzählte eine Kitamutter mir neulich. Von den Eltern, beiden Großeltern, der Patentante und einer Nachbarin. „Aber das interessiert ihn noch gar nicht, neulich fragte er, ob er einfach ein Stück ‚normale’ Schokolade haben könne“, sagte sie und lachte hilflos. Eine Freundin erzählt, dass ihre beiden Kinder vor lauter Schokolade, Adventskalendern und zwei Geburtstagen sogar vergessen hätten, die Stiefel für den Nikolaus rauszustellen. Die weihnachtliche Konsumschlacht hat sich in den Advent ausgebreitet. Die Kinder werden oft so überhäuft, dass sie kaum noch zum Wünschen kommen. Meine Schwester, die fünf Kinder hat, lehnt Adventskalender inzwischen kategorisch ab, weil die entweder „an Tag zwei leergefressen“ seien oder die Kinder aggressiv und launisch würden wegen zu viel Zucker und Konsum und der täglichen Gewöhnung an ein Präsent. Die kleinen Spielzeuge lägen überall herum und an Weihnachten fielen die Kinder wie Geier über die Geschenke her, die kaum groß genug sein könnten.
Das macht mich traurig. Es muss doch möglich sein, unseren Kindern im Jahr 2020 den Zauber, die Ruhe, aber auch den magischen Wert des Wartens vermitteln zu können, der die Vorweihnachtszeit so besonders macht.
Aber Geduld, Abwarten und Vorfreude kennen auch wir Erwachsene ja kaum noch. Wir haben uns daran gewöhnt, über Streamingdienste Lieblingsfilme, neue Serien und Musik immer verfügbar zu haben. Und wenn das bedeutet, schon am 3. Dezember „Kevin allein zu Haus“ oder „Der kleine Lord“ schauen zu wollen, dann müssen wir nicht bis Weihnachten warten. Dazu können wir Sushi oder „Gans to go“ schlemmen und nebenher noch ein paar Whatsapp-Nachrichten beantworten. Doch auch bei uns sorgt das für Stress. Jeder Netflix-Abonnent kennt die Abende, an denen man einen Film schauen will, vor lauter Möglichkeiten am Ende aber gar nicht mehr dazu kommt. Auch unsere Kinder sind diese ständige Verfügbarkeit inzwischen natürlich gewohnt.
Um so wichtiger ist es, dass wir alles dafür tun, ihnen den Zauber und die Besinnlichkeit der Vorweihnachtszeit zu erhalten. Wir lesen Max in den Dezembertagen jeden Abend eine Geschichte vom Schnüpperle vor, das Buch ist inzwischen in der 50. Auflage erschienen, Erstauflage 1969. Dieses Buch ist für mich wie ein Relikt aus vergangenen Tagen. Nicht nur, dass ich es selbst als Kind vorgelesen bekommen habe, alles ist dort auch so einfach, so klar, so schön.
Es beginnt eigentlich mit dem Tag vom dem 1. Dezember, an dem die beiden Kinder der Geschichte in Nachthemd und Schlafanzug vor ihren glänzenden Adventskalendern stehen und sich fragen, ob sie wohl – jetzt, da es ja dunkel ist – zumindest mal fühlen dürfen. Nein, da sind sie sich einig. Aber den Vorhang ziehen sie ein wenig auf, damit die Beutelchen ein wenig glänzen, wenn ein Auto vorbeifährt. Würden sich Kinder heute noch damit zufriedengeben? Ich kenne zumindest viele, die es nicht schaffen würden.
Doch es ist unsere Aufgabe, dass sie das wieder lernen können. Wir Eltern müssen in der Vorweihnachtszeit „eine harte Tür“ sein, zumindest wenn der Besuch gegangen ist. Eine besinnliche Vorweihnachtszeit gelingt nur, wenn wir das Wesen dieser Tage aus den Beuteln voller Keksen und Schokolade, aus fünf Adventskalendern und vier mal gefüllten Stiefeln (Mama&Papa, Oma&Opa, die Nachbarn und die Kita) herausschälen.
Indem wir die Tüten verstecken und nur zu besonderen Anlässen hervorholen und altes Spielzeug wegräumen, falls der Nikolaus ein neues bringt. Miteinander und mit den Großeltern zu überlegen, wie alle Bedürfnisse gesehen werden können und gemeinsam an einer Lösung zu arbeiten, statt das Kind zu überhäufen und sich zu ärgern, wenn es gierig und aggressiv wird. Das bedeutet auch streng darauf zu achten, dass immer nur ein Beutelchen am Tag aufgemacht wird, egal wie viele Tränen schon vor dem Frühstück fließen.
Unsere Kinder werden das schätzen, da bin ich sicher.
Wir haben für Max eine Lösung gefunden, die für uns (zumindest bis jetzt) gut machbar ist. Den Säckchenkalender hat die eine Oma mit Mandarinen, Nüssen, Memory-Karten und Pixiebüchern vom letzten Jahr gefüllt, der Brio-Kalender der anderen Oma, der im Wohnzimmer steht, ergänzt die bestehende Eisenbahn. Doch auch bei Max stellt sich Gewöhnung ein. Inzwischen weigert er sich manchmal sich anzuziehen, bevor er nicht den Kalender aufmachen darf. Und irgendwie beschleicht mich ein Gefühl der Erleichterung, dass in zwei Wochen Weihnachten ist und ich die Kalender dann wegräumen kann.
Die beeindruckendste Figur im Schnüpperle ist für mich übrigens die Mutter. Immer seelenruhig navigiert sie das Familienschiff sicher um jede Klippe herum. Gibt Struktur vor (heute ist Barbaratag, da schneiden wir Kirschzweige, morgen ist Nikolaus, da stellen wir die Stiefel raus, heute schreiben wir ans Christkind) und hat doch ein offenes Ohr für die vielen Fragen und Hoffnungen der Vorweihnachtszeit („War das Christkind schon da, um die Wunschzettel zu holen? Wie kommt der Nikolaus ins Haus, falls Vater die Tür abschließt?“). Ihre Klarheit ist es, die diese Zeit für die Kinder zu einer unvergesslichen macht. Ihre Entschleunigung lässt zu, dass echte Weihnachtsstimmung aufkommt.
Doch in diesem Jahr haben wir alle die Chance zu sein wie Mutter Schnüpperle. Es gibt keine Weihnachtsfeiern, auf die wir müssen, kaum Verpflichtungen, keine Weihnachtsmärkte, keine großen Familientreffen. Wir können es machen wie in den Sechzigern. Einfach zu Hause bleiben, zusammen backen, zusammen lesen, das Handy weglegen und einen Weihnachtsbaum aussuchen gehen. Und mit dem Kleinkind zusammen das Säckchen vom nächsten Tag suchen und sich schon mal darauf freuen. Und wenn es gar nicht anders auszuhalten ist, vielleicht auch schon einmal kurz zu fühlen. Das ist bei uns nämlich erlaubt.