Ich renne durch den Wald. Meine Jacke habe ich Lara gegeben. Es ist kalt, aber ohne komme ich schneller voran. Lara war irgendwann einfach losgelaufen. Es dauerte, bis ich sie einholte. Länger als ich dachte. Dann blieb sie plötzlich stehen, keuchend, die Hände in die Hüften gestemmt. „Ich kann nicht mehr. Du bist der Jogger“, keuchte sie. „Lauf!“
Zehn Minuten ist das jetzt her oder vielleicht zwanzig. Keine Ahnung. Lara nimmt einen anderen Weg durch den Wald. Ich höre sie irgendwo hinter mir rufen. „Felix! Theo!“ Ihre Stimme treibt mich an. Ich erhöhe das Tempo nochmal. „Theo“, rufe ich. „Felix“. Das Echo wabert durch die Kiefernreihen rechts von mir. Beim Rennen fällt mir auf, dass die Bäume vollkommen symmetrisch zueinander stehen. Sie schießen an mir vorbei, aber das Bild ändert sich nicht. Ich komme mir vor wie ein einem riesigen Rad, und mein Kopf spinnt. In einem Moment denke an die Fluchtpunktperspektive im Kunstunterricht und im nächsten an diese irre Treppe in diesem Hitchcock-Film. Flucht und Hitchcock. Es gibt hier Wölfe, hatte Sascha am Abend erzählt. Vier Rudel. Vier Rudel in dieser gottverlassenen Gegend in Brandenburg, südlich von Berlin, in der zwei Jungen spurlos verschwunden sind. Ich renne weiter.
Wir sind bei Lara und Sascha zu Besuch. Sie sind vor ein paar Jahren raus aufs Land und haben hier in Brandenburg gebaut. Bis gerade eben ist das Wochenende völlig harmonisch verlaufen. Unsere Töchter Frieda und Elsa spielen toll zusammen, unsere Söhne Theo und Felix sind beste Freunde. Immer noch, obwohl sie sich seit über einem Jahr nicht gesehen haben. Sie kennen sich seit der Kita und sind unzertrennlich, spielen Fußball, tauschen Spielerkarten, klettern auf ein Baumhaus, hauen Nägel in eine Wand und genießen jede Sekunde ihres Zusammenseins. Hoffentlich auch jetzt noch.
Nach dem Frühstück sind wir zu einer Wanderung aufgebrochen. Eine Stunde ist das jetzt her. Felix und Theo haben sich gleich an die Spitze gesetzt. Bald haben wir die beiden nicht mehr gesehen, was meine Frau und mich ärgerte. Wir hatten mit Theo vereinbart, dass er uns immer sehen muss, auch wenn er vorläuft. Lara beruhigt uns: „Felix kennt den Weg. Die warten vorne an der Kreuzung auf uns.“
Als wir ankommen, wartet dort niemand. Stattdessen setzt sich ein altes, verblichenes Wohnmobil in Bewegung. Langsam fährt es die Straße runter, weg von uns. Die Scheiben sind dreckig und dunkel, den Fahrer habe ich nicht gesehen. Augenblicklich muss ich an „Breaking Bad“ denken. In der US-Serie hatten die beiden Hauptcharaktere ein ähnliches Wohnmobil zu ihrem Drogenlabor umgebaut. Ich schaue zu meiner Frau rüber. Sie denkt offenbar etwas ähnliches. „Hm, komisch. Vielleicht sind die beiden doch andersherum zum Bolzplatz gelaufen“, sagt Sascha. „Lauft ihr doch mal weiter, ich gehe nochmal zurück.“
Vorne spricht Lara eine Familie mit einem Jungen an. Sie ruft: „Sascha, stopp! Sie haben die beiden Jungs gesehen. Die sind da langgelaufen. Die warten bestimmt am See auf uns.“ Die allgemeine Erleichterung ist groß. Nur meine Frau bleibt angespannt. „Ich laufe schon mal vor, mir lässt das keine Ruhe.“
Lara und ich schlendern hinterher. „Ach, ich glaube, die Jungen quatschen einfach die ganze Zeit und haben uns vergessen“, meint sie. „Felix möchte Theo beeindrucken. Der will seinem Freund zeigen, wie gut er sich auskennt. Die stehen gleich am Wasser und sagen: ‚Wo bleibt ihr denn, ihr lahmen Enten?‘“ In diesem Moment kommt meine Frau zurückgerannt. Am Wasser ist niemand.
Ich renne durch den Wald in Brandenburg, in dem es vor Wölfen wimmelt. Ganz in der Nähe ist eine Autobahn. In einer Richtung geht´s nach Potsdam, in der anderen nach Polen. Das Wohnmobil könnte mit den Jungen schon über alle Berge sein, schießt es mir durch den Kopf.
Der Weg gabelt sich. Ich habe keine Ahnung, wo ich lang muss und rufe Lara an, die irgendwo hinter mir ist. „Siehst du eine Bar?“, fragt sie außer Atem. „Was?“ „Ist da ein Brett, das waagerecht an zwei Bäumen befestigt ist?“ Ich drehe mich nach allen Seiten um. „Nein, keine Bar“, sage ich. „Dann musst Du weiterlaufen.“ Das tue ich.
Der Wald ist mir fremd. Die Kiefern huschen an mir vorbei, ein Labyrinth aus dunkelbraunen Pfählen auf kargem Boden voller toter Nadeln. Immer wieder rufe ich die Namen der Jungen und lausche. Wo trägt der Wald das Echo hin? Meine Lunge brennt. Es geht leicht bergauf. Es ist anstrengend. Ich trage keine Joggingschuhe. Ich sehe mich durch diesen Wald laufen und denke: Die Jungen sind nicht hier.
Irgendwann stehe ich atemlos vor einem Zaun. Dahinter ist ein Hügel. So alter Müllberg, auf dem jetzt Rasen wächst, mit niedrigen Schloten für das Gas. Von den Hügeln gibt es viele in Brandenburg. So weit sind die Kinder niemals gerannt, denke ich. Zwei Mountainbiker rasen auf mich zu. „Habt ihr zwei Jungs gesehen?“ rufe ich ihnen entgegen. „Nein!“ antworten sie wie aus einem Mund und preschen an mir vorbei. Irgendwo ganz in der Nähe höre ich das Rauschen der Autobahn.
Mein Telefon klingelt. Lara. Die Jungs haben bei Sascha angerufen, sie sind zu Hause. Sie klingt atemlos und leer und kein bisschen erleichtert. Die beiden hätten keinen Bock auf die Wanderung gehabt und einfach beschlossen abzuhauen. „Okay, bis gleich“, wir beenden das Gespräch. Ich bin erleichtert und stinksauer. Der Schweiß rinnt mir unter den Klamotten den Körper herunter.
Jetzt muss ich mich orientieren. Meine mobilen Daten zeigen ein E. E wie Edge. Am Rand – so fühle ich mich auch in diesem brandenburgischen Kiefernwald. Google Maps kann ich vergessen. Also muss ich selbst den Weg finden. Ich halte mich südlich. Kein Mensch ist unterwegs. Wieder klingelt das Telefon. Meine Frau. Sie ist mit Sascha auf dem Heimweg. Sie klingt nicht erleichtert, ist es aber. Ich kenne sie. Und sie ist völlig fertig. Ich sage, dass ich auf dem Weg bin, mich aber erst einmal zurechtfinden muss. Wir legen auf.
Im Wald sagt mir ein Schild, dass ich richtig laufe. Zweieinhalb Kilometer bis zum Ortszentrum. Wenn Theo jetzt vor mir stehen würde, würde ich ihm eine kleben. Was sind die zwei für Idioten, versauen uns allen den Tag, denke ich und stapfe weiter. Wissen die beiden eigentlich, was für Sorgen wir uns gemacht haben? Die Bäume lichten sich allmählich. Ich trete aus dem Wald und laufe an einem Feld entlang. Links von mir steht ein einsamer Hof, der schon vor vierzig Jahren genauso ausgesehen haben muss.
Etwa 35 Jahre alt ist die Erinnerung, die plötzlich in mir hochkommt. Damals bin ich mit zwei Freunden ausgebüxt. Kurz zuvor hatten wir „Stand by me – Das Geheimnis eines Sommers“ im Kino gesehen. Der Film hatte uns umgehauen und war wahrscheinlich der Auslöser für unseren Ausbruch. Wir ließen den Schulbus abfahren und machten uns auf den Weg. Einfach so, ohne groß nachzudenken, ohne Ziel. Wir wollten einfach los. Irgendwann liefen wir wie die Jungen in „Stand by me“ über Bahnschienen. Aber die Sache verlief wesentlich undramatischer als in dem Rob-Reiner-Film. Der Lokführer drückte einmal auf die Hupe, und schon waren runter von den Gleisen.
Irgendwann sammelte meine Mutter uns ein, die den Schulweg mehrfach abgefahren war. Wenn ich mich richtig erinnere, hat es keinen großen Ärger gegeben, obwohl sie sicher stinksauer war. Sie hatte aber immer schon ein großes Herz für Freiheitsliebende. Jetzt denke ich an Bruce Springsteen und „Born to run“ und stelle fest, dass ich keine Kopfhörer dabeihabe. Dann summe ich halt.
Irgendwann erreiche ich Saschas und Laras Haus. Felix und Theo haben von ihren Müttern einiges zu hören bekommen. Sie sitzen reumütig in Felix´ Zimmer und lassen sich nicht blicken. Ich beschließe, es dabei zu belassen und später in Ruhe mit Theo über die Sache zu reden.
Alle Kinder, Jungen und Mädchen, haben diesen Drang in sich, auf eigene Faust etwas Neues zu entdecken und vielleicht auch mal auszubrechen. Das sollte uns Eltern klar sein. Wir werden das nicht verhindern und sollten es auch nicht unterdrücken. Stattdessen sollten wir ihnen einen Rahmen geben, in dem sie sich frei bewegen können. Wichtig ist, dass sie nicht ganz alleine losziehen. Dieser Rahmen ist zurzeit etwa einen Quadratkilometer groß: von der Schule, an der Eisdiele vorbei bis zum Fluss und auf der anderen Seite bis zum Spielplatz hinter den Sportplätzen. Er wird immer größer und unüberschaubarer, je älter sie werden.
Während ich diesen Beitrag aufschrieb, ploppte eine Meldung in den Sozialen Netzwerken auf: In meiner alten Heimat suchte die Polizei einen zehn Jahre alten Jungen. Am Abend war er wieder zu Hause. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie sich die Eltern bei der Suche gefühlt haben und was in ihren Köpfen vorging. Unser Theo war immerhin mit seinem besten Freund unterwegs.