Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Wie wir im Homeschooling unsere Elternrolle nicht verlieren

Manchmal würden Eltern auch einfach nur gern mit ihren Kindern zocken – zumindest Eltern sein.

Gerade reicht´s mal wieder. Es ist kurz nach zwölf. Ich habe mich im Badezimmer eingeschlossen und schaue in den Spiegel. Und ich begreife, was der Begriff aschfahl bedeutet. Die dunklen Krater unter den Augen runden das Bild ab. Rasieren müsste ich mich mal. Ich habe einen Vollbart. Hipstermäßig, könnte man glauben. Aber hip ist rein gar nichts an mir.

Eher sehe ich aus wie ein Holzfäller, der abgeschieden in der Wildnis von Alaska lebt. Der seit Monaten keinen Spiegel gesehen hat und dem das offenbar vollkommen egal ist. Leider schaue ich aber in so ein verdammtes Ding. Ich trage immer noch die Sachen, in denen ich geschlafen habe. Normalerweise flüchte ich mich in solchen unangenehmen Momenten in Sarkasmus. Aber dazu habe ich keine Kraft. Dazu sind die unangenehmen Momente gerade zu viele und vor allem immer gleich.

Homeschooling, der x-te Tag. Für Millionen Schüler im ganzen Land. Uns Eltern kommen dabei mehr Rollen zu als den gefragtesten Mimen am Schauspielhaus: Hilfslehrer, Weckdienst, Sekretär, Koch, Tröster, Übersetzer, Putzkraft. Es sind alles Nebenrollen, aber eben sehr viele. Durch die Überforderung drohen wir unsere Hauptrolle außer Acht zu lassen. Auch in Zeiten des Lockdowns und der Endlosschleife Homeschooling sind wir an allererster Stelle Eltern.

Ich schaue in den Spiegel. Es ist schon mittags, wie gesagt. Was habe ich eigentlich heute schon geleistet, dass ich so fertig bin?

Nach dem Frühstück geht es los: „Womit möchtest du anfangen?“ frage ich den Drittklässler. Wir schauen gemeinsam auf den Wochenplan: In Deutsch stehen eine Übung zu den Lernwörter mit „i“ und ie“ auf dem Programm, ein Arbeitsblatt mit Fragen zu einem Text über „Wintersport und Winterschlaf“, zwei Seiten im Lesebuch und Übungen mit Anton. Anton, das ist ein Online-Lernprogramm in Mathe und Deutsch, das die Kinder am Smartphone, Tablet oder Computer selbst bedienen können. Zurück zum Wochenplan: In Mathe gibt es das Arbeitsblatt „Das weiß ich schon über die Zahlen bis 1000“ und ein Zahlenrätsel – ebenfalls auf Anton. Die anderen Fächer spare ich mir. Unser Sohn trifft seine Wahl schnell und greift zum Tablet.  

Glücklicherweise haben wir zwei dieser Geräte. Denn unsere Tochter, die im Sommer eingeschult wird, möchte auch Anton machen. So suche ich für sie Übungen für Erstklässler heraus, bei dem sie einzelne Buchstaben kennenlernt. Natürlich ist es toll, dass sie sich für Schule interessiert. Nicht so toll ist, dass sie bei der Hälfte der Übungen meine Hilfe braucht. Sie kann halt noch nicht lesen. Mitten drin meldet sich der Drittklässler: Er ist mit den Online-Aufgaben fertig und möchte eine Pause machen.

Die ist laut Plan aber erst in einer halben Stunde. „Mach doch bitte noch das Arbeitsblatt, dann hast du dir die Pause richtig verdient.“ Protest, Gemaule, ich bleibe hart. „Das ist unfair.“ Ja, weiß ich, denke ich. Das ist alles unfair. Er grapscht sich das Blatt und fängt widerwillig an. Seine Schwester zeigt mir das Tablet und will wissen wo im Wort „Nase“ das „n“ steht: am Anfang, in der Mitte oder am Ende?

Ich bekomme eine Nachricht im Klassenchat. Eine Mutter fragt auf Englisch, wie die Aufgabenstellung beim Deutsch-Arbeitsblatt zu verstehen ist. Ich antworte ihr, als Elternvertreter sehe ich mich in der Pflicht. Sie bedankt sich. Kurze Zeit später eine neue Nachricht im Klassenchat. Eine andere Mutter fragt, wann wir eigentlich das wegen des Lockdowns zu viel gezahlte Essensgeld zurückbekommen. Meine Elternsprecher-Pflicht ist mir jetzt Wurscht, denn ich habe keine Ahnung und außerdem die Hoffnung, dass sich jemand anders aus unserem Elternsprecher-Team der Frage annimmt. Den Gefallen tut mir aber keine der beiden.

„Fertig!“ ruft stattdessen mein Sohn. Ich schaue mir sein Arbeitsblatt an, mache ihn auf einen kleinen Fehler aufmerksam, lobe ihn aber. „Hefte den Zettel bitte in deine gelbe Mappe, so steht es im Wochenplan. „Wo ist die denn?“ fragt mich das Kind mit vollem Ernst. „Ich weiß nicht, wo du deine Mappe hast“, antworte ich genauso ernst. „Ja, Papa, ich auch nicht!“ Ich fordere ihn auf, in seinem Zimmer nach dem Ding zu suchen. Protestierend verschwindet er. Eine neue Nachricht im Klassenchat. Leider geht es wieder ums Essensgeld. Eine Mutter sagt, das sei im November erhöht worden. Auch ihr sei das von März bis Juni zu viel gezahlte Geld noch nicht rückerstattet worden.

„Ich geh spielen, Papa“ sagt meine Tochter plötzlich, lässt ihr Tablet auf dem Sofa liegen und verschwindet in ihrem Zimmer. Ich schaue nach meinem Sohn. Er hat sich umgezogen, trägt jetzt ein Werder-Bremen-Trikot und spielt Fußball in seinem Zimmer. „Hast du die gelbe Mappe gefunden?“ „Nein.“ „Wo kann die denn sein? In der Schule vielleicht?“ „Keine Ahnung.“ Ich seufze und lass ihm seine Pause. „In einer halben Stunde geht´s weiter, ja?“ „Okay.“

Eigentlich will ich jetzt das Mittagessen vorbereiten. Aber im Klassenchat herrscht Hochbetrieb. Es geht noch immer um das Essensgeld. „Wir haben auch nichts zurückbekommen.“ „Wir auch nicht.“ Eine Mutter will die Zahlung ganz einstellen, eine andere möchte von den Elternsprechern wissen, was die Schulleitung eigentlich dazu sagt. Ich schreibe, dass wir uns kümmern werden.

Plötzlich Geschrei. Meine Tochter kommt weinend angerannt. Sie zeigt auf ihren Mund. Beim Versuch, einer Playmobilfigur mit den Zähnen die Haare vom Kopf zu trennen, hat sie sich an dem kantigen Plastik verletzt. Ich trockne die Tränen und versorge sie mit Eiswürfeln. Dann schaue ich auf den Esstisch, auf dem sich Schulbücher und Hefte stapeln. Mit Sicherheit verbirgt sich in dem Haufen eine gelbe Deutsch-Mappe, denke ich. Dann fange ich an. Essen zu kochen. Eine weitere Nachricht im Klassenchat: Jemand möchte wissen, wie wir die Religionsaufgabe gelöst haben. Ein Blick auf den Wochenplan: Religion ist erst übermorgen dran. Irgendwer wird schon antworten.

Fünf Minuten später steht der Werder-Bremen-Fan in der Küche, in einer Pfanne zischt es und ein Topf kocht fast über: „Ich habe Hunger. Kannst Du mir einen Gemüseteller machen?“

Im Spiegel schaue ich dem überforderten Menschen ins Gesicht. Was hilft? Sarkasmus, Ironie, Selbstmitleid oder die alltägliche Frage, ob drei Uhr am Nachmittag noch zu früh ist, um den Wein zu entkorken? Diese Situationen kennen Hunderttausende Eltern. Es gibt aber auch immer noch die schönen Momente. Ein Kollege erzählte neulich, er sei mit seinen Kindern im Mondlicht Schlitten gefahren. Dabei habe er sich seit langem mal wieder als Vater gefühlt und eben nicht als Koch, Wecker oder Lehrer.

Solche Momente hat jede Mutter und jeder Vater. Es ist aber gerade jetzt wichtig, wo wir so viel und eng mit den Kindern zusammen sind, solche guten Eltern-Kind-Situationen zu haben. Man kann dabei nachhelfen, in dem man etwas tut, was Kind und Elternteil wirklich gerne tun.  Bei unserem Jungen und mir ist es Fußball. Wir spielen mit dem Softball Bundesligaspiele nach, schauen uns gemeinsam die Sportschau an und er bombardiert mich mit Fragen.

Mit meiner Tochter ist ein Lego-Kran unser gemeinsames Ding. Den hat ihr Bruder zu Weihnachten bekommen, aber kein Interesse daran. Jetzt bauen sie und ich den Kran nach und nach zusammen. Es haut mich um, mit welcher Beharrlichkeit sie die Steine zusammensucht und mit welcher Strenge sie mich beim Zusammenbauen korrigiert. Außerdem haben wir noch etwas für uns drei entdeckt: beim Zu-Bett-Bringen gibt es ein neues Ritual: Jeder darf sich drei ganz individuelle Fragen überlegen, die dann alle beantworten. Zum Beispiel: Was ist deine Lieblingseissorte, dein Lieblingstier in Afrika, der schönste Strand, an dem du warst? Wir genießen das alle drei.

Trotz Homeschooling, Überforderung und Frust dürfen wir nicht vergessen: Für unsere Kinder sind wir immer Mutter und Vater, wir sind immer Eltern. Auch in Situationen, in denen wir uns selbst als Hilfslehrer fühlen oder Koch, als Privatsekretär oder Putzkraft. Und auch, wenn wir selbstmitleidig vor einem Spiegel stehen.